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Wie oft hatte mir der Vater das früher erzählt: 1871. Durch die fahnengeschmückten Straßen ritten die siegreichen Reiter, Helm und Pferde mit Blumen geschmückt. Die Köpfe der Pferde nickten zum Takt der Musik. Die feinen Gelenke der Tiere bogen sich in gefälligem Schritt. Das Zaumzeug glänzte und die Reiter saßen aufrecht, bewußt des gewonnenen Krieges, im Sattel.
Alle Häuser waren geschmückt, aus allen Fenstern winkten Tücher, Hände, die Blumen warfen über Mann und Pferd. Neben dem Zug der Reiter her trabte die Jugend, stammend vor Begeisterung, in diesem größten Augenblick des Krieges: da die Sieger heimkehrend in die Stadt einritten. Von allen Stöcken hatte mein Vater, der damals sechs Jahre alt war, die Blumen gebettelt, von allen hat sie seine Mutter ihm lächelnd geschnitten. Eine einzige Tulpe hatte sie verschont, ihre Lieblingsblume. Da kam der Junge wieder mit leeren Händen ins Zimmer: Mutter, die Reiter! Noch eine Blume!
Auch diese letzte schnitt die Hand der Mutter, sie dem Jungen zu geben. Und er, neben dem hohen Pferd herlaufend, hob sie dem Reiter strahlenden Gesichts hinauf, bis der sich aus dem Sattel bog, diese letzte Tulpe aus der Hand des Jungen empfing und sein Roß damit schmückte. Lange, bangend vor Begeisterung sah der Kleine dem Reiter nach.
Achtzehnhunderteinundsiebzig.
Manchmal, als Junge, hatte ich mich darüber beklagt, daß unsere Zeit so arm war an Abenteuern, an Krieg und Erleben, und als dann der Krieg ausgebrochen, uns allein den Taumel seiner ersten Siege riß, da dachten wir uns unsere Heimkehr so: als Sieger, unter dem Läuten der Glocken, dem Wehen der Fahnen, umjubelt von denen, die uns erwarteten, die Sieger des großen Krieges.
Allein, spät in der Nacht, aus einem überfüllten Soldatenzug, kam ich nach Haus.
Zwar: der Fluß zog noch seine Bahn unter den hohen Platanen, die alte Stiftskirche war da wieder, die engen, giebelhohen Straßen, in denen der Schutt so lange nachklang. Wie lange war das her, seit ich von hier hinausgezogen in den Krieg, hoffnungsfroh, siegesgläubig? Verwundet, allein, zur Nacht kam ich zurück. Das Haus der Eltern verschlossen. Die Glocke zerstört. Nirgends ein Licht. Die Geliebte, den Freund, die Hoffnung fürs Vaterland verloren. Alles dahin.
Auf den Treppenstufen des Elternhauses saß ich und sann. Ein Schritt klang im Dunkeln auf, kam näher, verklang am andern Ende der Straße: ein Fremder, ich kannte ihn nicht. Ich war allein, und das war meine Heimkehr. Nichts, dachte ich, trüge mich mehr, nichts war mehr, das meinem Leben noch Klang geben konnte wie der Hammer der Glocke. Verzicht, sah ich, Verlust war das Leben. Nichts wußte ich in jener Stunde von den Kräften, die in allem schlummern, die wir nur zu wecken brauchen, die wir, wie das Metall der Glocke, nur anzuschlagen, zum Schwingen zu bringen brauchen, um sogleich umwogt zu sein von den Wellen der Klänge.
Der Sankt Georgsbrunnen aber rauschte drüben an der Kirchenmauer, und allmählich ging mit seinem gleichmäßigen Tönen eine Ruhe in mich ein, die aus einer anderen als meiner eigenen, sinnlich begreifbaren Welt kam. Oft hatte ich früher – wie weit lag auch dies schon zurück – seinem immer gleichen Tönen gelauscht, hingegeben der Schönheit seines Liedes, das in meinen Traum noch segnend hineinklang, als er die Wachheit der Sinne längst in seine Ruhe aufgenommen und geborgen hatte.
Ich hörte in der Stille der Nacht vom Turm, beim Anschlag der Viertelstunden, das Knarren des alten Gebälks, und dies machte mich wieder froh, und da wußte ich wieder: die Heimat, die Geborgenheit.
