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Sechzehntes Kapitel.

Außer sich vor Schreck, sah Jeanie Deans die Männer, die im nächtlichen Dunkel aufgetaucht waren, hinter dem Unbekannten herrennen, für den sie mit einem Mal, ohne sich den Grund erklären zu können, eine gewisse Sympathie fühlte. Einer von den Männern, Sharpitlaw, trat dicht vor sie hin und fuhr sie an:

»Du bist Jeanie Deans und meine Gefangene. Ich laß Dich aber laufen, wenn Du mir sagst, wohin sich der Patron gewandt hat, der bei Dir war.«

»Das weiß ich ja nicht, Herr,« antwortete das geängstigte Mädchen.

»Aber mit wem Du Dich mitternachts auf den Bergen unterhältst, weißt Du? He?«

»Nein, Herr, ich weiß es nicht,« sagte Jeanie wieder, in ihrer Verwirrung zum Glück außer stande, den versteckten Sinn der Frage zu verstehen.

»Na, Dein Gedächtnis wird sich schon schärfen lassen,« rief Sharpitlaw, Ratcliffe auf sie zuschiebend, während er sich selbst hinter Robertson her machte, noch immer in der Hoffnung, sich seiner bemächtigen zu können, und mit einer Gewandtheit und Schnelligkeit, die man ihm bei seinem Alter und seiner körperlichen Beschaffenheit kaum zugetraut hätte, über die Felsen kletterte.

Binnen wenigen Minuten waren die Häscher verschwunden, und nur Halloh-Rufe, von den Bergen herüberschallend, kündeten noch von ihrer Gegenwart. Allein mit einem Menschen, dessen Aeußeres nicht eben zu seinen gunsten sprach, stand Jeanie in der finstern, nur matt von dem Monde erhellten Nacht.

»Recht schön heute, mein feines Kind,« sagte Ratcliffe, als es in der Ferne still geworden war, in dem kalten ironischen Tone, den sich lasterhafte Menschen immer aneignen, wenn ihnen die Sünde zur Gewohnheit wird . . »muß sich nett scharmieren lassen?« Er versuchte, den Arm um den Hals des Mädchens zu legen, sie entwand sich ihm aber . . »Na, nicht so spröde!« fuhr er fort, »zum Nüsseknacken treffen sich doch Bursche mit Dirnen um Mitternacht nicht bei den Muschatsteinen?«

»Ach, Mann,« flehte Jeanie, »wer Ihr auch seid, habt Erbarmen mit einem armen Geschöpfe, das vor Entsetzen fast von Sinnen ist.«

»Kind, Du bist ja allerliebst, bloß darfst Du nicht so eigensinnig sein! Sieh mal, ich hatte mir vorgenommen, wieder ein ehrlicher Kerl zu werden, und da fällt's dem Teufel ein, mir erst einen Rechtsverdreher und nachher ein Frauenzimmer in die Quere zu schieben . . Ich will Dir was sagen, Jeanie: die Spitzel sind jetzt von dieser Felsenseite weg . . komm mit mir mit! ich will Dich in einen Winkel führen, wo Dich alle Polizisten von Schottland nicht finden sollen. Von dort wollen wir Robertson sagen lassen, daß er mit uns nach Yorkshire hinüber zieht. Dort gibt's ein altes Stämmchen von Kameraden, mit denen sich's gut arbeiten läßt . . Der Esel von Sharpitlaw mag uns dann hinterher pfeifen!«

Glücklicherweise fand Jeanie, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte, Mut und Geistesgegenwart wieder: sie erkannte, in welcher Gefahr sie sich diesem Menschen gegenüber befand, der nicht nur Schurke von Haus aus war, sondern sich aus Aerger darüber, daß ihn Sharpitlaw trotz alles Widerstrebens doch zu dieser Expedition nötigte, einen derben Rausch angetrunken hatte. Um ihn sich vom Halse zu schaffen, flüsterte sie:

»Sprecht bloß nicht so laut! Er ist dort oben.«

»Wer? doch nicht Robertson?« rief Ratcliffe gespannt.

»Ja, dort oben!« antwortete sie, auf die Ruinen der Kapelle zeigend.

»Soll mich der –« rief Ratcliffe; »das laß ich mir nicht aus der Nase gehen. Warte hier!«

Wie besessen rannte er die Höhe hinauf, während Jeanie in entgegengesetzter Richtung floh, den nächsten Pfad entlang, der sie nach Hause führte. Sie hatte nicht umsonst in ihren Kinderjahren die Herde gehütet, sondern dabei laufen und springen gelernt, über Stock und Stein, hinter ihren oft flüchtigen Ziegen her; und nicht leicht tat es ihr jemand an Behendigkeit gleich.

