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Das doppelte Spiel, das Ratcliffe bei dem Versuche, Robertson zu fangen, gespielt hatte, sollte ihm kein Hindernis werden für seine Anstellung als Beifron und Schließer, so wenig sich das auch mit seinem früheren Leben vertrug, denn er war jahrelang der schlimmste Dieb und Straßenräuber von ganz Schottland gewesen; aber Sharpitlaw war sein Fürsprecher bei dem Edinburger Magistrate, und der Umstand, daß er das Gefängnis nicht verlassen, als es der Pöbel gesprengt hatte, sprach erheblich zu seinen Gunsten.
Ratcliffe wurde, kaum im Besitze seines neuen Postens, von Saddletree und anderen bestürmt, eine Zusammenkunft der beiden Schwestern zu vermitteln. Der Magistrat hatte aber, in der Hoffnung, über Robertson schließlich doch noch etwas zu erfahren, wenn die Schwestern nicht zueinander gelassen würden, gegenteilige Weisung erteilt; Jeanie konnte indessen weiter nichts über Robertson aussagen, als sie bisher getan, und Effie hüllte sich in Schweigen, selbst als man ihr eine beträchtliche Strafmilderung zusagte, wenn sie aussagen wollte, was ihr über Robertson bekannt sein; als man ihr ernstlich deshalb zusetzte, ließ sie es nicht bei Tränen bewenden, sondern gab oft, um weitere Fragen abzuschneiden, heftige, unwirsche Antworten. Die Verhandlung war von einer Woche zur andern verschoben worden, immer in der Erwartung, Effie werde sich noch verstehen zu Aussagen, die Robertson in die Hände der Obrigkeit lieferten; als man aber sah, daß sie bei ihrem Eigensinn verharrte, riß dem Magistrat die Geduld, und der Verhandlungstag wurde festgesetzt. Jetzt erst erinnerte sich Sharpitlaw des Versprechens, das er Effie gegeben, die Schwester zu ihr zu führen; vielleicht tat er es auch nur, weil er sich vor Frau Saddletree nicht mehr sehen lassen durfte, die ihm jedesmal die heidnische Grausamkeit vorwarf, zwei gebrochene Herzen in so schweren Kummer zu setzen dadurch, daß man ihnen beharrlich jede Zusammenkunft und Aussprache verweigere; kurz: Jeanie bekam endlich die Nachricht, daß sie die Schwester besuchen dürfe, aber erst am Tage vor dem für die Hauptverhandlung festgesetzten Termine . .
Um zwölf Uhr mittags machte sie sich auf den Weg zur Stadt, um die bezeichnete Stunde nicht zu versäumen. O, mit welch schwerem Herzen! und doch war dies nur ein Teil des bitteren Kelches, den sie leeren sollte um anderer Torheit und Vergehens halber . .
Ratcliffe führte sie in die Zelle. Als er die dreifach versicherte Tür aufschloß, scheute der Schamlose sich nicht, sie mit grinsendem Gesicht zu fragen, ob sie sich seiner noch entsänne? . . Jeanies Antwort war ein schüchternes, zaghaftes Nein . .
»Was? die Mondnacht an den Muschatsteinen sollten Sie vergessen haben, in der Sie Kliff nach Rob fragte?« rief er, noch immer grinsend; »da muß ich doch wohl Ihr Gedächtnis ein bißchen auffrischen?«
Wenn Jeanies Schmerz um das Schicksal der Schwester noch nicht den höchsten Punkt erreicht hatte, so mußte der Schreck darüber, sie der Gewalt dieses Schurken überantwortet zu sehen, ihn dahin führen. Und doch war Ratcliffe der Schlimmste noch nicht, dem die Arme in die Hände hätte fallen können! Zu denjenigen, die von Natur grausam sind und vor Blutvergießen nicht zurückschrecken, hatte Ratcliffe niemals gehört, und in dem Amte, das ihm ein günstiges Schicksal zugewiesen, ließ er es den Gefangenen gegenüber an Mitgefühl nicht fehlen, ja, wo es anging, erleichterte er, wenn er auch eine rauhe Außenseite behielt, ihre Lage nach besten Kräften, sorgte auch für gute und reichliche Ernährung. Aber Jeanie konnte natürlich den Mann nur nach dem Auftritt bei den Muschatsteinen beurteilen, und die Erinnerung daran ließ sie, und nicht mit Unrecht, das Schlimmste für die Schwester befürchten . . Sie fand kaum den Mut, ihm zu sagen, daß sie vom Ratsherrn Middleburgh Bescheid bekommen habe, es sei ihr eine Zusammenkunft mit ihrer Schwester bewilligt worden.
