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Vierzehntes Kapitel.

Gleich dem an Episoden reichen Ariost, muß ich hier, um die verschiedenen Zweige zu dem Stamme zu fügen, den meine Erzählung bildet, die Erlebnisse einiger andern darin handelnden Personen bis zu eben dem Punkte führen, wo wir Jeanie Deans verließen . . .

»Wetten möchte ich,« sagte der Stadtschreiber zu seinem Freunde, dem Ratsherrn, »daß dieser Galgenstrick von Ratcliffe, wenn man ihm das Leben ließe, uns mehr als ein Dutzend Polizisten und Frone nützen würde, aus dieser Porteous-Affäre herauszukommen. Er heißt doch nicht umsonst bei allen Gaunern im Lande seit zwanzig Jahren Vater Kliff!«

»Ein gerissener Patron, das muß man sagen,« erwiderte der Ratsherr, »sich auf ein städtisches Amt zu spitzen!«

»Pardon, Euer Gnaden,« bemerkte der Polizeimeister, »ich glaube, der Herr Stadtschreiber sind nicht im Unrecht. So einen Menschen wie Ratcliffe kann die Stadt gut brauchen, und wenn er sich drauf einlassen will, der Unsrige zu werden, so können wir uns ebensogut drauf einlassen, ihn zu nehmen, denn einen besseren Kandidaten für das Beifronsamt werden wir schwerlich auftreiben. Wenn wir warten wollen, bis sich einer aus der Heiligen Gilde dazu findet, so wird's wohl ein Weilchen dauern . . Denken wir doch an den Porteous! der war auch sein Dutzend Kollegen wert und weder vor Hölle noch Teufel bange, wenn es galt, Order zu parieren.«

»Freilich, der Stadt hat er genützt,« erwiderte der Ratsherr, »wenngleich er kein Muster in sittlicher Hinsicht war. Könnte Ratcliffe uns zur Entdeckung seiner Mörder helfen, so möchte ich wohl dafür sein, daß wir ihm das Leben schenken und ein Stück Geld obendrein. In London wird man uns die Geschichte sehr übel vermerken, denn Königin Karoline . . Sie sind zwar nicht verheiratet, lieber Stadtschreiber, wissen wohl aber auch von dem Weibsvolk ihr Liedchen zu singen? . . ist eine von jenen Damen, die selber eigensinnig genug sind, um bei andern keinen Eigensinn zu dulden . . Ich möchte nicht bei ihr in London zu tun haben, wenn sie durch unsern Kurier wieder hören muß, daß noch immer niemand wegen diesem . . weiß Gott! hundsföttischen Falle hat festgenommen werden können!«

»Na, wenn's darauf ankommt, Herr Syndikus, dann ließe sich ja ein bißchen Gesindel leicht aufgreifen; einige Herrschaften habe ich auf meiner Liste, denen ein paar Wochen hinter Schloß und Riegel ganz gut täten; und sollten sie diesmal wirklich ohne Schuld ins Kittchen wandern, so könnt man's ihnen ja gutschreiben fürs nächste Mal, wenn sie uns Anlaß geben, ihrer wieder mit christlicher Liebe zu gedenken.«

»Nun,« sagte der Ratsherr, »ich will Ratcliffes wegen mit dem Präsidenten Rücksprache nehmen . . Kommen Sie mit, Herr Polizeimeister! Vielleicht läßt sich auch aus der Geschichte mit diesem Butler und seinem Unbekannten von den Salisbury-Felsen etwas machen? Jedenfalls ist es mir nicht geheuer, wie sich ein Mensch dort herumtreiben und als Teufel ausgeben kann, bloß um harmlose Leute zu schrecken, die genug vom Teufel schon Sonntags von der Kanzel hören . . Daß der Geistliche den Pöbel selbst angeführt hat, mag ich nicht glauben, wenn er freilich auch der erste seines Standes nicht wäre, der sich dazu hergegeben.«