Gleichsam im Fluge hatte sie den Weg zwischen ihres Vaters Häuschen und den Muschatsteinen zurückgelegt . . das Tor aufklinken und wieder zuschlagen, ein schweres Hausgerät zur besseren Sicherung davor schieben, behutsam bis zur Tür der Schlafkammer schleichen, um zu horchen, ob der Vater durch ihre Heimkehr geweckt worden, war das Werk eines Augenblicks.

Er hatte nichts gemerkt, und doch schlief er nicht, mochte wohl auch kaum viel geschlafen haben, sondern lag auf den Knieen und betete. Deutlich vernahm sie die Worte: »Und das andere Kind, das Du mir gegeben zum Trost und zum Stecken und Stab für mein Alter . . möge es lange leben auf Erden, wie Du verheißen hast denen, die Vater und Mutter ehren. Möge der Segen der Verheißung und Vergeltung vielfältig auf ihr ruhen! Bewahre sie in dem Schatten der Nacht und beim Anbruch des neuen Lichts, daß alle Lande umher erkennen, daß Du Dein Angesicht nicht gänzlich denen verbirgst, die Dich mit Wahrheit und Aufrichtigkeit suchen.«

Jeanie zog sich, gestärkt durch den Gedanken, daß, während Gefahr ihrem Haupte drohte, das Gebet des Gerechten »ein Helm des Heils gewesen sei ihrem Haupte«, mit der Zuversicht, den Schutz des Himmels zu besitzen, so lange sie seiner würdig bleibe, in ihr Kämmerchen zurück. In dieser erhöhten Seelenstimmung durchzuckte ein unklarer Gedanke, ihren Geist, daß ihre Schwester, da sie gereinigt dastehe von dem ihr zur Last gelegten unnatürlichen Verbrechen, noch zu retten sein müsse . . Dieser jähe Gedanke wirkte, wie sie später oft sagte, wenn sie dieser Zeit gedacht, wie ein Lichtstrahl auf stürmischer See, und, wenngleich er ebenso schnell verschwand, wie er sich zeigte, so gab er ihr doch ein Gefühl von Ruhe, wie sie es schon tagelang nicht mehr gekannt hatte . . und die Ueberzeugung, sie sei zum Werkzeug ausersehen, die Schwester zu retten, zog ein in ihre Seele. Gott für den gewährten Schutz inbrünstig dankend, suchte sie ihr Lager auf und schlief, trotz der schweren Erschütterungen, die sie erlitten, ruhig und fest.

Ratcliffe war wie ein vom Jäger gehetztes Wild zu den Ruinen hinausgestürzt, wo Robertson, nach Jeanies Rede, noch weilen sollte. Ob er ihm zur Flucht verhelfen oder ihn den Häschern ausliefern wollte, damit brauchen wir uns hier nicht zu befassen. Vielleicht war er sich hierüber selbst noch nicht klar, sondern dachte, die Umstände entscheiden zu lassen. Es blieb ihm aber keine lange Wahl, denn kaum hatte er den Fuß zwischen die Ruinen gesetzt, als ihm ein Pistol entgegengehalten wurde und eine rauhe Stimme ihn im Namen des Königs aufforderte, sich zu ergeben.

Verdutzt rief Ratcliffe: »Was? Ihr seid hier, Herr Sharpitlaw?« – »Was, Ihr? Ratcliffe?« rief der andere, über den Fehlschlag seines Unternehmens vor Aerger außer sich . . »Weshalb habt Ihr die Dirne im Stiche gelassen?«

»Sie sagte, Robertson sei hier oben, und weil ich Euer Gnaden in den Bergen vermutete, bin ich selbst heraufgerannt, ihn zu fassen.«

»So hätten wir uns umsonst bemüht?« rief Sharpitlaw; »denn daß wir ihn heute noch fassen, ist ausgeschlossen. Aber in eine Bohnenhülse müßte er sich verkriechen, wenn ich ihn nicht auf schottischem Grund und Boden erwischen sollte . . . Ruft die andern her!«

Ratcliffe holte sie herbei, was ihm nicht sonderlich schwer fiel, denn keiner davon verspürte Lust, einem so verwegenen Menschen wie Robertson Auge in Auge gegenüber zu treten.