»Ich weiß das schon, Kind,« antwortete Ratcliffe, »und habe auch Befehl bekommen, dabei anwesend zu bleiben.«
»Muß das sein?« erwiderte flehentlich Jeanie.
»Was kann's denn schaden?« erwiderte Ratcliffe, »ich höre ein paar Mädel immer gern zusammen plaudern, wenn sich auch die Meinung, die ich von dem Weibsvolk habe, dadurch nicht ändern wird . . Und wenn ihr nicht grade von dem Sturme auf den alten Kasten hier redet, so könnt ihr sagen, was ihr wollt; mich soll's nicht weiter anfechten, und euch zum Schaden will ich's auch nicht nützen.«
Darauf führte er sie in die Zelle, in welcher Effie untergebracht war . . .
»Jeanie, liebe gute Jeanie,« rief ihr Effie, die den ganzen Tag zwischen Furcht, Scham und Schmerz geschwankt hatte, entgegen; die Freude aber, als die Tür sich öffnete, ließ sich nicht zurückhalten . . »Jeanie, liebe gute Jeanie! wie lange habe ich Dich nicht mehr gesehen!«
Jeanie umarmte die Schwester mit einer Innigkeit, die fast an Jubel grenzte, aber es war doch nur eine flüchtige Erscheinung, gleich dem Sonnenstrahl, der durch Gewitterwolken bricht, um gleich wieder in Nacht zu versinken . . Sie setzten sich nebeneinander auf das Strohlager, das Effie als Bett diente, hielten sich umschlungen und sahen sich lange, stumm und weinend, an. Selbst Ratcliffe konnte sich der Rührung nicht verschließen; sein Mitgefühl verriet sich durch eine an sich geringfügige Handlung, durch die er aber einen größeren Zartsinn bekundete, als sein Charakter hätte erwarten lassen. Das durch ein dichtes Gitter verschlossene Fenster stand offen, so daß das Licht die beiden Schwestern traf, und leise, fast ehrerbietig, ging er hin und klappte den Laden zu, wie wenn er die schmerzliche Szene durch einen Schleier verdecken wollte . . .
»Effie, Du bist krank,« waren die ersten Worte, die Jeanie über die Lippen zu bringen vermochte, »sehr krank!«
»Ach, was gäbe ich drum,« antwortete Effie, »wenn ich noch zehnmal kränker wäre, wenn ich tot und kalt daläge, ehe es wieder Morgen würde! . . Und der Vater? . . Aber ich bin ja sein Kind nicht mehr . . Jeanie, Jeanie! Ich habe keinen Freund auf der Welt! Ach, läge ich doch draußen auf dem Friedhofe neben meiner Mutter!«
»Reden Sie doch nicht so, Fräulein!« sagte Ratcliffe, »es hat schon manches Wild schußrecht gestanden, ohne getroffen zu werden, und mancher Advokat hat manchen durchgebracht, der weit Böseres auf dem Kerbholz hatte . . und den Sie haben, Fräulein, der Nichil Novit, der versteht's auch, den schlimmsten Fall zu wenden. Wer mit solchem Verteidiger versorgt ist, kann schon halb am Stricke baumeln und kommt doch davon. So ein feines Ding wie Sie, braucht sich ja nur ein bißchen herauszuputzen, und welchem Richter möchte es dann beikommen, ihr nur ein Härchen zu krümmen? Mit solchem alten Kerl wie mir, ist's freilich was anders . . der muß dran glauben, wenn er auch nur einen Floh geknickt hat!«
Diese seltsamen Trostesworte blieben ohne Antwort, denn die Schwestern waren so vertieft in ihren Schmerz, daß sie sich der Anwesenheit Ratcliffes kaum bewußt waren.
