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Zwanzigstes Kapitel

»Euphemia Deans,« sprach der Oberrichter mit einer Stimme, in der sich Würde und Milde vereinigten, »stehe auf und vernimm die Anklage, die gegen Dich von dem königlichen Gericht geführt wird.«

Die Unglückliche, von dem wilden Lärme um sie her noch ganz betäubt, blickte verstört auf die Menge von Gesichtern, die von der Galerie bis zum Parterre des Saales eine Art lebendigen Teppichs bildeten, und leistete, halb bewußtlos, einem Befehle Folge, der ihr wie die Posaune des jüngsten Gerichts in die Ohren dröhnte.

»Macht Euch das Haar aus dem Gesicht!« raunte ihr einer der Frone zu, denn die langen, dichten Locken, die sie mit dem Netz oder Bande, dem Haarschmuck der Jungfrau in Schottland, nicht mehr zu bergen wagte und doch wieder mit der Haube einer verheirateten Frau nicht bedecken durfte, fluteten ihr lose über das Antlitz, die Züge desselben fast verhüllend. Mit hastiger, zitternder Gebärde strich Effie die Locken zurück, der im Saale versammelten Menge, einen einzigen ausgenommen, ein Antlitz zeigend, das, trotz seiner Blässe, trotz all dem Schmerze, so wunderbar lieblich war, daß es einen allgemeinen Schrei des Mitleids und der Teilnahme hervorrief. Von der Unglücklichen schien durch diese Kundgabe von Mitgefühl die starre Furcht genommen zu werden, die bisher dumpf auf ihr gelastet hatte, anderseits aber wurde ihr hierdurch alles Schreckliche ihrer Lage in verstärktem Maße zum Bewußtsein geführt. Niedergedrückt von Scham und Verzweiflung, schlug sie die Augen, die eben noch wild umherrollten, zu Boden; über ihre aschfahlen Wangen flog, sich allmählich verstärkend, zuletzt Hals und Schläfe mit tiefem Purpur bedeckend, eine wilde Röte, die auch nicht schwand, als sie mit den zierlichen und langen, feinen Fingern das Gesicht verdeckte.

Alle sahen tief ergriffen diesen Wechsel der Empfindungen auf ihrem schönen Antlitz, bloß einer nicht, bloß der Vater nicht! Von dem Pfeiler verdeckt, keinem sichtbar, und trotzdem die Augen fest auf den Boden heftend, wie wenn es ihn dränge, sich alle Möglichkeit zu rauben, der Schande seines Hauses Augenzeuge zu werden, saß er da, starr und stumm . . »Icabod!« klagte seine Seele, »meine Herrlichkeit ist dahin!«

Während diese Gedanken das Gemüt des Vaters erfüllten, wurde der Tochter die Anklage vorgelesen und die Frage gestellt auf Schuldig oder Nichtschuldig?

»Nichtschuldig am Tode meines armen Kindes,« antwortete Effie in so schmerzzerrissenem Tone, daß ein Beben durch den Gerichtssaal glitt . .

Der Lord-Oberrichter richtete nun an die beiden Anwälte die Aufforderung, ihre Beweise für und wider die Anklage vorzutragen. Zuerst nahm der Kronanwalt das Wort und führte aus, daß er sowohl durch Zeugen wie durch das Bekenntnis der Angeklagten beweisen werde, daß dieselbe dem Gesetze verfallen sei: denn erstlich sei die Verheimlichung der Schwangerschaft von der Angeklagten nicht bestritten worden, und zweitens habe sie bekannt, einem Knaben das Leben gegeben zu haben; die dabei von ihr selbst angegebenen Umstände ließen es aber als nur allzu glaublich erscheinen, daß das Kind von ihren Händen, oder doch wenigstens mit ihrem Wissen und Willen vom Leben zum Tode gebracht worden sei; es sei zudem nach dem Wortlaute des Gesetzes gar nicht nötig, von dem Morde oder darüber, daß die Angeklagte Kenntnis von einem solchen besessen habe, Beweise zu erbringen; es reiche schon der Umstand, daß das Kind nicht bei ihr gefunden worden sei, vollauf hin, sie der drakonischen, aber unumgänglich notwendigen Strenge des Gesetzes zu unterwerfen, nach welchem die Verheimlichung der Schwangerschaft und die Versäumnis, in der Stunde der Not angemessenen Beistand zu beschaffen, als Bedingungen für vorsätzlichen Mord aufzufassen und als solcher zu bestrafen seien. Falls mithin die Angeklagte nicht den Beweis erbringen könne, daß ihr Kind noch am Leben oder eines natürlichen Todes gestorben sei, so sei sie dem Gesetz verfallen und müsse den Tod als Mörderin erleiden.