»Und die beiden Frauenzimmer?« fragte Sharpitlaw, »wo sind die hingeraten?«

»Die werden sich wohl mitsammen auf die Socken gemacht haben,« antwortete Ratcliffe und brummte vor sich hin:

»Wo ist mein Bräutchen geblieben?
Fort – und entfloh'n!«

»Will man was der Quere gehen sehen, braucht bloß ein Weibsbild dabei zu sein,« sagte Sharpitlaw, der, wie alle seines Zeichens, gegen das schöne Geschlecht ein Aber hatte; »wie konnte ich bloß so dumm sein, mir einzubilden, daß ich was ausrichten würde, wenn ihrer zwei im Spiele sind? . . Gut wenigstens, daß wir wissen, wo wir die lieben Kinderchen zu suchen haben!«

Es blieb ihm nichts übrig, als seinen kleinen Trupp nach der Hauptstadt zurückzuführen, und das tat er, wenn auch mit der Miene eines geschlagenen Feldherrn. Am Morgen mußte er dem diensttuenden Ratsherrn Bericht erstatten, und zufällig traf es sich, daß es noch derselbe war, der tags vorher Reuben Butler vernommen hatte: ein bei der Bürgerschaft sehr angesehener Mann, von gesundem Sinne, mit einem tüchtigen Schatze von Kenntnissen und im Rufe, sein Amt ehrlich und gewissenhaft zu führen.

Er war kaum in das Amtszimmer eingetreten, als ihm ein Brief überreicht wurde . . »Für den Ratsherrn Middleburgh. – Eiligst!« Er brach ihn auf und las:

»Herr Rat! Sie sind mir bekannt als Mann von Verstand und Gefühl, auch als Mann, der, und sei es auf Teufels Begehren, Gott dem Herrn gern dient. Darum hoffe und erwarte ich, daß Sie mein Zeugnis gelten lassen werden, wenn ich auch durch die Unterzeichnung dieses Schreibens mich des Anteils an einer Handlung für schuldig bekenne, die ich, zu andrer Zeit und an anderm Orte, mich weder scheuen würde, zu gestehen, noch zu beschönigen. Der Geistliche Butler ist unschuldig. Er ist zur Anwesenheit bei der betreffenden Handlung gezwungen worden. Sie gutzuheißen, hat es ihm an dem nötigen Schwunge gefehlt. Er hat es sich vielmehr angelegen sein lassen, sie uns auszureden. Indessen wende ich mich nicht an Sie, um diesen Mann weiß zu waschen. Mich interessiert vielmehr ein Mädchen, das in Ihren Kerkern schmachtet, dem Schwert eines grausamen Gesetzes verfallen, das jahrzehntelang im Aktenschranke gemodert hat und nun hervorgesucht wird, das schönste, lieblichste Geschöpf zu treffen, das je in einem Kerker schmachtete . . . ihre Schwester, Herr, kennt ihre Schuld, denn ihr hat sie es gesagt, daß sie von einem Schurken hintergangen und betrogen wurde . . O, daß der Himmel

Zuchtruten legen möcht in jede Manneshand,
Den Bösewicht zu peitschen durch das Land . . .

Herr, ich bin außer mir . . ich bin von Sinnen! . . Aber diese Schwester, diese Jeanie Deans, ist eine verstockte Puritanerin, in Aberglauben versunken und in allem, was sie denkt und tut, mit Bibel und Katechismus bei der Hand wie ihre ganze Sekte . . und deshalb beschwöre ich Sie, Herr, ihr recht eindringlich vorzuhalten, daß das Leben ihrer Schwester von ihrem Zeugnisse abhängt . . auch, die Angeklagte nicht ohne weiteres für schuldig zu halten, wenn ihre Schwester sich weigern sollte, Zeugnis abzulegen; noch weniger lassen Sie sich beikommen, Herr, sie dem Schafott zu überantworten . . Denken Sie daran, wie grimmig Wilsons Hinrichtung gerächt wurde . . und seine Rächer sind noch am Leben, sie können und werden auch das Mädchen nicht ungerochen lassen, wenn sie zu Unrecht vom Leben zum Tode gebracht werden sollte . . Ich wiederhole, vergessen Sie den Hauptmann Porteous nicht . . und verschließe niemand sich dem gutgemeinten Rate, den hiermit gibt einer von den Porteous-Mördern.«

Der Ratsherr las den Brief ein paarmal. Zuerst erschien er ihm als das Werk eines Irrsinnigen, wozu ihn vor allem die zwei eingestreuten Verszeilen bewogen. Nachher aber kam es ihm vor, als sei der Brief mehr ein Erguß, wenn auch seltsamer Art, eines Uebermaßes gereizter Leidenschaft.