»Ach, Effie, Effie! Warum mußtest Du mir Deinen Zustand verheimlichen? Hab ich das um Dich verdient? . . Wenn Du mir bloß ein einziges Wort gesagt hättest, dann wäre all dieser Jammer nicht über uns gekommen!«
»Was hätte dadurch wieder gut werden können, Jeanie?« versetzte die Gefangene; »nein, Jeanie, nein! es war alles aus und vorbei, als ich meines Versprechens vergaß und des Blattes, das ich zum Zeichen dafür in die Bibel legte . . Da, sieh!« fuhr sie fort, nach dem heiligen Buch greifend, »die Stelle schlägt sich von selbst auf, mir mein schreckliches Urteil zu künden . . O, Jeanie, ein schrecklicher Spruch!«
Jeanie nahm das Buch auf und fand die Stelle im Buche Hiob: »Er hat meine Ehre mir ausgezogen und die Krone von meinem Haupte genommen. Er hat mich zerbrochen um und um und läßt mich gehen und hat ausgerissen meine Hoffnung wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich ergrimmet, und er achtet mich für seinen Feind.«
»Und ist der Spruch nicht wahr? Trifft er mich nicht zu recht?« klagte Effie . . »Ist mir die Krone nicht vom Haupte genommen? Ist mir nicht meine Ehre geraubt? . . Und was bin ich anders denn ein armer, vertrockneter Baum, an der Wurzel verdorben und achtlos hinausgeworfen auf die Landstraße, daß Menschen und Tiere ihn mit Füßen treten? Ach, als der Vater den kleinen Dornbusch aus unserm Garten riß und auf den Hof hinauswarf, wo er zertreten wurde . . das hübsche grüne Ding mit allen seinen Blüten, da hab ich nicht gedacht, daß es mit mir einmal auch so kommen würde!«
»O, hättest Du mir doch nur ein einziges Wort gesagt, Effie,« klagte Jeanie, »daß ich für Dich zeugen könnte, dann könnte Dir niemand ans Leben!«
»Und Du kannst es nicht?« fragte Effie, und in ihrer Stimme klang es wie ein stiller Vorwurf, denn das Leben bleibt dem Menschen auch dann lieb und wert, wenn es ihm als Bürde erscheint . . »Jeanie, wer hat Dir das gesagt?«
»Einer, der recht gut gewußt hat, was er sprach,« antwortete Jeanie, ausweichend.
»Wer? Sage es mir, Jeanie!« rief Effie aufspringend, »ich beschwöre Dich, Jeanie! Wer konnte solchen Anteil nehmen an mir, die doch verstoßen und verlassen ist? . . War es . . o, war es . .«
»Ei,« sagte Ratcliffe, »wozu quälen Sie die Arme so? . . Ich wette, es ist kein anderer gewesen als Robertson, und damals bei den Muschatsteinen hat er's Ihnen gesagt!«
»War er's?« rief Effie, noch dringlicher als zuvor, »Jeanie, war er's? war er's wirklich? . . Ja, er war's! er war's! Der Arme! Und wie schwer mag es ihm dabei um sein Herz gewesen sein! . . und dabei selbst in so schlimmer Gefahr, der arme Georg!«
»Effie,« rief Jeanie, fast unwillig: »Wie kannst Du von solchem Menschen so reden?« »Sollen wir denn unsern Feinden nicht vergeben?« sagte Effie, doch mit scheuem Blick und gedämpfter Stimme, denn ihr Gewissen flüsterte ihr zu, daß es doch andere Gefühle als christlicher Liebe seien, mit denen sie ihres Verführers gedachte, und daß es sündhaft von ihr sei, sie mit solchem Mantel zu decken.
»Und trotz allem, was Du seinetwegen gelitten, hängst Du ihm noch mit Liebe an?« fragte Jeanie.
»Ihm anhängen, mit Liebe?« wiederholte Effie; »hätte ich ihn nicht geliebt, wie selten ein Weib liebt, so säße ich nicht jetzt hier, hinter Schloß und Riegel . . und solche Liebe, wähnst Du, lasse sich vergessen? . . Nein, Jeanie, ein Baum läßt sich umhauen, aber nicht biegen . . Willst Du mir was zu liebe tun, Jeanie, dann sage mir, was er Dir sagte, und ob ihm die arme Effie leid tut oder nicht?«
»Was kann es helfen, darüber zu sprechen, Effie?« erwiderte Jeanie, »er hatte doch wahrlich genug mit sich zu tun, als daß er sich viel um andere hätte kümmern sollen.«
»Das ist nicht wahr, Jeanie, und wenn es eine Heilige redete,« rief Effie, und ihr altes heftiges Temperament kam zum Durchbruch; »Du kannst ja auch nicht wissen, wie ich, welcher Gefahr er sein Leben aussetzte, bloß um das meinige zu retten.« Da fiel ihr Blick auf Ratcliffe, und sie brach jäh ab.
