Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Weithin im Schlummer des Mittags lag ruhend das Land, heiß brannte die Sonne auf staubige Straßen; wir zogen dahin, unsre Sehnsucht nach Süden zu tragen.

Ein Schlagbaum sperrte den Weg. Deutschland lag hinter uns, hier war die Grenze des Reichs. Wir wurden geprüft und durften passieren, und erstmals trug uns der Mut hinaus in die Ferne der Fremde. Wir grüßten den Grenzpfahl mit dem mächtigen Adler. Zurück blieb die Heimat und mit ihr die Geborgenheit; vor uns lag lockend die Weite, das Unbekannte. Wir zogen an dem Zeichen des fremden Landes vorüber: von rotem Feld hob sich das weiße Kreuz der Eidbrüderschaft. Und nun kam der Schlagbaum der Schweiz, bewahrt von den Wächtern am Zoll.

Dunkel umfing uns ein schattiger Raum. Die Rucksäcke mußten wir öffnen, und bangenden Herzens sahen wir zu, wie die Hände der Zöllner die Sachen durchsuchten.

Aber alles war gut. Der Schlagbaum hob sich langsam auf und wir schritten hindurch, wie durch ein festliches Tor, und hinein in das Neue, die Zukunft.

Wir waren würdig befunden, das Land eines Tell zu betreten, des Rigi, des Vierwaldstättersees und des mächtigen Gotthard. Tiefer und tiefer marschierten wir hinein in das unbekannte Land, bis die Nacht unserer Wanderschaft Halt und Ruhe gebot.

Wir blieben in einfachem Gasthaus. Fremd war das Essen, fremd das Geld dieses Landes, und ungewohnt das Bild auf den Marken der Karten, die den ersten Gruß zu den Eltern trugen; kühl und fremd war die Leinwand der Betten, in denen wir ruhten, und die Heimat war fern.

Wie wunderlich und weit war die Welt.

 

Wir waren, des anderen Tags, schon lange marschiert und waren des Singens und waren der Wanderschaft müde. Vor uns, in spätem Licht, lag Zürich. Wir schritten hinein ins Getriebe der Stadt und suchten die Wohnung der Tante des Einen, da wir Herberge finden und nächtigen sollten. Endlich standen wir vor dem Haus, froh, nach den Stunden des Tags, nach der ziellosen Weite einen Anhalt zu haben, einen Raum, uns zu bergen und die Nacht zu verbringen. Unbekannte aber ließen uns wissen, daß die Tante verstorben.

Da standen wir nun, allein in der Fremde, allein in der großen Stadt und fühlten uns heimatlos. Vor uns lag die Sorge der Nacht. Schweigend zogen wir weiter.

Wir schritten hinaus und sahen in sinkender Sonne den See aufleuchten, auf dem noch verspätete Boote schwammen, deren Segel aufglänzten wie flackerndes Gold.

 

Wir, die wir fremd in diesem Lande waren, fanden in der Stunde der grauen Dämmerung Gastfreundschaft bei einem alten Schreiner, der früher selber gewandert war. Aus Sägmehl und Hobelspänen bereitete er uns ein Lager. Wir streckten uns aus und sanken in tiefen Schlaf. Morgens brachte uns der Alte frisches Brot und heiße Milch, und die Rappen, die wir ihm scheidend boten, wies er lächelnd zurück.

 

Der Morgen war frisch und alles in uns war wieder strahlend und hell.

Die Stadt lag dahinten im Schimmer des aufgehenden Tags, und vor uns tauchten die dunklen Linien der Berge aus dem hellen Kobalt der Weite. An grünen Ufern marschierten wir dahin. Blau dehnte sich der See im ruhigen Spiel der Wellen.

Da stieg aus der Flut ein Mädchen, über dem schlanken Körper ein funkelndes Netz von silbernen Tropfenperlen. Ich erschrak wie die andern. Wir wagten den Schritt nicht anzuhalten, und konnten doch dem Blick nicht verwehren, das niegesehene Bild zu umfassen. Das Mädchen sah und hörte unsern Schritt im weichen Sand des Weges nicht, es stand hoch aufgerichtet gegen die Sonne, die seine Schlankheit umhüllte. – Wir schritten vorüber, keiner schaute sich um.

Lange wagten wir nicht zu sprechen. Wir scheuten uns voreinander. Wie einen gemeinsamen Besitz aber trugen wir dies Wissen mit auf unsre Fahrt.