»Das Gesetz ist wirklich streng und grausam,« sagte er, »und wenn es nach mir ginge, sollte es auf das Mädchen buchstäbliche Anwendung nicht finden; kann ja doch das Kind, während die Mutter bewußtlos lag, weggeschafft worden sein; kann es doch aus Mangel an Nahrung eingegangen sein, die ihm die Mutter in ihrem qualvollen, verzweifelten Gemütszustande hat nicht reichen können! Und doch wird sich die Hinrichtung nicht abwenden lassen, sofern die Aermste nicht dem Gesetzeslaute entrückt werden kann . . Das Verbrechen ist zu oft verübt worden, und ein warnendes Exempel unumgänglich.«

»Wenn aber die andre, die Schwester,« meinte der Stadtschreiber, »aussagt, sie sei von der Angeklagten über ihren Zustand unterrichtet worden ?«

»Dann wäre sie gerettet,« antwortete der Ratsherr; »nun, ich will nächster Tage mal zu dem alten Deans hinaus gehen und mit ihm und seiner andern Tochter reden; ihn kenne ich freilich als einen so zähen Presbyterianer, daß er eher Kind und Kindeskind zu Grunde gehen ließe, als sich in neue, seiner Meinung nach sündhafte Bräuche fügte, und dazu rechnet er sicher auch die Eidespflicht. Vielleicht mildert das Schicksal des eignen Kindes die starre Denkweise . . Wie gesagt, wenn mir der Porteous-Prozeß ein wenig Luft macht, will ich nach Sankt-Leonard hinaus, Vater und Tochter werden dann zugänglicher und einsichtsvoller sein, als wenn sie unvorbereitet eine Vorladung bekommen.«

»Butler soll noch im Gefängnisse bleiben?« fragte der Stadtschreiber.

»Vorläufig . . Ich hoffe aber, ihn bald auf Bürgschaft entlassen zu können.«

»Halten Sie etwas von dem verrückten Schreiben?«

»Wenig. . und doch muß ich sagen, es macht Eindruck . . mir scheint es von einem Menschen geschrieben, der durch maßlose Leidenschaft oder das Bewußtsein einer schweren Schuld alle Herrschaft über sich verloren hat.«

»Mir kommt es vor, als sei es von einem wandernden Komödianten verfaßt, der mit seiner ganzen Bande gehängt zu werden verdiente . . echtes Bühnen-Strohfeuer!«

»Hm, so barbarisch, eine ganze Bande hängen zu lassen, bin ich doch nicht, lieber Stadtschreiber . . Um aber auf unsern Geistlichen zurückzukommen, so haben die Erkundigungen ergeben, daß er sich eines vorzüglichen Rufes erfreut und erst vorgestern in die Stadt gekommen ist, also in die Pläne der Aufrührer kaum verwickelt gewesen sein kann; daß er ihnen aber sollte so plötzlich beigetreten sein, ist doch unwahrscheinlich.«

»Dagegen läßt sich immerhin geltend machen, daß Feuer auch durch Funken entsteht . . Habe ich doch selbst einen Prediger gekannt, rechtlich und ruhig, wie nur einer im Kirchspiel, den die bloßen Worte Abschwörungsformel und Toleranz so in Grimm brachten, daß er Haus und Hof verließ und sich der ärgsten Pöbelrotte anschloß, die . . . «

»Nun, für so entzündlichen Gemüts halte ich Butlern nicht!« unterbrach ihn der Ratsherr, »ich glaube, wir brauchen uns in dieser Hinsicht nicht zu sorgen . . Befassen wir uns mit den anderen Ressortsachen!«

Aber sie kamen nicht dazu, denn im nämlichen Augenblick erzwang sich eine alte Frau aus den niederen Ständen, laut keifend, den Weg zum Verhandlungszimmer.

»Was ich hier will?« schrie sie trotzig; »mein Kind will ich, weiter nichts von Euch, und wenn Ihr Euch noch so vornehm habt!« In sich hinein murmelte sie ingrimmig: »Gnädiger Lord und Euer Gnaden, und wer weiß mit was noch soll man ihnen aufwarten, dem . . Pack! aber was Rechtes ist doch nicht drunter!« . . Zu dem Ratsherrn sich wendend, rief sie: »Euer Gnaden, mein Kind, mein armes, blödes Kind!« und wieder murmelte sie sich in sich hinein: »Schöner Kerl, dieser Herr Rat und Euer Gnaden . . kann mich noch gut auf die Zeit besinnen, wo er mit ein bißchen weniger auch zufrieden gewesen wäre, . . der Schiffersjunge!«

»Sagt uns, was Euch herführt, Frau,« sagte der Ratsherr, »aber stört die Verhandlungen nicht!«

»Das heißt soviel, als: schert Euch zum Geier! . . . Aber,« rief sie mit kreischender Stimme, »ich sage Euch, mein Kind will ich heraushaben! Ich dächte, das wäre deutlich genug!«

»Wer seid Ihr, Frau, und wer ist Euer Kind?«

»Wer ich bin? Ei, die Grete Murdockson, wer sonst? und wer soll mein Kind anders sein als die Magdalene Murdockson? . . Eure Schergen kennen uns, haben sie uns doch oft genug die paar Lumpen vom Leibe und das bißchen Kleingeld aus den Taschen gerissen, wenn sie uns in den Käfig schleppten, um uns wieder mal auf Wasser und Brot zu setzen!«

»Wer ist die Frau?« wandte Rat Middelburgh sich an einen der in der Stube befindlichen Frone.