»Das Mädel scheint sich, weiß, Gott! einzubilden,« rief Ratcliffe, wie vorhin grinsend, »es habe kein anderer Mensch Augen im Kopfe als sie! Hab ich den feinen Jungen nicht gesehen, wie er dabei war, ganz andre Leute als den Porteous aus dem Kasten zu holen? . . Brauchst mich gar so verwundert nicht anzustieren, Mädel,« rief er, »ich weiß noch ganz andre Dinge!«
»Gott, mein Gott!« schrie Effie und warf sich ihm zu Füßen, »so wißt Ihr auch, wo sie mein Kind haben, die Ruchlosen? . . Mein Kind, o Gott! mein Kind! das arme, unschuldige, hilflose Wesen! Fleisch von meinem Fleische, Blut von meinem Blute! . . O, wenn Ihr noch Anspruch erhebt auf himmlische Gnade, wenn Ihr den Segen eines unglücklichen Wesens nicht mißachtet . . dann sagt mir, Mann, was aus meinem Kinde geworden! wohin sie das Zeichen meiner Schande, das Wesen, das teilnahm an meinem Schmerz, an meinen Wehen, gebracht haben? . . Sagt es mir, wer es mir genommen hat, und was aus ihm geworden ist!«
»Nicht so stürmisch, Mädel,« rief der Schließer, indem er sich von den Händen freizumachen suchte, die ihn umklammert hielten, »nach so was mußt Du mich nicht fragen, sondern die Grete Murdockson, wenn Du es nicht schon selber weißt!«
Die Unglückliche, so jäh wieder aus ihrem wilden Hoffen gerissen, ließ die Hände von ihm und schlug, von Krämpfen geschüttelt, auf den Boden. Jeanie, die auch beim schwersten Herzeleid ihre klare Einsicht nicht verlor, die sich, so schwere Schläge sie auch trafen, nie übermannen ließ, widmete der Schwester auf der Stelle die liebevollste Pflege, während Ratcliffe rücksichtsvoll genug war, sich in den entlegensten Winkel zurückzuziehen. Effie erholte sich aber verhältnismäßig schnell und beschwor, sobald sie die Fähigkeit zur Sprache wiedergewonnen, Jeanie so ungestüm, ihr alles von der Zusammenkunft mit Robertson zu erzählen, daß Jeanie ihr nicht länger widerstehen konnte.
»Besinnst Du Dich noch, Effie,« sagte sie, »wie böse damals Deine Mutter war, als Du krank zu Bett lagst und ich Dir Milch gab, weil Du Durst hattest und weinend danach verlangtest? . . Damals warst Du noch Kind; jetzt aber, als erwachsenes Mädchen, solltest Du doch nicht nach Dingen begehren, die Dir schaden . . . Aber mag nun Gutes oder Böses daraus kommen, ich kann Dir auch heute noch nicht abschlagen, um was Du mich mit Tränen in den Augen bittest.«
Effie umschlang sie, küßte sie und flüsterte: »Ach, wüßtest Du, wie lange ich seinen Namen nicht mehr hörte, und wie wohl es mir tun wird, etwas von ihm zu hören, was mir von seiner Liebe und Güte erzählt . . Ach, Jeanie, Du kannst es nicht fassen, wie sehr ich mich danach sehne.«
Tief aufzeufzend berichtete nun Jeanie, sich so kurz fassend, wie möglich, von dem Auftritte, der sich zwischen Robertson und ihr abgespielt hatte. Die Schwester lauschte ihr mit verhaltenem Atem, keinen Blick von ihr wendend, ihr die Worte förmlich vom Munde lesend . . »Armer Mensch! Armer Georg!« waren die einzigen Ausrufe, mit denen sie, an besonders zum Herzen gehenden Stellen, die Erzählung unterbrach.
»So? Und dazu hat er geraten?« fragte sie, als Jeanie zu Ende war . .
Jeanie nickte.