 

Wir lagen über dem Aegerisee.

Unter uns glänzte das Wasser blau, umsäumt von dem dunklen Grün der Wälder und Wiesen. Drüben dehnte sich weit der Grund von Morgarten. Ich faltete die Hände unterm Kopf, ließ dem Blick die horizontlose Ferne des Himmels. Leichter Sommerwind bog die hohen Gräser und Blumen, in denen wir ruhten, und deren blaue Schatten über unsere braunen Körper spielten.

Die Erde, auf der wir lagen, war warm von der Sonne, Wärme und Kraft drang in uns ein. Alles war Weite. Von den Hängen her klang das Geläute der Herden.

Dann gingen wir hinab zum See, schwammen und badeten, und abends stiegen wir müde wieder zu unserem Bauernhaus hinauf, von dem der Blick die in Abendglut aufleuchtenden Gipfel der Alpen umfing.

Weit, weit war die Heimat, spürbar nur durch diese leichte Sehnsucht, dies Heimweh, das aus den tiefsten Tiefen aufstieg, das jeder von uns hat, der die Weite und Fremde liebt. Denn sind wir zu Hause, so quält uns das Fernweh, bis wir hinausgezogen sind, so weit, bis dahin, wo uns ein leises Heimweh an das zurückgebliebene Teil, an das nunmehr Verlassene gemahnt.

Wir lieben die Ferne, weil wir in ihr die Heimat lieben.

 

Paradiesische Tage hatten wir verlebt. Braun und hart waren unsere Leiber geworden. Die Ferne lockte, der Süden, vor dem noch die Pässe der Alpen lagen, die wir überschreiten mußten, und vor deren ungewohnter Höhe und Einsamkeit uns doch bangte.

Wir brachen auf. Alles in uns drängte weiter.

Im Morgengrauen überschritten wir das Schlachtfeld von Morgarten.

Mir war, wir selbst wären jene Bauern, die längst schon die Erde von Morgarten aufgenommen hatte. Das Große der Tat, das Opfer, der Mut der Streiter, er war in uns, wir waren wie sie bereit, für die Freiheit, für das Volk alles und uns selbst zu opfern.

Tapfer schritten wir aus. Mächtig bauten sich vor uns die Felsen der Mythen auf. Aber die Sicht verlor sich aus Blau in Grau und aus feuchtem Nebel ward rasch richtiger Regen.

Als wir nach Brunnen kamen, warf der Sturm halbhaushohe Brecher über die Ufermauern und wir selbst waren naß, verfroren und müde.

Da faßte den Einen das Heimweh, er besprach den Anderen, daß er nachgab. Auf einmal fiel dem Hans seine alte kranke Mutter ein, die er nicht so lange allein lassen dürfe. Und der Andere gab ihm recht.

Der Regen hatte ihnen den Mut gebrochen. Vergeblich kämpfte ich um die Fortführung der Fahrt. Nicht nützte es, daß ich auf besseres Wetter hinwies, das wir jenseits der Alpen hätten, daß ich ihnen Italien in sommerlichen Farben schilderte, wie ich es von den Worten des Vaters und von den Bildern her kannte.

Wie ich in diesem Dauerregen über die dreitausend Meter hohen Pässe kommen wolle, wo wir bleiben sollten ohne Geld und Unterkunft?

Ich kämpfte verzweifelt, bat, noch einen Tag zu bleiben, morgen wenigstens die Axenstraße zur Tellsplatte zu wandern, in der Hoffnung, die Beiden umstimmen zu können, ich stellte ihnen vor, wie wir mit Recht zu Hause verspottet würden, wenn wir umkehrten vor dem Ziel, aus Furcht vor den Bergen und der Fremde, die wir suchten – es war umsonst. Sie kamen mit drei Karten aus dem Bahnhof wieder.

Die Würfel waren gefallen. Ich mußte mich der versprochenen Gemeinschaft fügen: wie ein unverdientes Schicksal schlug die Härte des Verzichts und der Umkehr auf mich nieder.

Vorbei war die Fahrt, verloren das Ziel; die Berge, die Alpen, – Italien, das ersehnte Land, nicht erreicht, und aus Furcht und Feigheit, unter dem gleichmäßigen Fluß des Regens, alles verloren und aufgegeben.

