Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Die ersten Verwundetenzüge kamen. Die ersten Todesberichte standen in der Zeitung. Nach den Siegesfeiern der Schule erfuhren wir die Namen der älteren Kameraden, die freiwillig hinausgezogen und beim letzten Siege gefallen waren. Söhne von Lehrern waren dabei, manch eines Freundes älterer Bruder. Immer mehr von ihnen kamen mit schwarzer Armbinde in die Schule. Der für die sterbend hinsinkende Jugend so herrliche, für die Führung so belastende Tag von Langemarck, die Monate, in denen wir noch wegen des Falls einer Festung schulfrei bekommen hatten, oder, wie nach der Einnahme von Antwerpen, einfach aus der Schule fort und zur Kirche gerannt waren, die Glocken zu läuten, waren vorbei.

Wenn der Wind vom Westen, vom Schwarzwald herüberkam, brachte er das dumpfe Tosen der Schlacht mit, das Donnern der Front, an manchen Tagen so laut, als wäre sie wenige Kilometer entfernt.

Der Hunger ging um in Deutschland und das Heer begann sich zu verbluten. Der Kampf um Verdun wurde verloren, neue Truppen waren fällig. Unsere Zeit war gekommen. Wir wurden von der Schule weg ausgemustert, machten unser Notabitur und rückten ein.

Es war ein bitterkalter Wintermorgen, als ich zur Kaserne ging. Unterwegs traf ich Schulkameraden, die sich ebenfalls stellten, und auch einen Studenten. Reifer und älter schien er als wir, sprach wenig, aber was er sagte, war gut, kein Wort war zu viel. Er war groß und stark und schien mir zum Kriegshandwerk besonders geschaffen. Seine stille, vornehme Art gewann ihm bald mein Herz und wir wurden Freunde.

 

Die meisten, im Bewußtsein, für die kommenden Offensiven im Westen und damit zum Tod bestimmt zu sein, ergriff eine Habgier nach den geringen Genüssen des Lebens, trieb in Erwartung des baldigen Todes unwiderstehlicher Drang zum Weib.

Vielleicht war es nicht ein Mangel an Gesittung, sondern im Angesicht des Todes ein Aufflammen des Lebenswillens, der dem unbewußten Drang nach Erhaltung der Art entsprang.

Und eigentlich, sagte der Freund eines Tages zu mir, ist es doch traurig, daß wir Zwei nun bald ins Feld ziehn, vielleicht auch nicht wiederkommen, und niemals ein Mädchen gehabt haben. Aber vielleicht ist gerade dies wichtig. Vielleicht als Ausgleich für viele.

 

Sommer war es geworden.

Breit stand die uralte Buche auf der Hochfläche der Alb. Fester und schöner waren ihre Äste gewachsen, edler die Rundung ihrer Krone, die sich sattgrün vom fernen Blau des Sommerhimmels abhob, edler gewachsen als dort bei den Bäumen der Niederung.

Wir strebten ihr zu und beschlossen, in ihrem Schatten zu rasten, wir, Ernst und ich, und ein paar Freunde und Mädchen.

Es war Sonntag, dienstfrei. Wir waren mit frühem Morgen heraufgewandert, die Schultern zu recken, die Brust zu dehnen in der reinen Luft, die Heimat zu erfühlen, hier oben, wo sie am schönsten war.

Wir lagerten uns und teilten den mageren Imbiß. Ich schnitt eine Fleischbüchse auf, strich Brote, gab sie herum. Dann legten wir uns zur Rast auf den Rücken.

Ich hatte die Arme unterm Kopf verschränkt und sah hinauf in das lichterfunkelnde Gewirre der Buchenäste, zwischen denen goldene Sonnenkringel und tiefes Blau des Sommerhimmels in wechselnder Bewegung sich mischten.