Mochte ich den Krieg, den Freund, die Geliebte verloren haben, mochte sich alles, was mich mit Hoffnung erfüllt und beglückt hatte, in Untreue verwandelt haben: eines blieb fest, das alles trug – die Heimat, dies Land.
Aus der Stunde voll Trauer und Einsamkeit, in der mir alles Verzicht und Verlust zu sein schien, wuchs ich heraus als ein anderer, neuer, der nicht mehr in der lauten Feier des Sieges, im Dröhnen der Glocken und im Brausen der Hochrufe die Größe der Heimat sah, sondern in ihrer unwandelbaren Unerschütterlichkeit, die, trugen wir ihren Atem nur in uns, unverlierbar und uns näher verbunden war in ihrer Trauer, ihrer klingenden Stille, ihrem Atem der Nächte, da ihre Söhne aus dem verlorenen Krieg heimkehrten in ihre Hut, an ihre heimlichen Ufer.
Wärme empfing mich dann oben, als ich mit Steinen an die Fenster geworfen, und der überraschte Vater mir die Tür aufschloß, und die Mutter mir die Hände drückte, Wärme, Licht, Liebe.
Ich war zu Hause. Drüben stand der alte Turm, der Brunnen sang, ab und zu klang ein Schritt durchs Dunkel der Straße in unser Schweigen der Heimkehr.
Nichts war verwunderlich an dem neuen Leben, als daß es nicht schoß, als daß sie nicht angriffen vor Tagesgrauen. Rasch aber fügte ich mich den freundlichen Gepflogenheiten des Umgangs, des täglichen Lebens ein.
Jeden Tag stand ein Strauß in meinem Zimmer, und allen teilte ich mich mit in der Freude des Daseins, des Gebens und Nehmens.
Abends aber, ehe ich mich schlafen legte, strich ich einmal ganz sachte über den weißen Bezug meines Bettes.
Schmerz, Verbluten – war es nicht dem Blick eingeimpft wie ein Gift, trug ich nicht jene Bilder noch in mir?
Aufgehen in der Hilfe dem Leidenden, sich hinschenken dem All, verkörpert in der kranken Kreatur, das war mein Ziel. Arzt wollte ich werden.
Arzt, das war mir damals ein Wort wie Priester und Fürst – es war mir der Name dessen, der außerhalb des Kreises der übrigen stand; Arzt war der Mann, der zwischen Leben und Tod, helfend, beide beherrschte.
Solch einer wollte ich werden, der nicht nur wiedergab, was andere in ihn hineingepreßt in Jahren der Schule, sondern der die heimlichen Dinge erspürte ums Werden und Vergehen, der die Wurzel der Hoffnung kannte und das Heilkraut des Glaubens, der groß war und einsam. Denn dies schien mir wichtig: einsam für sich, um allen sich teilen zu können.
Schwer ward mir der Weg.
Voll Überwindung waren die Tage, an denen wir Leichen zerschnitten, Muskeln und Nerven zu suchen. Schön aber waren die Bilder der Zellen, der Mikroskopie: Kunstwerke ewiger Weisheit. Und beides doch, die Leichen dort und die Schnittbilder hier, demselben Stoffe entnommen, dem immer vergänglichen Menschen.
Und jene, die lehrten, die Zelle sei das Leben, die im Eindringen in die feinsten Fasern des Leibes glaubten, ums Leben zu wissen, wie klein waren sie und wie unscheinbar vor den Blicken von uns, die manches ums Leben erfühlten, weil sie den Tod oftmals gespürt.
Wohl ward manch lautes Fest mit Freunden gefeiert, doch bald schon wanderte ich wieder allein über die Weite der Alb und fühlte mich hingezogen zu dem, das ich liebte, zu dem, das ich lange entbehrt: zur Stille, zur Einkehr. Jener Geist edler Kultur, die Freude an guten Büchern, und vor allem die Pflege häuslicher Musik, die Unabhängigkeit von den äußeren Gütern, schien mir das Ziel, schien mir der Sinn des Inneren Kreises zu sein, den wir in unserem Leben haben, in dem alles Äußere und Äußerliche abfällt zum Nichts, in dem aber die Tiefen sich öffnen: Glaube und Kunst. Dahin finden wollte ich wieder, wo die inneren Werte des Lebens zu leuchten beginnen, aus denen das Tapfere der Tat und der Haltung von selber erwächst, und wo die Begriffe von Arbeit und Glück, von Heimat, von Frau und von Kind sich aufs neue beleben, dahin, wo die innersten Kräfte gedeihn, die uns befreien und tragen, und ohne die es nicht Tapferkeit gibt und keine Gemeinschaft.