Ich stellte mich in die Spritzer der Wellen ans Ufer, ließ den Regen auf Hut und Zeltbahn niederrinnen und hatte nicht nur Regentropfen und Seewasser im Gesicht, als mich die Beiden holten, sondern Zähren der Erbitterung und des Zorns. Dreizehn Mark, fast die Hälfte unseres Bestandes, kostete die Karte für den Zug. Zehn Tage hätten wir davon leben und wandern können. In zehn Tagen wären wir am Lago Maggiore gewesen, an blauen, sonnigen Ufern.

Es war vorüber, die Fahrt war aufgegeben. Der Zug trug uns zurück. Das Pochen der Räder grub sich in meinen Sinn als unauslöschliches Zeichen der Umkehr, des Verzichts, der Verzweiflung.

 

Zum Trost für die abgebrochene Herbstfahrt und für neue größere Fahrten schenkten mir die Eltern zu Weihnachten ein Fahrrad.

Ein Wunsch langer Jahre wurde mir erfüllt. Es war kein gewöhnliches Rad, sondern ein besonderes, von ganz leichtem Röhrenbau, seiner Übersetzung, breitem Sattel und – einem angebauten Schloß.

Obwohl sicher niemand meinem neuen und geliebten Besitz nachstellte, war es doch ein schönes Gefühl, jedesmal nach dem Heimweg von der Schule das Rad richtig abschließen zu können.

Es war der erste große Besitz, den ich hatte, über den ich allein verfügen durfte, er war meine ganze Freude; und mit heimlichem Glück hörte ich jedesmal das feine metallene Knacken, wenn der Hebel des Schlosses zuschlug. Den Schlüssel trug ich stets bei mir.

 

Eines Tages kam ich wieder mit dem Rad von der Schule nach Hause, trug es auf der Schulter an seinen Platz und hörte mit heimlicher Freude, von der ich niemandem etwas gestand, das Zuschnappen des Schloßriegels. Das Rad war gesperrt. Es war mein Besitz. Ich durfte es abschließen, es war mein Recht.

Daraufhin saß ich in meinem Zimmer und dachte über das eben Gehörte nach. Wir hatten im Geschichtsunterricht den Kampf zwischen Kaiser- und Papsttum durchgenommen. Ich nahm innigen Anteil an den Geschicken jener Herrscher, und das » descende, descende«, das der Papst dem Kaiser zurief, schnitt mir tief ins Herz.

Gregor der Siebente, glaube ich, war es, von dem unser Lehrer heute erzählt hatte, daß er einen starken und offenen Charakter gehabt, dessen besonderes Merkmal die Größe in der Treue seiner Gefühle gewesen sei, die er nie im Leben geändert habe. Nie habe er einen Freundesdienst im Leben wieder vergessen, niemals aber auch eine Feindschaft.

Noch sann ich über die Größe dieses Mannes nach, der nichts vergaß und nichts vergab, als mein älterer Bruder ins Zimmer stürmte und mich mit heftigen Vorwürfen überraschte, daß ich das Rad abgeschlossen hätte, das er sofort brauche. – Wohl hatte er Eile gehabt und sich mehr über die unerwartete Tatsache des zugesperrten Schlosses als über mich selbst geärgert. Mir aber mißfiel der rechthaberische Ton seiner Worte. Und ich – doch schon ein bald erwachsener Schüler mit ausgeprägtem Ehrbegriff, der eine Bitte niemals abgelehnt hätte – wies die kränkenden Angriffe ebenso hart zurück und weigerte mich, den Schlüssel herauszugeben. Das reizte den Eiligen so sehr, daß er mich schlug und mir mit Gewalt den Schlüssel entriß.

Rot vor Scham, geschlagen worden, empört über die Tatsache, seiner Gewalt ausgeliefert zu sein, hatte ich Mühe, die Tränen des Zorns und der Empörung, der Schmach und Schande zurückzudrängen.

 

Es war kein gewöhnlicher Streit zwischen Brüdern. Beide hatten wir unsere festen Ehrbegriffe, die niemals angetastet werden durften, so wenig wie ein gegebenes Wort. Über Kinderstreit waren wir hinaus. Es war ein empörender Friedensbruch des Älteren, es war Raub, und schamlose Gewalttat.

Wohl tat es ihm nachher leid, so hart gehandelt zu haben. Aber als er gegen Abend den Schlüssel zurückbrachte, nahm ich ihn aus seiner Hand nicht mehr an.