Auf einmal spürte ich, wie man im dunklen Raum die Anwesenheit eines Menschen spürt, die Nähe eines andern. Ich fühlte mich unsichtbar berührt, unhörbar gerufen. Ich wandte mich zur Seite und sah neben meiner Hand im Gras eine andere liegen, von feingliedrigem schlankem Bau, sonnengebräunt und von einem zarten Netz bläulicher Gefäße überfangen. An einem der schönen Finger war ein schmaler Goldreif, zwei Schlangenköpfchen bildend, die einen Stein trugen, einen Diamanten und einen tiefblauen Saphir, in dem sich die Sonne funkelnd brach. So schön war diese Hand, als gehöre sie einer der Frauen an, wie sie die Maler der Renaissance gekannt, wie sie Pinturicchio oder Raffael in Farben ersonnen haben, und die Scheu, von dem Gesicht der Besitzerin dieser Hand enttäuscht zu werden, ließ mich zögern, den Blick zu erheben. Als ich es doch wagte, sah ich in zwei ruhige dunkelbraune Augen, die in einem Antlitz von gesammelter und doch gelöster Schönheit lagen, dessen Ausgeglichenheit und vornehmer Fluß der Linien, die zarte Schwingung der Brauen auf klarer, hoher Stirn, Veneziano entzückt hätten. Jetzt überflog ein so feines Lächeln ihre Züge, daß ich dann völlig die eigene Sicherheit, jeden wohlbewahrten Halt verlor und von einem überströmenden Gefühl für dieses Mädchen erfaßt wurde, das mich wehrlos machte und glücklich zugleich.

Noch konnte ich meinen Blick nicht aus dem ihren lösen, noch war ich bezaubert von soviel Adel und Einfachheit der Linie, so viel Ausdruck der Augen, als ich die Lippen öffnete, etwas, ein Wort nur zu sagen, sie und mich aus der Verstrickung zu lösen. Da legte sie mir in flüchtiger Bewegung, ohne daß sich der ruhige Ernst ihrer Züge verändert hätte, die Hand auf den Mund, ließ nur den Blick über die Ruhenden gleiten und gab ihn dann wieder offen, ohne Zögern, ohne jeden Vorbehalt, voll Vertrauen, dem meinen preis. Als ich, in ganz zarter Berührung, meine Hand auf die ihre legte, ohne meinen Blick aus dem ihren zu nehmen, ging ein feines Rot über ihr Gesicht, so, als schäme sie sich ihrer Hingabe. Aber sie wich meinem Blick nicht aus, der ihr ganzes Wesen zu erfassen suchte, der eindrang in ihr innerstes Sein, sie suchte und umfing. Mehr als Worte, inniger als Versprechungen und Beteuerungen, schöner als in jeder anderen Gemeinschaft fanden wir in diesem Blick zueinander, öffneten und schenkten wir unser Tiefstes, unser Geheimstes. Nichts, das wir verborgen hielten, nichts, dessen wir uns zu schämen brauchten; wir waren eins im andern gelöst, hingegeben in diesem Blick, völlig verstanden und aufgenommen vom andern. Wir waren eins geworden, wir waren verbunden untereinander in diesem Augenblick.

Über uns rauschte die Buche, um uns her brannten die reifen Erntefelder im Gold des Mittags, über den Horizont zogen die weißen Wolken der Alb. Sonntag! Festtag.

 

Dann wanderten wir wieder: über den goldenen Wogen der Felder hob sich ein tiefblauer Sommerhimmel. Weite und sonntäglicher Glanz lagen über dem Land. Das Rauschen des Windes sang über die Hochebene, es war wie eine Feier der Vermählung von Wind und Erde. Wir zogen unseres Wegs, erfüllt von dieser Festlichkeit. Wir sahen gemeinsam einen Baum, ein Feld, einen Acker, eine Ferne, – wir sahen uns an und wußten die Gedanken des anderen und wußten: heute blühte diese Erde nur für uns, nur für unser Fest der Gemeinsamkeit hatte sich die Weite geschmückt. Wie ein alter Hof erglänzt im Schmucke des Grüns, das man ihm angetan zur Feier einer Hochzeit. Ja, wir spürten es beide: in Erwartung eines Brautzuges für ein Paar, das längst zusammengegeben war in den Sternen, eh es sich kannte, und das nun zusammengefunden an diesem Tag, hatte die Erde dies sommerschöne Kleid angetan, und wir wußten, daß die Bäume uns grüßten und die Felder uns rauschten, weither Melodien tragend aus den Weiten der Sicht.