Hierauf nahm der gerichtliche Anwalt der Angeklagten das Wort. Er wolle, führte er aus, seinem Kollegen nicht widersprechen in der Berechtigung, die Zuständigkeit des Gesetzes für den zur Verhandlung stehenden Fall zu fordern, aber er hoffe, durch seine Beweisführung mehrere Umstände aufzudecken, die den wider seine Klientin erhobenen Anklagen den Boden zu entziehen geeignet seien. Seine Klientin sei in den strengsten Grundsätzen der Religion erzogen worden als Tochter eines würdigen, gewissenhaften Mannes, der in schlimmen Zeiten für seine religiöse Ueberzeugung schwer, aber standhaft gelitten habe.

David Deans zuckte, als er sich derart in die Verhandlung einbezogen sah, krampfhaft zusammen, versank aber gleich wieder in seine bisherige Starrheit und verhüllte das Gesicht mit den Händen, lauschte aber gespannt jedem weiteren Worte.

Der Anwalt, bemüht, die gute Meinung des Gerichts für sich zu gewinnen, fuhr er fort: »Unsre Ansichten über die Puritaner und ihre Grundsätze mögen noch so ungünstig sein« – hier seufzte Deans schwer – »so wird ihnen doch niemand absprechen wollen, daß sie sich einer gesunden, ja strengen Moral befleißigen, auch das weitere Verdienst wird ihnen jeder lassen müssen, daß sie ihre Kinder in der rechten Gottesfurcht erziehen . . Und doch ist es gerade die Tochter eines solchen Mannes, die man, auf Vermutungen hin, ohne sichre Beweise, eines Verbrechens anklagt, das sich wohl von einer Heidin, nicht aber einer gläubigen Christin erwarten läßt. Freilich muß zugegeben werden,« fuhr er nach einer kurzen Pause, mit verstärkter Ueberzeugungsgewalt, fort: »daß alle Strenge der Erziehung die Angeklagte nicht vor Fallstricken und Irrwegen hat bewahren können; aber sie ist doch nur einer unbedachtsamen Neigung zum Opfer gefallen, der Neigung zu einem jungen Menschen, der, wie ich ermittelt habe, zwar einen sehr häßlichen, ja gefährlichen Charakter besitzt, aber – was zur Entschuldigung der Angeklagten nicht ungesagt bleiben darf, – ein Mann von seltener Schönheit, dabei höchst einnehmendem Wesen ist. Dieser Mann hat meine Klientin durch ein Heiratsversprechen getäuscht, vielleicht nicht absichtlich; denn wäre er nicht zur selben Zeit um eines Verbrechens willen, auf dem hohe Strafe steht, in Haft genommen worden, so dürfte kaum ein Grund zu der Annahme berechtigen, daß er sich mit der Absicht getragen habe, sein Versprechen nicht zu halten; aber er hat sich eines weitern schweren Verbrechens schuldig gemacht, eines durch Anstiftung von Aufruhr erschwerten Kapitalverbrechens . . und ich kann mir jede weitere Auseinandersetzung hierüber ersparen, wenn ich dem Gericht und dem hier versammelten Auditorium offenbare, daß kein anderer der Verführer dieses armen Mädchens ist als eben jener berüchtigte Georg Robertson, der aus dem Edinburger Kerker den ehemaligen Hauptmann der städtischen Bürgergarde, John Porteous, gewaltsam entführt und durch Volksgewalt vom Leben zum Tode gebracht hat.«

Hier unterbrach der Lord-Oberrichter den Anwalt mit dem Bemerken, daß er von dem eigentlichen Thema, das den Gerichtshof zu befassen habe, zu weit abweiche, um auf die Aufmerksamkeit desselben Anspruch erheben zu dürfen.