»Und er hat Dich aufgefordert, dort etwas auszusagen, was mein junges Leben retten, könnte?«
»Ich solle einen Meineid schwören, verlangte er von mir.«
»Und Du hast ihm drauf geantwortet, daß Du nichts davon wissen möchtest, Dich zwischen mich und den Tod zu stellen, den ich leiden müsse und . . bin noch keine achtzehn Jahr?«
»Ich habe ihm gesagt, was ich ihm sagen mußte,« erwiderte Jeanie, geängstigt durch diese bittre Entgegnung Effies, »daß ich nicht wahr machen könne, was unwahr sei.«
»Was nennst Du unwahr?« rief Effie, wiederum in einer Anwandlung ihres früheren Temperaments, »Du kannst doch nicht glauben, Mädchen, daß eine Mutter ihr eignes Kind morden könne? . . Jeanie, ich und morden? . . mein Kind morden? . . Das Leben hätte ich dran gesetzt, ein Blinken seines Auges zu sehen!«
»Daß Du an solcher Tat so unschuldig bist wie das neugeborne Wesen selbst,« sagte Jeanie, »glaube ich, auch ohne daß Du es versicherst.«
»Daß Du mir soviel Gerechtigkeit antust, Jeanie,« versetzte Effie stolz, »erfüllt mich mit Freude . . Menschen von Deiner exemplarischen Frömmigkeit verfallen gern in den Fehler, ihre Mitmenschen aller Sünde für fähig zu halten.«
»Schwester, solche Worte habe ich nicht von Dir verdient . . . und nicht erwartet,« erwiderte Jeanie, schluchzend vor Schmerz, obwohl sie Effies Gemütszustande mitleidsvoll viel von der Ungerechtigkeit des Vorwurfs zu gute rechnete.
»Mag sein, Schwester,« erwiderte Effie; »aber Du bist mir böse, weil ich Robertson liebe, und doch, Jeanie! wie sollte ich ihn nicht lieben, dem ich doch mehr bin als Leben und Seligkeit? . . Hat er nicht eben erst, um mich zu befreien, sein Leben gewagt, indem er den Sturm auf das Gefängnis unternahm? . . Ach, wäre er an Deiner Stelle, dann weiß ich . . « Aber sie brach ab und blickte stumm vor sich hin.
»Effie, müßte ich bloß mein Leben wagen, Dich zu retten!« erwiderte Jeanie.
»Leicht gesagt, Jeanie,« rief Effie, »aber wer soll's Dir glauben, da Dir schon ein Wort für mich zuviel ist? Und mag das Wort wirklich unrechter Art sein, das Leben währt doch lange genug, um zu bereuen.«
»Solch unrechtes Wort, Effie, ist aber eine schwere Sünde, und um so schwerer, als sie mit Bedacht verübt wurde!«
»Es ist gut, Jeanie,« sagte Effie, »reden wir nicht weiter davon. Ich dachte nur, allzu stolzes Vorurteil sei auch eine Sünde? Aber spare Dir den Atem für den Katechismus; ich werde ja bald keinen mehr zu verschwenden haben, Schwester!«
»Mir will's aber auch nicht gefallen, das muß ich sagen,« bemerkte Ratcliffe, »daß ein Mädel soviel Lärm macht um lumpiger drei Worte willen, wenn ihrer Schwester damit geholfen weiden kann. Da hab ich's nicht so genau genommen, und wenn man mein Wort gelten ließe, mir sollt's nicht drauf ankommen, Zeugnis für das arme Ding abzulegen. Hab ich doch in England um einer Pulle Schnaps willen zu fünf verschiedenen Malen an der Bibel geleckt.«
»Seid ruhig, Schließer,« rief Effie, »kein Wort mehr! Es ist gut so, wie es ist . . Leb wohl, Schwester! Wir halten den Mann zu lange auf . . Du siehst ja, daß er wartet . . Einmal sehe ich Dich wohl noch, bevor . . «
Sie stockte, und Todesblässe färbte ihr Gesicht . .