Erst abends aber, als ich sie zu ihrem Hause gebracht, fiel das erste, nur uns gehörende Wort: Du!

 

Meine Löhnung von vier Wochen hätte nicht ausgereicht für die Blumen, die ich ihr andern Tags schicken wollte. Große Körbe, festliche Gebinde schienen mir zu schal, den Blick ihrer Augen zu erfreuen, und als ich lange gewählt, wurde es doch nur ein einfacher Strauß von sieben dunkelroten Rosen, von edler Form der Blüten, deren Rot in der Mitte des Blattes sich zu samtenem Schwarzblau verdichtete, deren Duft still und geheimnisvoll war vom Mondglanz der Nächte, und innig und schwellend von der Pracht sommerschwerer Tage.

Es bedurfte keiner Worte, keiner weiteren Zeichen; schöner als diese Rosen konnte nichts ihr sagen: ich hab dich lieb, inniger als diese Blüten könnte nichts sie grüßen, nichts sie bitten: sei mir gut!

In dem Brief, den sie mir schrieb, lagen über ihren aufrechten Schriftzügen sieben dunkelrote Rosenblätter. Es war die Antwort und es blieb nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu wünschen. Alles schloß dies Zeichen ein, was mir geschenkt werden und was ich nehmen durfte von dieser Zeit.

 

Einmal, abends, waren wir hinaufgewandert das breite Tal, dem Flusse entgegen. Über die dunklen Hänge brachte der Westwind das dumpfe Poltern der Geschütze. Es war nichts mehr, das wir mit Worten hätten ausdrücken, nichts mehr, das wir uns durch Schweigen hätten verbergen können. Das Dröhnen der Einschläge, das mit dem Winde stärker und schwächer, drohend und versinkend von Frankreich herüberkam, es schloß unser Leben, unser Geschick, zu dem wir und unsere Liebe schon bestimmt waren, in sich ein. Alles war beschlossen. Wir fürchteten kein Unglück, keinen Zufall, weil wir nicht daran glaubten, weil wir um Bestimmung und Erfüllung wußten, die, sei es Tod oder Heimkehr, Trennung oder Gemeinschaft, uns einschlössen in den Kreis allen Seins und Vergehens, nach ewigem Plan und göttlichem Gesetz. Wir glaubten an unsere Liebe, alles andere war ihr eingeordnet, war nicht wert der Worte, die wir dafür verschwendet, mit denen wir unser wissendes Schweigen gestört hätten.

Vor uns, in der Dämmerung, stand weiß der Kirchturm des Dorfes. Über dem dunkelgrünen Horizont brannte der Himmel in später Dämmerung noch einmal auf. Da hielten wir, betroffen von soviel Schönheit. Und als das Abendläuten sich über der weiten Flur verlor, da umschlangen wir uns, und unsere Küsse brannten ineinander.

Die Sterne zogen ihre Bahn, als wir dem Ufer des Flusses entlang heimwärts gingen, in dessen dunkler Fläche sich ihre silbernen Lichter spiegelten. Hoch über uns stammte das W der Kassiopeja, zog in ewiger Fahrt der Wagen, unser Sternbild, unsere Zukunft.

 

Die Härte des täglichen Dienstes, das Schwere, das vor mir lag, trug ich zu ihr.

Sie nahm alles in sich auf. Mit einer Bewegung der Hand, mit einem Streicheln meiner Stirn nahm sie von mir, was mich quälte und drückte. Und obgleich wir uns fast täglich sahen, schrieben wir uns doch Briefe. Briefe, die nur wenige Worte der Liebkosung, der Hingabe, der Bitte enthielten, in denen aber alles geborgen und gegeben war, das wir waren und hatten, den Freund, die Geliebte zu beschenken.

