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Das Sommersemester verging. Uta und Hans gingen fort in die Ferien, sie wollten an einer anderen Universität ihr Examenssemester verbringen, sie würden im Winter nicht wiederkommen. Abschied.
Wir saßen im Gartenhaus von Freunden, hoch über der Stadt. Der Abend war voll warmen Lichts, das über Häusern und Gärten lag. Rot hing, eine riesengroße Scheibe, die sinkende Sonne überm Horizont. Wir Fünf saßen beieinander und sahen zu, wie sich der hohe Baum und der Kirchturm eines hochgelegenen Dorfes als scharfgezeichneter Schatten vor die Sonne stellte, in sie hineinging, und mit der Drehung der Erde durch die Sonnenscheibe hindurchwanderte. Nun versank sie hinter der schwärzlichen Bläue des Horizonts. Hoch oben, über den Höhen nur, war noch ihr Leuchten. Die Wolken wurden dunkel, die Nacht kam heraus aus den Wäldern. Wir sangen leise ein Lied vor uns hin, ein Volkslied, das wir oft zusammen gesungen, ein Liebesliedchen mit schwermütiger Melodie. Leise klangen die Stimmen im Gleichklang in die Nacht hinaus, Ingrids helle Stimme, Utas dunkler Alt und unsere Stimmen. Der Klang dieses Jahres stand noch einmal auf, des Winters Leuchten, der Sommer, das Berghaus, Freundschaft und Liebe, und nun auch das Scheiden.
Nun, da Uta ging, spürte ich, wie gern ich sie hatte.
Die Sterne brannten hell, die Planeten zogen ihre Bahn, unerschütterlich, ruhig, ob wir schieden oder blieben, fröhlich waren oder traurig, sehr traurig wie jetzt, da Uta ging – zogen ihre Bahn in ewiger Wanderschaft.
Wir gaben uns zum letztenmal die Hände. Hans' Händedruck war so herzlich und fest wie der meine. Wir hatten uns nichts zu verbergen, wir kannten einander. Alle standen dabei, als Uta dann mir, als letztem, beide Hände drückte. Wir sahen uns an und schwiegen. Viel Schmerz war in diesem Schweigen, aber auch viel Glück des Umeinanderwissens und alle Segenswünsche, die ich für Uta wußte. Dann lösten sich unsere Hände und da, als sie schon sich wenden wollte, nahm sie sehr ruhig meinen Kopf in ihre Hände, warme Hände, und küßte mir Augen und Mund. – Ich preßte sie an mich und sah das Dunkel ihrer Augen ganz nahe vor den meinen.
Dann gingen die beiden, Uta und Hans.
Die Nacht nahm sie auf, nahm sie fort.
Die Freunde waren getrennt, Uta und Hans längst schon im Norden.
Das Haus aber wuchs und vor dem Winter noch kam es unter Dach. Viele haben geholfen, Studenten und Freunde, und es ist ein rechter Bau geworden, weil mancher selbst mit Hand angelegt und viele die Steine mit den Händen getragen, die zu Mauern wurden und Räumen. Nun warteten wir auf den Schnee, unser Haus war gebaut, und ein Kachelofen war darin.
Weihnachten stand vor der Tür. Wir vom Skiklub gingen zusammen hinauf in die weißen Wälder des Schönbuchs, brachen Tannen- und Föhrenzweige, unser Fest zu feiern. Eine der Studentinnen, die ich täglich in der Vorlesung sah, schien mir stiller zu sein als die anderen und von feinerer Zeichnung des Kopfs und der Züge. Sie versprach mir, aus ihrer Heimat, die hoch im Norden lag, schon vor Ende der Ferien wiederzukommen. Sie hielt Wort und wir stiegen mit ein paar Freunden langsam auf zur neuen Hütte. Wir sprachen vom Gebirge, Hochtouren, und von unserer Münchner Zeit. Auch sie war dort gewesen, zu der Zeit, da ich Christa verlor. Und dadurch schien sie mir näher verbunden. Die Erinnerung hatte in ihrer Gegenwart nichts Schmerzliches mehr. In ihrer Nähe war Ruhe und Gelöstsein. Nichts war bedrückend, alles war wie der Blick ihrer dunklen Augen, ruhig und von großer Geborgenheit, wie der Segen einer Mutter oder ein gläubiges Kindergebet, und mehr noch, wie die dunkle Weite der Nacht und die Nähe einer Frau, die wir lieben.