»Das wird aber schon ein Weilchen her sein,« meinte der Polizeimeister, »jetzt wird's kaum noch vorkommen . . Um aber bei Ratcliffe zu bleiben, Herr Syndikus, so will ich, falls der Herr Oberrichter sich mit unserer Ansicht einverstanden erklären sollte, selbst mit ihm reden – mit Vater Kliff meine ich – denn ich denke, mehr aus ihm herauszubringen, als Sie, Herr Syndikus.«

Noch am selben Tage bekam Sharpitlaw – so hieß der Polizeimeister von Edinburg – Instruktion, sich ins Gefängnis zu begeben und zu versuchen, ob er aus dem Arrestanten Ratcliffe etwas herausbekomme, was der Stadt in ihrer gegenwärtigen Verlegenheit zum Nutzen gereichen könne . . .

Die Art, wie sich ein Polizist mit einem Spitzbuben abfindet, den er in seine besondere Behandlung nehmen soll, ist immer von den Umständen abhängig. Er kann nicht in allen Fällen Habicht sein, der aus der Höhe auf seine Beute herabschießt; oft muß er Katze sein, die mit der Maus spielt, ehe sie zubeißt; oft aber auch Klapperschlange, die das vor ihren Augen flatternde Opfer so lange fasziniert, bis es ihr aus Furcht oder Verwirrung von selbst in den Rachen gerät. Die Begegnung Ratcliffs und Sharpitlaws gestaltete sich noch anders. Fünf Minuten lang saßen sie einander gegenüber wie zwei Hunde, die miteinander spielen, listig spähend, wer zuerst sich eine Schwäche beikommen läßt, die dem andern das Zubeißen erleichtert.

Endlich fand es der Polizeimeister am Platze, das Wort zu nehmen . .

»Na, Ratcliffe, ist's denn wirklich an dem, was ich höre? Ihr wollt ein anderer Mensch werden?«

»Jawohl, Herr,« versetzte Ratcliffe, »ich hab's satt bekommen, recht satt. Zudem meine ich, daß ich so manchem dadurch Arbeit erspare.«

»Hm, daß man Euch wieder mal zum Galgen verurteilt hat, Ratcliffe,« fragte Sharpitlaw, »wißt Ihr doch?«

»Gegen den Tod ist nun mal kein Kraut gewachsen, wie der ehrwürdige Pfaff in der Zöllnerkirche sagte, als Robertson auskniff . . Sie wissen doch, ohne daß einer von uns merkte, wohin? Meiner Treu! der Pfaff hatte triftigeren Grund zu solcher Rede, als ich mir dachte . . die böse Geschichte in der Nacht drauf hat's erwiesen.«

»Na, Kliff,« sagte Sharpitlaw in leisem, gleichsam vertraulichem Tone, »was den Robertson angeht, könntet Ihr da nicht mal zusehen, ob Ihr wißt, wo er sich auffinden oder wo sich wenigstens was über ihn erfahren ließe?«

»Ja, Herr Polizeimeister, mit dem ist's ein eigen Ding. Er ist im Grunde genommen von anderm Schlage als unsereins. Ein Satanskerl war er ja immer, und ausgefressen hat er allerhand. Aber die Affäre mit dem Zöllner, zu der ihn Wilson angestiftet hat, und ein paar Grenzbalgereien ausgenommen, hat er uns eigentlich niemals ins Handwerk gepfuscht.«

»Sonderbar, die Gesellschaft in Betracht gezogen, mit der er sich abgibt.«

»Und doch ist's wahr, was ich sage,« versetzte Ratcliffe; »von unsern Affären hat er sich immer fern gehalten, was sich vom Wilson nicht eben sagen ließ; denn mit dem hab ich doch manchen Tanz ausgefochten. Aber auch der Robertson wird noch dahin kommen, wo wir sind . . das ist so sicher wie das Amen in der Kirche . . es kann niemand ein Leben führen wie er, ohne diesen Schlußakkord.«