Der Anwalt fuhr nach einer tiefen Verbeugung fort, er habe es bloß darum für notwendig erachtet, Namen und Verhältnisse dieses Robertson zu erwähnen, weil hierdurch begreiflich würde, weshalb sich seine Klientin über ihren Zustand nicht habe aussprechen wollen. Eben weil sie immer und immer gehofft habe, ihr Verführer werde ihren Ruf wiederherstellen durch die versprochene Heirat, – wozu es ihm, ihrer Meinung nach, weder an der nötigen Macht noch am guten Willen fehle – habe sie sich nicht entschließen können, ihren Angehörigen reinen Wein einzuschenken. »Aber noch immer wird mir« rief er, »so hoffe ich, der Beweis gelingen, daß sie einer durchaus berufenen und angemessenen Person die schwere Lage, in der sie sich befand, rechtzeitig offenbart hat . . «

»Wenn es dem Herrn Verteidiger gelingt,« unterbrach ihn zum andern Male der Lord-Oberrichter, »Klarheit über diesen Punkt zu schaffen . . . «

»Ich hoffe, Eure Herrlichkeit, daß mir dies gelingen werde, daß ich nicht bloß meiner Klientin zu nützen, sondern ein hohes Gericht der schwersten Pflicht seines Amtes zu überheben vermag. Ich bin in der Lage, durch einen vorhandenen Brief zu erweisen, daß der Verführer des Mädchens, Georg Robertson, aus seinem Kerker, wahrscheinlich schon mit Fluchtgedanken befaßt, die durch den Beistand seines Kameraden, auch verwirklicht wurden, bemüht gewesen ist, sich die Gewalt über das Gemüt des unglücklichen Mädchens zu sichern und dessen weitere Schritte im Leben zu lenken. Durch eben diesen Brief ist das Mädchen bestimmt worden, den bessern Weg, den sie einschlagen wollte, wieder aufzugeben und sich durch den schlimmen Menschen zu einer jener verworfenen Kreaturen führen zu lassen, die sich, zur Schande unserer Polizei sei es gesagt, noch immer in unheimlichen Schlupfwinkeln unsrer Vorstädte herumtreiben. In einem solchen Schlupfwinkel hat die Angeklagte, auf sein Geheiß, ihre Niederkunft abgewartet; dort hat sie einem Knaben das Leben gegeben; dort ist sie vom Wochenbettfieber befallen wurden . . und während sie bewußtlos darniederlag, hat jene schändliche Kreatur ihr das Kind genommen; ob sie es nur geraubt oder ob sie es umgebracht hat . . wer vermag es zu sagen?«

Ein gellender Schrei unterbrach die Rede des Anwalts . . Effie hatte ihn ausgestoßen, und nur mit Mühe vermochten die neben ihr stehenden Frone, sie zu beruhigen . . Der Anwalt aber benutzte den Zwischenfall zu einem ergreifenden Abschluß seiner Rede . . . »Meine Herren Richter und Geschworenen! Aus diesem herzzerreißenden Aufschrei spricht die Beredsamkeit eines Mutterherzens schärfer und eindringlicher, als nüchterne Anwaltsworte es vermögen . . Rahel weint um ihre Kinder! Die Natur selbst gibt Zeugnis für die Tiefe der mütterlichen Empfindungen der Angeschuldigten, und meine Lippen sollen solch hehre Verteidigung durch kein Wort, durch keine Silbe entweihen!«

»Hat man je so was gehört, Mylord?« fragte Saddletree den Laird Dumbiedike, als der Anwalt geschlossen hatte . . . »Was für ein Faden läßt sich aus einem kleinen Knäuel spinnen! Schwerenot! er weiß ja kein Tüttelchen mehr als in der protokollierten Aussage steht . . Und die Vermutung, Jeanie werde über die Situation ihrer Schwester viel aussagen können, steht doch auf gar schwachen Füßen! . . Es ist wirklich ein schreiendes Unrecht von meinem Vater, daß er mich nicht hat studieren lassen . . Aber, still! das Gericht will sich über die Zulänglichkeit der Verteidigung aussprechen.«

Und so geschah es . . Nach kurzer Beratung verkündete der Lord-Oberrichter, daß, wenn der Verteidigung der Beweis gelänge, daß die Angeklagte ihre Schwester rechtzeitig über ihren Zustand unterrichtet habe, von weiterer Verfolgung derselben Abstand genommen werden müsse, da kein Schuld-Delikt im Sinne des hier zuständigen Gesetzesparagraphen mehr vorläge, daß sodann Klage und Verteidigung lediglich den Geschworenen zur Kenntnis und letzten Entscheidung vorzulegen seien, die aber nicht anders als auf »unschuldig« lauten werde.


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