Er, der Ältere, Größere, an dem ich mit der Hochachtung des jüngeren Bruders als einem kaum erreichbaren Vorbild gehangen hatte, er hatte das Bild, das ich von ihm in mir getragen, zertrümmert.

Zu stark noch wirkte die Beschreibung jenes mannhaften Papstes in mir nach, als daß ich ein solches Vorbild nicht ebenfalls zu erreichen entschlossen gewesen wäre.

Dieser gewalttätige Überfall, der alle brüderliche Bindung zerriß, war mir so schwer, war für mich von ebenso entscheidender Bedeutung, als wenn jenem Papste ein Bundesgenosse, ein Freund die Treue gebrochen hätte. Es war etwas Einmaliges, ein Unauslöschliches, es war nicht fortzudenken, war geschehen, und es war nicht gutzumachen.

Mir, als dem Schwächeren, blieb, wollte ich mich nicht der Ränke und der hinterlistigen Rache schuldig machen, nichts als Würde und völliges Auslöschen des Bruders aus meinem Innern. Gewiß hatte er im Augenblick der Tat nicht bedacht, wie sehr er mich kränken, wie unauslöschlich er sich selbst in meinen Augen erniedrigen mußte, aber die Tat war geschehen und die Folge zu tragen. Nicht nur, daß ich aus seiner Hand den geraubten Schlüssel nicht mehr annehmen konnte: er selbst als der Ältere, Bewunderte, war nicht mehr vorhanden. Ich konnte ihn nicht mehr grüßen. Seine Worte drangen nicht mehr zu mir. Er hatte keinen Anspruch auf mich als Bruder mehr. Die Mutter hatte wohl erst gehofft, es sei ein kleiner Streit ihrer Buben. Als aber erst eine, dann mehrere Wochen vergangen waren, in denen wir kein Wort gewechselt, keine Bitte aneinander gerichtet hatten, da wußte sie, wie tief die Kränkung war, wie groß das Unrecht, wie ernst die Trennung, die geschehen.

Denn nicht um eine Feindschaft handelte es sich mehr mit einzelnen Handlungen des Kampfes oder Streites – sie wäre weit unter unserer Würde gewesen – sondern um eine Trennung, die hoch über allem Kleinlichen stand, die ohne Erbitterung, aber mit Härte durchgehalten wurde, die dem hohen Ehrbegriff entsprach, den wir voneinander hatten.

Wir wohnten in einem Zimmer, wir aßen zusammen am elterlichen Tisch, aber weder Zureden und Ermahnungen, noch Drohungen konnten die Wunde verheilen, die geschlagen, konnten uns veranlassen, die Kluft zu schließen. Ja, wir wußten, daß wir dazu gar nicht die Kraft, nicht die Möglichkeit hatten, wollten wir uns nicht selbst abermals – und zwar wiederum voreinander – erniedrigen. Und litten wir auch unter dieser Trennung, so stand sie doch hoch über kleinlichem Streit. Sprachen etwa Geschwister oder Bekannte gegen den andern in des einen Gegenwart, oder fiel auch nur ein mißachtendes Wort, so war es klar, daß jeder von uns den Bruder in Schutz nahm, ja, sein Verhalten rechtfertigte und sich für seine Ehre ritterlich einsetzte.

Viele Monate vergingen so. Nichts änderte sich mehr, es gab kein Zurück und ich wollte es auch nicht.

Bald zwei Jahre mochte diese Trennung bei gemeinsamem äußerem Leben in vorgeschriebenem engstem Kreise gedauert haben, als unsere Schwester sich verheiratete mit einem Mann, den wir wiederum beide schätzten.

Wir hätten, des Friedens im kleinen Kreise, der Freude der Schwester wegen, die alte Trennung in Anerkennung einer größeren, uns beide gleichermaßen verpflichtenden Ritterlichkeit, aufgeben können, sachlich, wie die Lösung oder Bindung eines Vertrags, wären wir nicht durch falsche und vorzeitige Einmischung Unberufener daran gehindert worden.

Als aber das Fest sich in die Nacht hinein ausdehnte und nur noch wenige sich im Morgengrauen zusammenfanden, da bat der Ältere, die Zeit der Trennung zu beenden. Und – voll diese Überwindung anerkennend – schlug ich in die dargebotene Rechte ein. Die Zeit des Streites war vorüber. Aber Tage vergingen, bis wir uns in die uns beschämend erscheinende Freundlichkeit des Umgangs zwischen Brüdern zurückfanden.