»Ihr wißt, wer er ist und was er ist?«

»Meiner Meinung nach ist er von besserem Herkommen, als er bekennen will. Soldat ist er gewesen und dann Komödiant . . wohl auch noch was anderes, ich kann nicht sagen was alles, denn so jung er ist, hat er's an Tollheiten doch nicht fehlen lassen.«

»Ja, er mag manches auf dem Kerbholz haben, worüber am besten nicht geredet wird . . nicht wahr, Ratcliffe?«

»Meine Meinung auch,« sagte Ratcliffe, listig den Finger an die Nase haltend; »und keine Dirne war vor ihm sicher.«

»Mag wohl sein,« erwiderte Sharpitlaw; »aber, Ratcliffe, wir wollen nicht soviel Worte machen, auch nicht soviel Umstände . . Was Ihr zu tun habt, um pardonniert zu werden, wißt Ihr . . Ihr müßt Euch der Stadt nützlich machen.«

»Gewiß, gewiß, soviel in meinen Kräften steht, Herr Sharpitlaw . . für nichts ist nichts, das weiß ich recht gut.«

»Was die Stadt jetzt am meisten tangiert, ist dieser vermaledeite Porteous-Fall, und wenn Ihr da einiges Licht schaffen konntet, wäre Euch der Beifron als Anfang sicher, während Euch der Aufseher für später winkte . . . Ihr versteht, was ich meine?«

»Selbstverständlich, Herr Sharpitlaw! aber ich hab ja doch während des ganzen Rummels im Loche gesteckt . . wie soll ich da was wissen? . . Gelacht hab ich freilich, als der Hauptmann um Gnade bettelte, wie ihn die Kerle beim Schlafittchen nahmen; na, Junge, dachte ich da bei mir, nun schmeckst Du selber mal, wie's Hängen tut.«

»Das hilft Euch aber weder aus der Patsche noch zum Beifron, Ratcliffe, denn daß wir den berüchtigten Papa Kliff pardonnieren sollten, ohne daß er es verdiente . . auf Grund gewisser Aussagen verdiente . . das werdet Ihr wohl selbst nicht denken!«

»Na, denn meinetwegen,« platzte Ratcliffe heraus, »wenn's mal nicht anders geht, so mögt Ihr eben wissen, daß der Robertson mit unter den Schlingeln war, die das Stockhaus stürmten . . Das wird Euch nützlich sein . . nicht wahr?«

»Weiter im Texte,« sagte Sharpitlaw; »wenn wir nicht wissen, wo wir ihn erwischen, nützt uns das noch verdammt wenig.«

»Ja, Sharpitlaw,« sagte Ratcliffe, »das mag der Teufel wissen! denn in eins seiner Eulennester wird er sich jetzt schwerlich verkriechen. Ich denke, er wird längst aus dem Lande sein; denn ein so tolles Leben er auch führt, so steht doch eben fest, daß er hohe Anverwandte hat, bei denen ihn niemand vermutet und deshalb auch niemand sucht . . und dorthin begibt er sich wohl jedesmal, wenn ihm irgendwo der Boden zu heiß unter den Füßen wird.«

»Desto besser wird er sich am Galgen ausnehmen,« versetzte Sharpitlaw; »ist das ein Kerl, einen Diener der Obrigkeit abzuschlachten, weil er seine Schuldigkeit getan hat! . . So was ist ja noch nie dagewesen! Wenn das ungestraft hinginge, könnte sich ja kein Teufel mehr sicher glauben . . Ihr seid doch Eurer Sache gewiß, ihn gesehen zu haben?«

»So gewiß, wie ich jetzt Euch sehe!«

»Was für Kleidung trug er?«

»Ich kann's nicht genau sagen, denn ich konnte es nicht genau erkennen . . wie ein Frauenzimmer sah er aus, und doch wieder wie ein Mann! Auf dem Kopfe trug er eine Weiberhaube . . O, solch ein Gewühl habt Ihr im ganzen Leben noch nicht gesehen, wie an dem Tage hier . . Nicht Augen genug konnte man haben.«

»Hat er mit niemand gesprochen?«

»Das hat alles durcheinander geschrieen, daß man keinen vom andern heraushören konnte,« erwiderte Ratcliffe, der nicht zuviel sagen mochte.