»Na, eine von der sittsamen Sorte nicht gerade,« antwortete der Fron, indem er unter Lachen die Achsel zuckte.

»So? Du erfrechst Dich, über unsereinen herzuziehen?« erwiderte die keifige Alte, deren Augen wie wildes Feuer sprühten . . . »Wenn ich Dich draußen hätte, solltest Du meine zehn Finger flugs in Deiner Schelmenfratze dafür sehen!« Dabei streckte sie die Fäuste dem Fron entgegen und zischte wie eine Schlange.

Dem Ratsherrn riß endlich die Geduld . . »Was hat Sie hier zu suchen?« rief er barsch, »Sie mag ihr Anliegen sagen und dann gehen!«

»Mein Anliegen?« schrie die Alte, »Ihr wollt sagen, was ich zu fordern habe? He? . . Nun, habt Ihr Watte in den Ohren? Wievielmal soll ich's Euch denn sagen? Mein Kind will ich haben, die Maggie Murdockson, und wenn Ihr nicht hören mögt, was man Euch zuschreit, dann braucht Ihr Euch nicht so breitspurig auf Euern Sessel zu pflanzen und andere anzufahren!«

»Sie will ihre Tochter wiederhaben, Herr Rat;« mischte der Fron sich ein, der eben von ihr angeschrieen worden, »die Madge Wildfire ist's, die gestern eingebracht worden ist.«

»Madge Wildfire, sagst Du Schuft, warum denn nicht gar Madge Hellfire Wildfire - Wildfeuer. Hellfire - Höllenfeuer.) ? schrie die Alte, »brauchst Du denn ehrlicher Weiber Kindern Schimpfnamen anzuhängen?«

»Ehrlicher Weiber Kindern?« wiederholte der Fron, laut lachend, worüber die Alte ganz außer sich geriet; »Ihr habt Ursache zu solcher Rede – das muß man Euch lassen.«

»Wenn ich ein ehrlich Weib nicht mehr bin, so war ich es doch, Du Scheusal!« keifte sie, »und das kannst Du geborener Dieb von Dir nicht sagen, der sein Leben lang nicht anderer Leute Gut vom seinigen hat unterscheiden können. . . Du, und ehrlich? Hast Deiner Mutter schon das Geld aus der Tasche gestohlen, als Du noch kaum Hosen anhattest . . Kannst Dich nicht mehr besinnen, wie sie Dich an dem Tage braun und blau peitschten, als sie Deinen Vater vom Galgen schnitten?«

»Na, die hat's Euch gegeben,« riefen die Kameraden des von der Alten also gehudelten Dieners der Gerechtigkeit, und das Lachen, mit dem sie ihre Worte begleiteten, konnte einigermaßen als Beweis gelten, daß ihm damit nicht so ganz unrecht geschehen war.

Der Alten mochte dieser Beifall schmeicheln, denn ihr häßliches Gesicht verzog sich zu einem widerlichen Grinsen, und als der Ratsherr sie jetzt noch einmal aufforderte, ihr Begehren deutlich vorzubringen, entschloß sie sich, auf vernünftige Weise Rede und Antwort zu stehen . . »Ihr Kind, sagte sie, sei doch ihr Kind und sie wolle es nicht im Gefängnis lassen, weil es nichts verbrochen habe und dort bloß schlecht würde . . und wenn ihr Kind nicht soviel Verstand hätte wie andrer Leute Kinder, so hätte es auch mehr Herzeleid überstanden; durch ein Schock Zeugen könne sie beweisen, daß ihr Kind den Porteous kein einziges Mal, weder tot noch lebendig, gesehen habe, als einmal am Geburtstage des Herrn Kurfürsten von Hannover von Gottes Gnaden, als sie dem Lordmayor eine tote Katze an die Perücke geworfen und ihr der Lümmel von Porteous eine Tracht Prügel deshalb aufgezogen.«