Nun schwiegen wir in den Raum der Nacht, fühlten uns nah sein und eins seit Zeiten, die wir nicht wußten. Da jagte über den Wald hervor groß und flammend ein Meteor, schoß über den nachtschwarzen Himmel, brach ein in die dunkle Wand des Horizonts. Wir hielten und schauten ihm nach, dann stiegen wir weiter gleichen Schritts, auf die Höhe des Berges.
Der Schnee war silbern und wie stäubendes Pulver. Wir wanderten hin über die Flächen der Berge, schwangen zusammen hinein in das unberührte Weiß, darüber sich das Blau des Himmels hob wie eine saphirene Glocke. Der Tag war uferlos, wie das Licht seiner Sonne. Das schönste aber war, daß er uns beiden gehörte, und wir trugen seine Schwingung hinein in die kommende Zeit, wie man den Klang einer Glocke noch in sich trägt, wenn sie lang schon verklungen.
Damals arbeitete ich in der Ambulanz, hatte alle Hände voll zu tun. Der Oberarzt schrieb ein Buch, und so hatte ich die Männer- und Frauenambulanz meistens allein mit einem Wärter und einer Schwester. Manchmal waren es über hundert Fälle, die wir an einem Morgen zusammen versorgten. Es war schön und ich lernte nicht nur, ich begann mir zu beweisen, daß Arbeit mich nicht zu ermüden vermochte.
Der Schafkönig, wie sie ihn nannten, war wieder gekommen. Er besaß Tausende von Schafen, hatte sie nach der Abtretung des Elsaß in großen Herden noch über die Rheinbrücke gerettet, indem er selbst die Tiere trieb und die neuen Zöllner bestach. Er liebte die wolligen Tiere, ihm waren sie Leben, eigenes Leben geworden, nicht nur Besitz. Nun lag er auf dem Tisch. Eine Geschwulst zerfraß ihm die Blase und ein Gummirohr stak ihm oberhalb der Beckenknochen im Leib. Es war zu Stein verhärtet und mußte heraus, gewechselt werden. Sein Herz war so schwach, daß wir ihm nicht einmal eine Rauschnarkose geben durften. Jedesmal, wenn er nach drei Wochen kam, bat er flehentlich darum, jedesmal mußten wir es ihm schweren Herzens abschlagen. Die Fistel war eng, steinhart der Gummiknopf. Ich faßte mit den Klemmen hinein, riß ihn heraus. Er schrie auf, aber es war getan, und die neue Röhre tat ihren Dienst. Ich wischte dem Alten den Schweiß von der Stirn.
Immer wenn er kam, mußte ich denken, ob es gut sei, ein abgelaufenes Leben, das sich in kurzer Zeit vollendet gehabt hätte, auf solch widernatürliche Weise für Monde der Qual zu verlängern. So tröstlich es ist, daß wir die Kinder besser zu schützen vermögen als früher, daß wir manches Heilserum haben und Heime und Heilstätten und Mittel, den Kleinen zu helfen, so fraglich schien es mir oft, ob es gut sei, und im Sinn einer größeren Ordnung, ein Leben in Schmerzen zu verlängern für jenen, dessen Jahre erfüllt sind, der das Seine getan, und dessen Körper wir zwar noch zu erhalten vermögen, der aber nach den Regeln des Werdens und Vergehens dem Tode gehörte, dem wir sein Lebensgefühl, seine Lebenslust – und dies erst heißt Leben – aber nicht mehr wiederzugeben vermochten. Ein Tod, auf der Höhe des Lebens oder nach Erfüllung der Zeit, in Würde gestorben, schien mir stets besser als ein in Schmerzen gefristetes Dasein, qualvoll für den, der es trug, und nutzlos für die, die er liebte.
Ich wandte mich zu einem Jungen, der die Speiche gebrochen, schiente den Arm, schnitt einen eiternden Finger auf, vernähte die frische Verletzung eines Buben, dem ein Heuwagen, unter dessen Rad er zu liegen kam, die halbe Kopfhaut abgerissen und ihn fast skalpiert hatte. Als er mit unzähligen Nadeln versorgt war, gab ich dem Drängen der Schwester nach, und sah erst einmal die Fälle auf der Frauenseite nach. Ein Brustkrebs war da und mußte aufgenommen werden, ein Fremdkörper im Knie, ein operatives Magengeschwür, und dann, das Mädchen, das dort aufgebettet lag, hatte eine Blinddarmentzündung.