»Damit kommt Ihr nicht durch, Ratcliffe! Ihr müßt von der Leber weg reden . . von der Leber weg!« und bei jedem der vier Worte, die er wiederholte, schlug er mit der Faust auf den Tisch.

»Es ist eine harte Nuß, die Ihr mir zu knacken gebt . . und ginge es nicht um das Beifronsamt . . «

»Und um die Aussicht, zum Aufseher aufzurücken, Ratcliffe . . gute Führung natürlich vorausgesetzt.« sagte Sharpitlaw.

»Ja, da liegt der Hase im Pfeffer . . gute Führung vorausgesetzt . . Nebenbei heißt's,« sagte Ratcliffe, »hübsch abwarten, bis andre ins Gras gebissen haben!«

»Aber, Papa Kliff! Robertsons Kopf wird auch was wiegen! Die Stadt muß sich schon erkenntlich zeigen. Das ist doch nur recht und billig.«

»Hm, hm,« machte Ratcliffe.

»Und solchen Erwerb, Mann, könnt Ihr doch mal in Ruhe verzehren!«

»Hol's der Teufel, Polizeimeister,« fuhr Ratcliffe auf, »eine absonderliche Art, wieder ehrlich zu werden, ist's und bleibt's . . wenn's nun aber nicht anders geht, dann, hol's der Teufel!« rief er wieder, »mit dem Mädchen, der Effie Deans, hab ich ihn sprechen sehen . . mit dem Mädchen, das wegen Kindesmordes eingesperrt ist.«

»Wirklich, Ratcliffe? Na, seht mal an! Das bringt uns gleich auf die Spur . . dort der Mann, der bei den Salisbury-Felsen mit dem Geistlichen Butler spricht, der Jeanie Deans an die Muschat-Steine bestellt . . und hier der Mann, der mit der Kindsmörderin Effie Deans spricht . . ich wette drauf, Ratcliffe, Robertson ist der Vater zu dem Kinde!«

»Ein Schluß, der sich hören läßt,« meinte Ratcliffe schmunzelnd, während er das Stück Kautabak, das er im Munde hatte, langsam zerbiß und ausspie; »die Rede davon war einmal, daß er sich mit einer hübschen Dirne herumtriebe und daß Wilson seine Not gehabt hätte, ihn vom Heiraten abzuhalten.«

Ein Diener kam mit der Meldung, das Frauenzimmer sei eingebracht worden, das Sharpitlaw vorzuführen befohlen habe.

»Es liegt nicht mehr viel daran,« erwiderte dieser; »die Sache nimmt eine andere Wendung; immerhin könnt Ihr sie herbringen.«

Der Diener ging ab, und ein großes, starkes Mädchen im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren, in höchst phantastischer Kleidung, trat herein: sie hatte eine blaue, mit blinden Tressen besetzte Reitjacke an, trug das Haar nach Männerart, unter einer holländischen Mütze, von der ein großer Busch geknickter Federn herunterhing. Ein Reitrock aus scharlachrotem Kamelott, mit verblichenen Blumen gestickt, der ihr bis auf die Knöchel reichte, und eine Reitgerte vervollständigten ihren Anzug. Sie hatte starke, männliche Züge, tiefschwarze, feurige Augen, eine Adlernase und ein scharf geschnittenes Profil. In einiger Entfernung gesehen, konnte sie für hübsch gelten; in der Nähe machte sie einen mehr abstoßenden Eindruck. Sie schwang die Reitgerte, machte einen tiefen Knicks und nahm das Wort, ohne abzuwarten, daß man sie zum Sprechen auffordere.