Ende Juli 1914 war es gewesen. Acht Tage später war Krieg.

 

Die Glocken läuteten von den Türmen unseres Städtchens, ein Tambour schlug in den Straßen die Trommel, ein Offizier verlas den Mobilmachungsbefehl. Hunderte umstanden die Gruppe der Soldaten, Hände stießen in die Höhe, Hüte flogen in die Luft, Rufe und Lieder der Begeisterung klangen auf. Züge formierten sich, – keiner wußte, wie – marschierten singend durch die Straßen, ein Jubel, eine Welle der Begeisterung. Endlich Klarheit, endlich Mut, endlich war das Schwert blank gezogen, endlich ging es ins Feld.

Der Krieg wurde erklärt, eine herrliche Zeit schien angebrochen.

Aufgelöst in Begeisterung, erfaßt vom Taumel der Stunde, zog ich singend mit einer Gruppe Unbekannter durch die Straßen. Es war eine Verbrüderung, eine laute und jubelnde Begeisterung.

Plötzlich fiel es mir ein: der Mutter mußte ich die Nachricht bringen, die sie vielleicht noch nicht kannte! Keine Minute wollte ich ihr die Botschaft der Mobilmachung vorenthalten. Ich riß mich aus der Reihe der Marschierenden los, ich rannte nach Hause, stürzte die Treppen hinauf, riß die Tür auf, den Jubel zu verkünden.

Da saß die Mutter, hingebeugt in ihrem Stuhl. Tränen rannen aus ihren Augen, ihre Hände lagen lässig, wie hilflos in ihrem Schoß.

Nicht nur an ihren Ältesten dachte sie, den sie hergeben mußte, und der begeistert hinausziehen würde, – vor ihr stand der Heiner, meines Vaters bester Arbeiter. Vierschrötig stand er da, mit einem Gesicht, dessen Ernst mir die Begeisterung vertrieb und Schrecken einjagte.

Kein Wort sprach der starke Mann. Die Mutter wußte alles: seit seiner Jugend war er im Haus, sie hatte ihn wie einen Eigenen gehalten, der Vater schätzte den ruhigen, tüchtigen Mann, er war sein Vorarbeiter geworden. Vor einem guten Jahr erst hatte er geheiratet, vor ein paar Wochen hatte seine Frau ein Mädchen geboren, an dem er mit aller Liebe hing.

Er war Unteroffizier der aktiven Truppe. Er mußte sofort einrücken, hinweg von seiner Frau und seinem Töchterchen.

Was wird aus dem kleinen Wurm, wenn ich nicht wiederkomme ...? preßte er endlich heraus und wischte sich die Augen.

Und nun spürte ich, wie der Krieg war. Nun ging mir die Grausamkeit der Stunde auf, nun spürte ich, wie dieser Befehl Hunderttausende losriß, für immer vielleicht, losriß von denen, die sie mit inniger Liebe umschlossen hielten. Wenn ich nicht wiederkomme – wollen Sie sich dann um mein kleines Mädchen und um meine Frau kümmern? Fast bringt er die Bitte nicht heraus vor Schmerz und Liebe zu seinem Kind, von dem er sich nicht losreißen kann. Das verspreche ich dir, Heiner, sagte die Mutter, aber du sollst nicht ans Schlimmste denken. Gott wird dich schützen!

Am andern Tag schon rückte er mit meinem älteren Bruder ein. Sein Regiment stürmte in den Vogesen, drang rasch und siegend in Frankreich vor. Vor St. Dié ist er gefallen. Auf einer vorgeschobenen Feldwache, die er führte, wurde er von Franzosen überrascht. Acht Schüsse streckten ihn nieder.

Ach je – mit der Traurigkeit seiner brechenden Stimme gesprochen, seien seine letzten Worte gewesen.

Alles mag er noch einmal mit dem weiten Blick des Sterbenden erfaßt haben, all sein Glück, all seine Liebe zu seinem Weib und seinem kleinen Mädchen; und mit einer letzten Klarheit, alles zu verlieren, alles schutzlos zurückzulassen, sank er zusammen.

Vor St. Dié, 1914.

 


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