So widerwärtig dem Ratsherrn die Alte auch war, so verschloß er sich der Meinung doch nicht, daß auch ihr ein Recht zustehe, ihr Kind zu lieben wie jeder andern Mutter auch, und er ließ sich sofort Bericht darüber erstatten, weshalb das Mädchen hinter Schloß und Riegel gehalten werde. Als sich dabei herausstellte, daß sie ihr Alibi schon nachgewiesen habe, ließ er sie aus der Zelle holen, wohin sie erst am Morgen, durch Sharpitlaw aufgegriffen, eingeliefert worden war. Der Ratsherr versuchte inzwischen von der Alten zu erfahren, ob ihr bekannt sei, wann und wo Robertson sich wieder umgekleidet und wo er die Kleider ihrer Tochter gelassen habe. Aber die Alte ging nicht von ihrer Behauptung ab, sie habe Robertson, seit er aus der Zöllnerkirche entwichen, kein einziges Mal mehr gesehen, wisse auch gar nicht, daß ihre Tochter ihm Sachen geliehen habe . .Da sie Beweise dafür anführen konnte, daß sie die Nacht, in welcher sich der Porteous-Krawall abgespielt, in einem Dorfe anderthalb Meilen von der Stadt zugebracht hatte, blieb dem Ratsherrn nichts übrig, als das Verhör mit ihr einzustellen. Der Alten schien das wieder zu schmeicheln, denn sie beugte sich zu dem Rate hinüber und sagte: »Aber etwas über den Lümmel von Porteous könnt ich euch am Ende sagen, was ihr alle in eurem hohen Rate, und wenn ihr euch noch so anstrengtet, nicht herausbrächtet.«

»So redet!« befahl ihr der Ratsherr, während sich aller Blicke auf sie richteten.

»Es kann Euch bloß von Nutzen sein, wenn Ihr damit nicht hinterm Berge haltet,« sagte der Stadtschreiber.

Ein paar Minuten lang verhielt sie sich in tückischem Schweigen, sah sich aber im Kreise um, wie wenn sie sich an der Spannung weiden wollte, mit der ihre Antwort erwartet wurde . .

Dann rief sie plötzlich: »Hm, ich weiß doch nichts weiter von ihm, als daß er auch bloß ein Spitzbube und Taugenichts war, wie die meisten von euch . .Aber bis man so etwas herauskriegt, meine ehrsamen Herren, kann man schon ein paar Jahre mit in eurem hohen Rate sitzen . .nicht?«

Während keiner in dem Verhandlungszimmer im ersten Augenblick wußte, was er zu solcher Frechheit sagen sollte, wurde Maggie Wildfire hereingeführt. Kaum hatte sie die Alte erblickt, als sie auch rief: »Na, dacht ich's mir doch! Da ist ja unser altes Reibeisen von Mutter auch da! . .Uns beide auf einmal im Stockhaus zu haben, muß ja eine große Freude für die Herren sein . .aber es hat auch einmal bessere Tage für uns gegeben . .nicht wahr, Mütterchen?«

Als die Alte ihr Kind wiedersah, huschte im ersten Augenblick ein freudiger Zug über ihr Gesicht; aber ob sie nun, nach Tigerweise, ihre Liebe nicht anders zeigen konnte als unter Ausbrüchen von Wildheit, oder ob durch die Worte ihrer Tochter Erinnerungen geweckt worden waren, die ihren Haß wieder wachriefen, kurz, sie packte die Tochter am Arme und riß sie hinter sich her zur Tür . .

»Was geht's Dich an, Du Landflüchtige, daß wir bessere Tage gesehen? . .Kümmre Dich drum, was jetzt mit Dir los ist . .Hast's wieder so getrieben, Du Faulenzerin, daß Dir vierzehn Tage bei Brot und Wasser winken zur Strafe dafür, daß Du mir wieder solche Schererei machst!«

Maggie entwischte aber der Alten an der Tür, rannte wieder zu dem Tische hin, machte dem Ratsherrn einen komischen Knicks, kicherte und sagte: »Sie hat sich gewiß wieder mit ihrem Gevatter, dem Satan, überworfen, ihr Herren; dann verfällt sie nämlich immer in Mucken und Grillen, und ich muß der Sündenbock sein. Nur gut, daß mein Buckel an Prügel gewöhnt ist! Aber wenn sie keine Manieren hat, meine Herren, so ist doch damit nicht gesagt, daß sie auch anderen fehlen müßten!« Wieder machte sie einen ihrer komische Knickse; aber von draußen schallte die Stimme der Mutter herein: »Maggie! Teufelsbalg! Kommst Du nicht auf der Stelle, so hole ich Dich!«

»Da hört nur, wie sie wieder wettert!« schwatzte Maggie weiter, ohne sich durch ihre Reden stören zu lassen; nach einer Weile aber, als sich die Mutter mit den Fronen zankte, die sie nicht wieder in die Stube lassen wollten, besann sie sich eines andern und hub, die Hand zum Himmel ausstreckend, mit schmetternder Stimme zu singen an:

Zur Luft auf, der blauen,
Auf der Stute, der grauen,
Noch sehe, noch sehe ich sie!