»Schenk Euer Gnaden der Himmel einen fröhlichen Abend, nicht bloß heute, sondern an noch vielen kommenden Tagen, Herr Sharpitlaw! . . Ei, Ihr seid auch da, Papa Kliff? Und dabei hieß es schon draußen, Ihr hättet Hanf geleckt? Na, auf welche Weise habt Ihr denn Henker Dalgliesh ein Schnippchen geschlagen, wie die Maggie Dickson, als sie schon halb baumelte?«

»Halt's Maul, tolle Suse!« rief Ratcliffe, »bis Du gefragt wirst.«

»Von Herzen gern, Kliffchen . . Ist das aber eine Ehre, die heute der armen Madge widerfährt, in einem gestickten Kleide von so feschen Herren durch die Straße geführt und von der ganzen Stadt angegafft zu werden und von früh bis spät mit Richtern und Staatsanwälten, Stadtschreibern, Polizeimeistern und Bütteln sprechen zu dürfen . . Wirklich! hätt's mir nicht träumen lassen!«

»Ei, Mädel,« sagte Sharpitlaw in schmeichelndem Tone, »Du bist ja heut so im Staate! Das sind doch Deine Alltagssachen nicht!«

»Hat sich was mit Alltagssachen!« rief Madge, und da eben Butler hereintrat, rief sie: »O, auch ein Gottesmann im Stockhause? . . Wer wird's da noch eine Mörderhöhle nennen . . Vielleicht sitzt er aber, weil er am alten Glauben hängt? . . Aber was geht's mich an?« Und nun fing sie an zu tanzen und zu trällern:

Heisa, heisa, trallala!
Ihr Herrchen, Belzebub ist da!
Macht gar feine Chosen,
Pflückt gar viele Rosen . .
Heisa, heisa, trallala!
Belzebub ist wieder da!

»Haben Sie diese tolle Person schon einmal gesehen?« fragte Sharpitlaw den Geistlichen.

»Soviel ich weiß, nie in meinem Leben,« antwortete Butler.

»Hab's mir gedacht!« sagte Sharpitlaw, einen bedeutsamen Blick mit Ratcliffe wechselnd, um sich dann wieder an Butler zu wenden: »Aber das ist ja, wenigstens wie sie sich selbst nennt, die Madge Wildfire!«

»Freilich bin ich's,« rief sie, »freilich, und bin's gewesen seit der Zeit, da ich was Besseres war . . aber das ist schon lange her, besinne mich nicht mehr! Doch soll's mich nicht scheren. Wer kann's mir wehren?

Heisa, heisa, trallala!
Herrchen! Belzebub ist da!
Macht gar feine Chosen . . . «

»Still, Du Racker!« fuhr der Büttel sie an, »oder ich will Dich, statt singen, heulen lehren!«

»Laß sie in Ruh!« sagte Sharpitlaw, »ich will sie noch Verschiedenes fragen . . Doch erst soll sie Herr Butler sich noch mal ordentlich ansehen.«

»Freilich, Pfaffe, schaut mich an!« rief die Madge, »ist doch gar viel an mir dran . . mehr als an all Euren Schwarten, darauf könnt Ihr Euch verlassen . . Ich kann auch die zehn Gebote auswendig, und das Vaterunser . . auch die . . das heißt, ich konnte sie auswendig,« setzte sie leiser hinzu, »ich konnte sie, aber das ist schon lange her . . besinne mich nicht mehr,« und ein tiefer Seufzer hob sich aus ihrer Brust.

»Na, was sagen Sie jetzt, Herr?« fragte Sharpitlaw den Geistlichen zum andern Male.

»Was ich schon vordem sagte,« antwortete Butler, »daß ich das arme, blödsinnige Wesen zum ersten Mal in meinem Leben sehe.«

»Also ist es nicht die Person, die in der verwichenen Nacht von der aufrührerischen Menge Madge Wildfire genannt wurde?«

»Ganz bestimmt nicht!« antwortete Butler, »gleich groß sind sie wohl, aber sonst einander nicht ähnlich.«

»Auch die Kleidung ist nicht die gleiche?« fragte Sharpitlaw.

»Ganz und gar nicht,« sagte Butler.