Der Abend war nach getaner Arbeit lautlos gekommen. Da trafen sich Freunde bei einem unserer Lehrer. Es wurde musiziert.
Wir rückten uns in bequemen Stühlen zurecht. In den Zimmern war erwartungsvoller Dämmerschein, und nur in der Mitte, über den Streichern, strahlte die einzige Lampe. Die Töne hoben sich aus den Geigen, die Wärme der Bratsche, die Tiefe der Celli klangen auf: das Schubert-Quintett war im Raum.
Wie ein Freund sprach der erste Satz zu mir, fing mich ein in seine Schönheit. Dann aber, als der zweite, der langsame Satz zu tönen begann, da stieg noch einmal alles Vergessene in mir auf, alle Erinnerung gewann Macht über mich, alles begann sich zu lösen.
Wie ein Choral hebt sich sein Thema, umspielt vom dunkleren Klang der Celli. Abschied und Krieg, Evelyn und der Freund, alle sind gegenwärtig. Erschüttert und lebendig ist noch einmal die Welt der Zeit, die hinter mir liegt. In der Dichte der Töne, in der Fülle des Klangs blüht noch einmal auf, was ich war, was ich trug. Tränen sind mir nahe. Lebwohl, du, Evelyn – nichts habe ich dir zu vergeben, nichts zu vergessen – diese Stunde hat alles verwunden. Wir wollen nicht hadern, alles ist Schicksal, für dich wie für mich. Der Geist des Guten, der diese Töne erschuf, die uns umspielen, er segne dich. Ich hab dich verloren, aber ich beginne, dein und auch mein Los zu verstehen. Lebwohl! Und auch du, gefallener Freund, wirst bei mir sein in Not und Freude meiner Tage. Du wirst nicht tot, sondern lebendig sein, denn ich vergesse dich nicht.
Die Töne des langsamen Satzes versinken wie Abendrot über weitem Gefild, weich und gelöst, in schmerzlicher Süße.
Da aber erhebt sich mit Frohsinn der nächste Satz, alles klingt auf. Quellen scheinen zu rieseln, Faune zu necken, und auf einmal, im letzten, ist alles voll Kraft und Bewußtsein: so ist mein Herz nun geläutert, gelöst; ich bin wieder frei. Das Leben ist gut. Das Leben ist stark.
Die Nacht sank herein. Die Sterne stiegen. Wir saßen noch lange zusammen und schwiegen. Nur einer sprach von der Schwere, sich wieder einzufinden in die Gewohnheit des Lebens: wer in den Krieg gegangen, der finde niemals mehr heim in die Gassen der alten Gewohnheit, in den Kreis, in dem er früher gelebt. Nie mehr lasse sich abtun und überwinden, was Schweres der Krieger draußen gelitten. Alle schwiegen seinen Worten nach.
Auch ich wurde gefragt.
Nein, antwortete ich, denn der Krieg ist wie alle großen Erscheinungen nur eine gemeinsame Prüfung, die wir meistern, an der unsere Kräfte reifen müssen, wie Korn über schwarzbrauner Erde. Sind wir aber wissend und werdend hindurchgegangen, sind wir wahre Krieger im Kriege gewesen, so finden wir uns auch jetzt im Frieden zurecht und finden uns ein ins Gefüge des Lebens, reif, mühelos, in den Gang der Gemeinschaft.
Die freilich zu schwach waren für den Krieg, sind auch schwächlich zum Frieden.
Und jeder der kommenden Kriege wird wieder beweisen: der Starke des Friedens ist stark auch im Krieg, und wer am Krieg nicht zerbrach, wer die Schlachten gemeistert, wird reif sein zum Frieden!