Ich brauchte ihr keinen Mut zuzusprechen. Sie war sehr tapfer. Als ich ihr und ihrer Mutter, die voll Sorge dabei stand, erklärte, die Operation müsse sofort gemacht werden, es sei nötig, die Krankheit durch einen Eingriff zu beheben, da innere Behandlung nunmehr nur noch Verderben brächte, und der Alten Tränen über die runzligen Backen liefen, da war es die Kleine, die Worte des Trostes wußte: Ihr müsset nicht weinen, Mutter, es kann ja auch gut ausgehen, und was sein muß, muß sein; habet Hoffnung, als wie ich!
Wir deckten die Kleine zu, fuhren sie hinauf, wo sie vorbereitet wurde zum Einschnitt, zur Entfernung des entzündeten, wohl schon vereiterten Organs.
Die Mutter saß im Warteraum, leise, wie manche Wartende, vor sich hinbetend, dann wieder durch das Fenster sehend, durch das die Morgensonne hereinschien, deren Glanz so gar nicht passen konnte zu ihrem Kummer.
Jedesmal, wenn die Schwester oder ich herüberkam, flogen ihre Blicke scheu zu uns her, als könnte sie in unsern Zügen das Schicksal ihres Kindes lesen.
Nach einer halben Stunde konnte ich ihr sagen, daß alles glatt vorüber und die Kleine außer Gefahr sei.
Da nestelte sie ihr altes Perlentäschlein auf und zog eine Münze heraus, ein Heiligenbildchen. Mit zitternden Händen reichte sie es mir. Ich hab es seinerzeit von meiner Ahne bekommen, und die von der ihren. Es hat uns alleweil Glück gebracht. Nehmen Sies, Herr Doktor. – Ich kränkte sie nicht. Ich nahm es mit großem Dank an, gab sie mir doch ihren liebsten Besitz, das Kleinod, dem sie als Segenbringer vertraute.
Aber als nach vierzehn Tagen die tapfere Kleine die Klinik verließ, da gab ich es ihr mit, und nun trug sie daran auch meine Segenswünsche mit in ihr kleines Leben hinaus.
Arbeit über Arbeit. Neue Fälle kamen herein und wollten versorgt sein, genäht mußte werden, geröntgt, verbunden. In den Trubel dieses Morgens herein brachte der Pförtner mit lauter Stimme den Ruf zum Chef. Dieser pflegte den, dem er Unangenehmes zu sagen hatte, niemals vor den andern Assistenten zu beschämen, sondern ihn in seine geheiligten Räume zu befehlen und dort mit dem Säumigen zu reden. Obgleich ich mir keines Fehlers bewußt war, legte ich die Instrumente zur Seite und ging ruhig durch die langen Gänge die Treppe hinauf, wohl wissend, daß uns das Schicksal gerade dann mit Besonderheiten überrascht, wenn wir es am wenigsten erwarten können. Durch die Bibliothek, von den Blicken einer machtbewußten Sekretärin begleitet, ging ich zur Tür des Meisters.
Der wegen seiner Strenge im Dienst immer und von vielen mißverstandene Arbeiter seiner großen Pflicht erhob sich mit ruhiger Bewegung aus seinem Sessel. Das Haar lag noch dunkel um seine Schläfen, aber weiße Fäden durchzogen es schon, Zeichen durcharbeitete Nächte und der Sorgen um das Leben der anderen, die ihm das Geschick in die kunstfertigen Hände gegeben. Seine tiefbraunen Augen sahen mit großer Ruhe unter buschigen Brauen hervor. Nur eines wußte ich in diesem Augenblick, daß ich von vorneherein aus tiefstem Herzen bedauern würde, diesen Mann etwa unbewußt enttäuscht oder gar verletzt zu haben, diesen Mann, dem die Güte und die Einsamkeit gleichermaßen eingezeichnet waren, und ich wäre weniger zu einer Rechtfertigung, sofern sie sich als nötig erwiesen hätte, als zu äußerster Pflichterfüllung entschlossen gewesen.