»Aber, Madge, mein Kind,« sagte Sharpitlaw wieder in dem schmeichlerischen Tone wie vordem, »sage mir bloß, was Du gestern mit Deinen Kleidern gemacht hast?«

»Hab's vergessen, Herr,« antwortete sie.

»Sag mir bloß, wo Du gestern abend gewesen bist!«

»Gestern ist nicht heut,« antwortete sie, »was weiß ich von gestern? Ein jeder Tag hat seine Plag' . . drum weiß ich nichts von gestern.«

»Vielleicht besinnst Du Dich auf gestern, wenn ich Dir eine Krone geb?« Dabei hielt er ihr ein Geldstück hin.

»Besinnen drauf nicht,« sagte sie, »aber lachen drüber!«

»Und wenn ich Dich ins Arbeitshaus schicke und Dir die Rute geben lasse?« fragte Sharpitlaw streng.

»Besinnen drauf nicht,« sagte sie schluchzend, »aber weinen drüber!«

»Herr,« mischte Ratcliffe sich dazwischen, »auf Madge Wildfire bleiben Gründe ohne Einfluß, die bei vernünftigen Leuten gelten, weder Geld noch Galgen noch Rute . . aber ich brächte schließlich doch was aus ihr heraus.«

»Dann probiert's,« erwiderte Sharpitlaw, »ich hab das blöde Gewäsch der Person ohnehin satt.«

»Madge,« redete Ratcliffe sie an, »sag mir doch, wer ist denn jetzt Dein Schatz?«

»Fragt Dich wer, dann sprich, Ratcliffe, Du wüßtest's nicht. Ei, schau mir einer den Papa Kliff! läßt's sich einfallen, von meinem Schatz zu sprechen!«

»Aber ich sollte doch meinen, Du seiest nie ohne Schatz?« fragte Ratcliffe.

»Bin ich auch nicht,« rief sie, »sollt mir einfallen!« rief sie, den Kopf als gekränkte Schöne stolz zurückwerfend, »ein Leben ohne Schatz, das wär 'ne schöne Hatz! . . Na, Ratcliffe! besinnst Du Dich noch auf Robin den Wilden? und wer kam dann? der Willi aus Flandern, nicht wahr? und dann der Robertson, der Georg Robertson!

Heisa, heisa, trallala!
Robertson ist wieder da . . «

Ratcliffe lachte, winkte dem Polizisten zu und fuhr in seiner Weise fort, sie auszufragen . . »Aber, Madge, ich weiß doch, die feinen Jungen machen sich bloß was aus Dir, wenn Du in Deiner Sonntagskluft steckst. In Deinen Alltagslumpen gefällst Du keinem. Da möchten sie Dich kaum mit der Ofengabel anfassen.«

Wieder warf sie stolz den Kopf zurück . . »Du alter, elender Lügenstrick!« rief sie, »hat nicht erst gestern der feine Georg Robertson sich meine Alltagslumpen angezogen? Ist er nicht durch die ganze Stadt drin spaziert? und hat er nicht drin ausgesehen wie eine Königin?«

Wieder winkte Ratcliffe dem Polizisten und wieder fuhr er fort: »Madge, davon glaub ich Dir kein Wort! Die Lumpen hatten wohl Mondscheinfarbe? He? und der Rock sah himmelblau aus?«

»Was Ihr nicht wißt, Vater Kliff!« rief Madge, im Eifer des Widerspruchs alles ausplaudernd, was sie bei besserer Ueberlegung schwerlich gesagt hätte, »weder rot noch blau ist er gewesen, der Rock, sondern meinen kurzen braunen hat er angehabt, mit dem roten Ueberwurf, und dazu die alte Haube von Muttern aufgesetzt . . eine Krone hat er mir dafür gegeben, daß ich ihm die Lumpen lieh, und der Mutter eine halbe . . mir auch noch einen Kuß, ja, und dafür mag ihn der Himmel unter seinen Schutz nehmen, wenn er mir auch teuer, gar teuer zu stehen gekommen.«

»Und wo hat er sich wieder umgezogen, Kind?« fragte Sharpitlaw mit aller Freundlichkeit, die er seiner Stimme geben konnte.