Die Monde vergingen. Der Frühling kam und mit ihm meine Entlassung aus dem Heere. Fast nichts konnte ich in diesem schmerzlichen Augenblick tun, als mir der Kompanieführer letztmals mein Soldbuch in die Hand gab, fast nichts, gegen diese Zeit der Auflösung und der Zuchtlosigkeit, aber dies eine tat ich, das keiner mehr tat und für nötig hielt: im Anblick der höhnischen andern riß ich klappend die Hacken zusammen und stand stramm vor dem Führer der Kompanie.
Sein trauriges Lächeln und sein Händedruck waren mein Abschied.
Zügellos war oftmals jene Zeit, doch niemals, daß ich mich an Unwertes vergeudet hätte. Was mir Evelyn an Schmerzen bereitet, das brachte sie mir in der Erinnerung an Güte: sie bewahrte mich vor vielem, und wies mir in manchem gleichsam als ein unerreichbares Ziel, dem ich mich dennoch verschrieben, den Weg.
Viele suchten die Heimkehr, als hätten sie viele Freuden versäumt, in den Billigkeiten des Lebens zu feiern, viele versanken in alte Romantik. Wenige erkannten, was not tat: Härte und Zucht.
Alle aber, die sich vom Felde her kannten, waren befreundet. So viele Freunde aber hatte ich damals, daß ich allein war. Einer nur hielt zu mir, mein Hund, ein hoher Wolfsrüde, der meine Zuneigung gewann, weil er eines Tages – ich erwachte nach einem Gelage – eine Hose, die ich nicht mochte, am Boden zerriß und die Fetzen zernagte. Er wurde mein Freund, Harro, der Hund.
Wir verstanden uns ohne Laut. Der aufmerksame Sinn des überwachen Tieres verstand meine Not. Er war bei mir in einsamen Nächten, er verstand mich zu trösten wie keiner, wenn er die Schnauze auf meine Knie legte, eine der Pfoten dazu, und mich aus schönen Augen ansah: Nimm's nicht zu schwer – ich will dich trösten – sieh, ich bin bei dir – bin dein.
Seine Treue war unwandelbar, ebenso seine Menschenkenntnis. Versteckter Feinde Freundlichkeit hielt er mir knurrend vom Leibe.
Er war der unbedingte Beherrscher der Straße. Pinscher, Terrier, Schnauzer, Doggen und, nach blutigem Kampf, in dem er einen ganzen Zwickel seiner Fellhaut verloren, auch der große Wolfshund des Nachbarn, alle waren ihm untertan. Morgens kam er an mein Bett, mich zur gewohnten Stunde zu wecken, er brachte mich ins Kolleg, zu den Freunden. Er holte mich ab zu den Zeiten, die er kannte.
Wenn es Abend wurde, brachte er Leine und Hut, das letztere hieß: wir wollen noch ein wenig hinaus, das erstere: in den Wald. Denn nur dort kam er an die Koppel. Mit Hussa und Fröhlichkeit liefen wir durch die Wälder, die Weiten der Alb. Immer waren wir zusammen.
Auf die Burg dort im Schönbuch, hoch überm Tal gelegen, waren wir zwei wieder zusammen gegangen. Er fraß noch gut, aber auf dem Heimweg hing er die Ohren, die Schnauze ward heiß, und abends lag er matt und elend auf seinem Lager. Geduldig ertrug er die Schmerzen, gab Laut, wenn ich kam, und als er dazu schon zu schwach war, bewegte er noch ein wenig den Schweif. Gierig und voll Vertrauen schlürfte er die bittere Arznei, die ihm der Tierarzt verschrieben hatte.
Es ward eine lange Nacht. Ich saß bei ihm, machte ihm Wickel, und als ich sah, daß es ihn mehr quälte als ihm nützte, da streichelte ich ihm nur noch das Fell und nahm seine heiße Schnauze in die kühlere Hand.
Um Mitternacht etwa hob er zum letztenmal mit großer Anstrengung den Kopf, legte mühsam eine Pfote auf meine Hand.
Ich hielt meinen Blick in dem seinen, als er mit Tagesgrauen, still und geduldig, verschied.
Ich ging auf mein Zimmer, so allein wie noch nie.
In der kommenden Nacht, oben am Waldrand, unter den Buchen und Eichen, wo wir immer gegangen, begrub ich ihn. Ein Tannreis schmückte sein Halsband.