Und mit einem Satze war sie zur Tür hinaus . . .

Bis Ratsherr Middleburgh dazu kam, nach Sankt-Leonard hinauszugehen, verliefen reichlich vierzehn Tage. Das Gericht hatte mit dem Falle Porteous noch immer soviel Schererei, daß niemand zu Atem kam. Von London aus lief eine Beschwerde nach der andern ein, daß von den Mördern noch kein einziger verhaftet worden sei, und selbst der König hatte persönlich interveniert: ein Fall, der sich nicht häufig zu ereignen pflegte . .Immerhin mußte Butler von aller Schuld freigesprochen werden, war aber nur gegen Bürgschaft aus der Haft gelassen worden, weil auf seine Zeugenaussage Gewicht gelegt wurde, eben der Beschwerden halber, die aus London nach Edinburg kamen. Aus dem gleichen Grunde wurde es jetzt unangenehm empfunden, daß die alte Murdockson mit ihrer Tochter sich am selben Tage, als sie aus der Haft entlassen worden, aus Edinburg entfernt hatte und spurlos verschwunden war. Von London aus kam Befehl, eine öffentliche Belohnung auszuschreiben für jeden, der einen Teilnehmer an dem Krawall zur Anzeige brächte, anderseits jeden, dem nachgewiesen würde, daß er solchem Teilnehmer Unterstand oder Gelegenheit zur Flucht gegeben, mit sofortiger Todesstrafe zu drohen: eine Maßregel von unerhörter Strenge, die noch dadurch für schottische Sinnesart erheblich verschärft wurde, daß sie an jedem ersten Sonntag eines Monats vor dem Beginn des Gottesdienstes von der Kanzel verlesen und jeder Geistliche, der sich dieser Verordnung nicht fügte, seines Amtes entsetzt werden sollte.

Hierüber entstand in Edinburg allgemeine Unzufriedenheit, denn das Volk meinte, der Fall würde von England aus nur dazu ausgenützt, Schottlands Rechte und Freiheiten zu verkürzen; dem presbyterianischen Glauben gilt es als Sünde, die Kanzel zu irgend etwas anderm als zur Verkündigung von Gottes Worte zu benutzen: zudem war Schottland das Reservatrecht zugestanden worden, daß für den öffentlichen Gottesdienst lediglich die Generalsynode als unsichtbares Oberhaupt der Kirche Bestimmungen erlassen dürfe.

Während es zufolgedessen in Edinburg bedenklich zu gären anfing, machte sich Ratsherr Middleburgh, als der Verhandlungstermin gegen Effie Deans vom Lord-Oberrichter festgesetzt worden, auf den Weg nach Sankt-Leonard, zur damaligen Zeit eine nicht so einfache Sache wie jetzt, denn wenn die Entfernung auch nur annähernd eine Stunde betrug, so waren doch die Straßen nicht bloß unsicher, sondern auch bei weitem nicht so bequem, wie es die Menschen in der Gegenwart gewöhnt sind.

Der alte Deans saß vor seinem Häuschen auf einer Rasenbank, mit Ausbesserung seines Geschirrs befaßt: eine Arbeit, die zur damaligen Zeit jeder Besitzer eines Fuhrwerks selbst verrichten mußte. Statt, wie der Ratsherr erwarten durfte, die Arbeit aus der Hand zu legen, hielt Deans es kaum für notwendig, den Kopf aufzuheben, sondern bastelte mürrisch weiter . .Es blieb dem Ratsherrn nichts übrig, als den alten Mann anzureden . .

»Mein Name ist Middleburgh, James Middleburgh. Ich bin Ratsherr von Edinburg,« sagte er.

»Hab nichts dawider,« versetzte Deans, kurz angebunden, ohne sich stören zu lassen.

»Richter haben manchmal recht schwere Pflichten,« sagte Middleburgh wieder.

»Mag sein,« brummte Deans, »andre Leute auch.«

»Es treten hin und wieder Pflichten und Meinungen in schweren Widerspruch,« sagte Middleburgh.

»Kann's nicht ändern,« brummte Deans.