»Der Polizeimeister verdirbt uns die ganze Pastete,« brummte Ratcliffe . . und er hatte recht, denn diese so direkt gestellte Frage erweckte in der Brust des Mädchens, das Ratcliffe auf so kluge Weise zum Plaudern gebracht hatte, sogleich Argwohn . .

»Warum paßt Ihr denn so auf, Herr?« fragte sie, indem sie sich wieder blöde stellte, was erkennen ließ, daß ihr geistiger Defekt zum Teil nichts weiter als List und Verstellung war.

»Ich wollte ja nur wissen, wann und wohin Robertson Deine Sachen wieder gebracht hat?« fragte Sharpitlaw.

»Robertson?« wiederholte sie; »Jesus! was denn für ein Robertson?«

»Na, der, von dem Du uns erzählt hast,« sagte Sharpitlaw, »der schöne Georg, wie Du ihn nanntest.«

»Der schöne Georg?« rief sie, helle Verwunderung heuchelnd; »kenn ich denn jemand, der so heißt?«

»Höre, Kind,« sagte Sharpitlaw, die Stimme verschärfend; »damit kommst Du bei mir nicht durch! Du mußt mir sagen, was Du mit Deinen Kleidern gemacht hast.«

Madge gab Antwort, doch nur mit einem Liederverse:

Was hast Du mit Deinem Ringlein gemacht?
Dem Ringlein, Ringlein, Ringlein klein?
Sag, wo hast Du's hingebracht,
Dein Ringlein, Ringlein, Ringlein klein?
Ich hab's dem Jäger gegeben,
Dem Liebsten, Liebsten im Leben . .
Mein Ringelein, mein Ringelein,
Dazu das bunteste Kränzelein,
Dem Liebsten, Allerliebsten mein,
Nun rat, wer mag es sein?

Der Polizeimeister war außer sich . . »Ich will dem verrückten Balge die Hölle so heiß machen, daß sie sich wieder besinnen lernt!«

»Mit Verlaub, Euer Gnaden,« bemerkte Ratcliffe, »es wäre schon besser, man ließe sie erst wieder ruhig werden. Einiges habt Ihr ja schon von ihr gehört.«

»Freilich,« erwiderte, sich aufblähend, Sharpitlaw, »den braunen Rock, die Haube, den roten Ueberwurf . . Sagen Sie, Herr Butler, war die Madge Wildfire, die Sie gesehen, so angezogen?«

»Jawohl,« versetzte Butler.

»Bei diesem hundsföttischen Ueberfall hatte er allerdings Anlaß genug, sich hinter Tracht und Namen dieses verrückten Weibsbilds zu stecken!« rief Sharpitlaw.

»Und ich erkläre nun meinerseits . . « wollte Ratcliffe beginnen; aber Sharpitlaw ließ ihn nicht ausreden, sondern rief: »Richtig, weil Ihr seht, daß es auch ohne Euch zu Tage kommt!«

»Ja doch, Euer Gnaden . . « sagte Ratcliffe, ruhig wie immer, »ich wollte meinerseits bloß feststellen, daß ich Robertson gestern nacht in solcher Tracht an der Spitze der Aufrührer gesehen habe.«

»Das ist eine bestimmte Aussage,« erwiderte Sharpitlaw, »auf die wir zurückkommen werden; merkt sie Euch also, Ratcliffe! . . Ich werde dem Herrn Präsidenten Bericht über Euch erstatten; günstigen Bericht, denn ich habe für Euch heute noch weitere Arbeit . . Vorderhand muß ich nach Hause; es ist spät geworden, und ich möchte ein paar Bissen essen, werde aber nicht lange wegbleiben. Behaltet das Weibsbild bei Euch, Ratcliffe, und versucht, sie wieder zur Ruhe zu bringen . . und, wenn's geht, bei guter Laune zu erhalten.«

Mit diesen Worten verließ er das Gefängnis.


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