Da, als ich gespannt in seine Augen sah, hob er die schmale feine Hand und hielt sie mir hin. Überrascht und zögernd ergriff ich sie, wie immer von der unerwarteten Güte mehr erschüttert als es verdiente oder unverdiente Härte jemals vermocht hätte, und glaubte zu träumen, als er mir in schlichten Worten sagte, er wolle einmal ausspannen, es werde ihm zu viel, er brauche solch einen jungen Freund, wie ich es wohl sein könne, und kurz, er frage mich, ob ich mit ihm hinauf wolle in die Berge, hinüber nach Österreich.
In seinen Augen war Wärme. Er, der Einsame, dem das Schicksal Kinder versagt, der nur seiner Pflicht Leiden zu lindern lebte, der so unerreichbar hoch an Wissen, Können und gereifter Menschlichkeit über mir stand, der rief mich als jungen Freund an seine Seite. Ganz begriff ich sofort, was es bedeutete, daß ich es sein durfte, der nicht nur seine Arbeit, sondern auch die Stunden der Erholung mit ihm teilen sollte, und war von tiefer Dankbarkeit erfüllt und dem Willen, das Meine zu tun, ihm diese harterkämpften Tage der Ausspannung zu erleichtern und zu verschönern, soweit ich dazu berufen sein mochte.
Er überließ mir mit freundlichem Lächeln alles, Bestimmung der Reise, des Orts, der Unterkunft, und war von vornherein mit großer Geste mit allem einverstanden und freute sich, einmal einen andern für sich sorgen zu lassen. Schon nach wenigen Tagen fuhren wir hinüber in die winterlichen Berge.
Von den Höhen eines Gipfels kamen wir herunter und saßen dann beim Abendbrot, als ein Gelehrter, den wir dort trafen, über Schmerzen in den Augen klagte. Er war schneeblind geworden, weil seine Brille nichts taugte, hatte eine Bindehaut- und Nervenentzündung beider Augen bekommen. Kühlende Umschläge brachten keine Linderung. Wir besprachen die mögliche Hilfe, als eine Dame an unserem Tisch bedauerte, daß ein ihr bekannter Arzt nicht hier, sondern oben im nächsten Dorf wohne. Der habe Kokaintabletten. Wir aßen ruhig zu Ende, dann bat ich sie um ein Kärtchen, weil ich noch hinauf wolle über den Paß, das Mittel zu holen. Lag auf den Hängen auch Neuschnee, war auch gewisse Gefahr, schön war diese einsame Fahrt. Die Sterne standen hell am Gebirgshimmel, die Berge lagen breit und wuchtig wie dunkle Tiere vor der Weite der Nacht. Der Sturm rauschte um die Kanten der Felsen, es klang wie fernes Orgelgetön.
Oben traf ich den Arzt und nahm, die kleinen Tabletten der Hilfe in der Brusttasche bergend, in guter Abfahrt den Heimweg.
Stolz auf seinen jungen Freund empfing mich nach eineinhalb Stunden der Meister, denn manche hatten die nächtliche Fahrt über gefährliche Hänge, die dem Geübten nicht schwer wurde, verurteilt.
In die rotgebrannten Augen des Gelehrten fielen die Tropfen, die wir aus den Tabletten bereitet. Die Schmerzen vergingen und ruhig schlief der Erkrankte.
Sie werden ein Arzt mit dem Herzen, meinte der Meister. Es gibt keine anderen, darf sie nicht geben, sagte ich leise. So streng er in der Klinik war, so fröhlich und aufgeschlossen war der Meister hier. Wir stiegen morgens aus den schattenblauen Tälern auf, durch den reifbehangenen Hoch- und Lärchenwald, ließen die Bergföhren hinter uns und gewannen die Hänge der Weite, über die schon die Sonne schien mit eindringlicher Wärme. Wir warfen die Kleider ab, ließen die Leiber dem heilenden kräftigen Licht der Gebirgssonne, atmeten, tranken uns satt an der Reinheit der Höhen. Dann saßen wir, der Alte und der Junge, zusammen auf den Mänteln in der Sonne, aßen getrocknete Pfirsiche, teilten den Imbiß und den letzten Schluck Tee. Und da brach er das Schweigen, das uns umgab, das so tief war, daß man nicht einmal den Wind hörte oder das Klirren von Steinen, und erzählte von sich, seinem Leben und Schaffen, seinen wenigen Freunden, erzählte vom Tod seines eigenen Lehrers. Er nahm mich an als einen vertrauten Freund, bezog mich ein in den innersten Kreis seines Lebens, das groß war und einsam.