»Effie, und so sollen wir scheiden? Du, angesichts Deiner letzten Stunden . . und . . Effie, sieh mich an und sprich, was Du von mir begehrst. Ach, mir ist, als müßte ich versuchen, alles zu tun, selbst was mir als schwere Sünde erscheint . . «
»Nein, Jeanie! Nein!« antwortete Effie, doch hörte man, wie schwer es ihr fiel – »ich bin jetzt ruhiger und gefaßter, und bei besserer Einsicht . . ich war ja nie auch nur halb so gut wie Du, Schwester; warum solltest Du sündigen um meinetwillen? Nein, nein! Du sollst es nicht, niemand soll es, um mich zu retten! Ich hätte in jener schlimmen Nacht aus dem Gefängnisse fliehen können mit jemand, der mit mir durch die ganze Welt gegangen wäre, der mich geliebt und beschirmt hätte als sein zweites Ich! Aber ich sagte ihm, als er mich zur Flucht aufforderte: Besser, auch das Leben geht dahin, nachdem Ruf und Ehre hin sind! Die lange Gefangenschaft hat mir allen Mut, alles Vertrauen genommen; es kommen Augenblicke über mich, in denen ich verzweifeln könnte . . O, Schwester, dann wird mir zu Mute, wie damals, als ich zu Hause im Fieber lag, aber nicht mehr feurige Augen von Wölfen sind es, die mich umschwirren, auch keine von den Bullenbeißern der alten Butlern, sondern ein hohes, schwarzes Gerüst steigt vor mich auf . . . und greuliche Kerle führen mich hinauf . . und tausend Augen stieren mich an, und tausend Stimmen fragen dumpf, ob es auch wirklich die Effie sei vom alten Deans, die Georg Robertson seine Lilie von Sankt-Leonard genannt habe? . . Und dann grinsen sie mich an . . und aus allen Ecken und Winkeln stiert mich ihr Gesicht an, der alten Zigeunerin Gesicht . . der Murdockson ihr Gesicht . . und ganz so, wie es aussah in jenem schrecklichen Augenblick, als sie mir sagte, ich hätte mein Kind zum letzten Male gesehen . . Jeanie, Jeanie! jage sie weg; sie hat ein zu gräßliches Gesicht!« und als könne sie den Anblick nicht länger ertragen, schlug sie die Hände vor die Augen.
Noch ein paar Stunden verweilte Jeanie bei der Schwester, eifrig auf ihre Reden achtend, noch immer hoffend, etwas daraus entnehmen zu können, was sie entsühnen würde . . . Aber Effie hatte nichts weiter zu sagen, als was sie schon bei den Verhören gesagt hatte . . »man will mir nicht glauben,« schloß sie, »aber ich weiß weiter nichts!«
Ratcliffe hatte lange gezögert, den Schwestern zu sagen, daß die Trennungsstunde für sie geschlagen habe; daß die beiden Anwälte, Novit und Langtale, mit der Gefangenen noch einmal reden müßten, und daß besonders Langtale drauf brenne, in die Zelle geführt zu werden, denn er wäre immer schnell bei der Hand, wenn es »was Hübsches« zu sehen gäbe . . . ob im Stockhause oder wo anders.
Noch manche Träne floß, und die Umarmungen wollten kein Ende nehmen; aber endlich mußte Jeanie den Fuß wieder über die Schwelle der unheimlichen Stätte zurücksetzen; und gleich darauf hörte sie die Riegel knarren, die sie von der teuren Schwester schieden . . Die Art, wie Ratcliffe sich jetzt benommen, hatte sie halb und halb mit ihm ausgesöhnt; aber sie erstaunte trotzdem nicht wenig, als er das Trinkgeld, das sie ihm reichen wollte, ausschlug; auch als sie sagte, daß er es, wenn er es nicht für sich nehmen wolle, zur Erleichterung von Effies Lage verwenden solle; er wäre, sagte er, kein Unmensch gewesen, als er noch auf bösen Wegen wandelte, und seit er hier sei, tue er gern, was recht und vernünftig sei . . »Behalten Sie nur Ihr Geld,« sagte er, »was in meiner Macht steht, tue ich schon für die Arme . . aber ich denke, auch Sie werden sich noch einmal überlegen, ob Sie tun wollen, was sie von Ihnen erbat, und wenn ich meine Meinung sagen darf, so dürften Sie, wenn Sie dem Gericht eine Nase drehten, weder vor der Welt noch vor sich selbst an Ansehen einbüßen. Aber, gleichviel, machen Sie das, wie es Ihnen selbst am richtigsten erscheint. Ich werde zusehen, ihr nach Tisch ein bißchen Schlaf zu besorgen; denn in der Nacht, das kenne ich, schließt sie kein Auge. In der Nacht vorm Urteilsspruch tut niemand ein Auge zu; aber in der letzten Nacht, bevor's zum Galgen geht, schläft jeder wie 'ne Ratte . . und das erklärt sich auch, denn das Schlimmste nimmt ein anderes Gesicht an, wenn man weiß, wie es damit wird . . Und ich hab's immer gesagt: Lieber herunter mit dem Finger, als ihn an der Hand behalten, wenn er wackelig wird.«