Die Not aber stieg vor mir auf, die über mich käme, wenn durch die Trennung all dies sich ändern würde, durch das doch im Innern so ersehnte Ausdrücken ins Feld.

Zur Qual mußte dann die Sehnsucht werden, zur Marter unsere Liebe.

Wir werden es tragen, sagte Evelyn, und in ihren Worten war der Glaube an die Zukunft, und du wirst wiederkommen – ich weiß es.

Evelyn küßte mich und wir glaubten der eigenen Kraft und unserer Liebe, die stärker war als die innerste Gefahr eines Krieges.

Ernst wußte von Evelyn und mir.

Er brachte selbst den Marschbefehl, sein Blick lag ruhig im meinen.

Aufbruch, Krieg. Es war nichts Neues, nichts Überraschendes. All das war in unser Wissen, unsere Bestimmung eingeschlossen. Wir waren stark genug, die Zukunft nicht zu fürchten, den Abschied zu tragen. Wir wußten, es ging um Höheres als um uns selbst.

Dienstfrei, der letzte Abend. Ich mußte von den Eltern weg, den letzten Abend ihnen, die ihn nicht verlangten, doch denen er gehört hätte, nehmen; mich, den sie verloren, ihnen nehmen.

Ich ging zu ihr. Sie wußte, es war der letzte Abend. Kerzen und Blumen schmückten den Raum. Wir umschlangen und küßten uns. Kein Wort der Klage kam über Evelyns Lippen, kein Hauch der Trauer schattete über ihren Augen.

Bestimmung war alles, alles war Wissen; nichts war Zufall, alles war Wille.

Sprich mir, ich möchte deine Stimme hören, ich möchte sie mitnehmen ins Feld – sieh mich an, laß deinen Blick in meinen Augen, ich will ihn mitnehmen in den Krieg. Lege meine Hand an das Pochen deines Herzens, ich will seinen Schlag nicht vergessen – hab mich lieb, Evelyn, du gehst mit mir, du wirst bei mir sein, wenn alles zu sinken droht.

Warte auf mich – ich komme wieder! – Ich danke dir.

Danke nicht mir, danke dem Leben!

 

Und dann liegt Evelyn, angetan mit dem langen dunkeln Seidengewand, das die Linie ihres Leibes eher schenkt als verhüllt, liegt Evelyn auf dem Divan und ich knie vor ihr und küsse ihre Hände, streichle über ihre schöne Stirn, ihre Schulter, ihren Arm –

Und dann bittet Evelyn: Der Flügel hat Blumen und Kerzen. Lösch alle anderen aus und spiel mir noch einmal –

Und dann spiele ich ihr den langsamen Satz, das Adagio aus der Pathétique, und dann spiele ich ihr alles, was ich auf dem Herzen habe an Liebe und Verzweiflung, an Abschiedsweh und Zukunftswillen, an Kraft und Trost. Der Flügel klingt auf, als lebe er. Sie aber liegt ruhig und sieht unverwandt zu mir her. Ihre Blicke streicheln, ihre Sinne segnen mich. Und aus den Tönen rufe ich ihren Namen, alle Akkorde klingen zu ihr hinüber: Ich liebe dich!!

Und ruhiger werden die Töne. Was ist das doch für ein Motiv, das ungerufen da ist, in den Sinn, in die Tasten kommt, jetzt wieder, da –

Es ist jenes altdeutsche Minnelied, das wir an dem Sonntag zusammen gesungen, da wir uns erstmals sahen, dort oben auf der weiten Fläche der Alb, über die der Sommerwind ging; dies einfache Motiv des uralten Liedes, das so viele Scheidende gesungen haben in den Jahrhunderten:

All mein Gedanken die ich hab,
die sind bei dir –

Und der Flügel verklingt.

Vergiß mich nicht – Evelyn –

 


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