»Sie haben zwei Töchter, Deans? . . .nicht wahr?«

Der Greis fuhr schmerzlich zusammen, wie jemand, der sich an einer empfindlichen Wunde gestoßen, bückte sich aber im andern Augenblick noch tiefer über seine Arbeit und erwiderte finster: »Eine Tochter, Herr – bloß eine – bloß eine!«

»Ich verstehe, Deans . .Sie meinen, bloß eine zu Hause . .aber das unglückliche Ding im Gefängnis . .ist doch Ihre . .jüngste Tochter?«

Der Presbyterianer schlug ernst die Augen zu dem vor ihm stehenden Ratsherrn auf . .»Dem Fleisch nach ist die andere mein Kind; ja – aber seit sie ein Belialskind geworden, dem Geiste nach nicht mehr.«

Der Ratsherr setzte sich neben den starren Greis und suchte die Hand zu fassen, die die seine floh . .»Deans,« sagte er, »wir sind allzumal Sünder und sollten an den Irrungen unserer Kinder schon darum kein zu großes Aergernis nehmen, weil ihnen ja irdische Schwäche als Erbteil von uns Eltern überkommt.«

Ungeduldig rief der Greis: »Herr, das weiß ich so gut wie . .ich meine, es kann ja alles, was Sie sagen, recht und in Ordnung sein; aber mit fremden Leuten über meine Angelegenheiten zu sprechen, ist meine Sache nicht, obendrein jetzt, nachdem von London diese strengen Dekrete erlassen worden sind, zum empfindlichen Nachteil für unser armes Land und seine gequälte Kirche . .«

»Aber, lieber Deans,« fiel ihm der Ratsherr ins Wort, »das eigne Haus muß der Mensch doch vor allem bedenken, man wäre ja sonst schlimmer als ein Ketzer!«

»Ich sage Ihnen, Ratsherr,« fuhr Deans auf, . . .»wenn Sie Ratsherr sind, was heutzutage freilich nicht weither ist . .mein Haus bleibt mein Haus, und für eine Verworfene – für eine – ich scheue mich, daran zu denken, was sie ist – für eine solche hab ich kein Haus mehr . .«

»Aber, Deans . .bedenken Sie, wenn das Leben Ihres Kindes noch zu retten wäre . .«

»Ihr Leben!« rief der Greis, »kein Haar von diesem grauen Haupte möchte ich hingeben für ihr Leben, nachdem sie ihren Ruf geschändet hat, und doch,« setzte er, mit einem schwachen Versuche, den harten Spruch zu mildern – »würde ich es hingeben, dies graue Haupt, das sie mit Pein beladen, könnte sie dadurch Zeit zur Buße, zur Läuterung gewinnen: denn was bleibt dem Bösen, wenn ihm der Odem entwichen? . .Aber sie sehen, noch einmal sehen? . .Nein! nie, nie! in diesem Leben nie mehr!«

Wie wenn er dies Gelübde innerlich wiederholte, bewegten sich seine Lippen noch eine Weile stumm hin und her . . .

»Deans,« nahm Middleburgh wieder das Wort, »ich spreche zu Ihnen als einem klugen, verständigen Manne, und wenn Sie Ihrem Kinde das irdische Leben retten wollen, so müssen Sie sich auch irdischer Mittel dazu bedienen . . .«

»Ich verstehe den Sinn Ihrer Worte,« erwiderte Deans, »und was irdische Klugheit für die Verlorene zu tun vermag, wird Herr Novit besorgen, der Sachwalter von Dumbiedike . .Mir selbst erlaubt mein Gewissen nicht, mich mit Gerichtshöfen der neueren Art in Disput einzulassen.«

»Sie wollen damit sagen, Deans, daß Sie die Zuständigkeit unserer Gerichte nicht anerkennen?« erwiderte Middleburgh; »aber hierüber mit Ihnen zu diskutieren, sei späterer Gelegenheit aufbewahrt. Was mich heute herführt, ist lediglich folgendes: Ich habe Weisung gegeben zur Vorladung Ihrer ältesten Tochter als Zeugin in dem Prozesse wider Ihre jüngere, Effie . .Erfüllt nun Ihre ältere Tochter dem Staate gegenüber ihre Pflicht und legt das Zeugnis ab, so ist die Schwester, so weit ich zurzeit beurteilen kann, gerettet. Falls aber Sie aus starren Glaubensrücksichten ihr verbieten sollten, vor Gericht zu erscheinen, dann sind Sie, der Vater des unseligen Mädchens, als derjenige anzusehen, den die Schuld an ihrem frühen und schimpflichen Tode trifft.«

Nach diesen Worten wandte der Ratsherr dem Pächter den Rücken und schickte sich zum Gehen an.

»Bleiben Sie noch, Herr Middleburgh,« rief Deans, »Herr Ratsherr, noch ein Wort!« Dieser mochte aber befürchten, durch Wiederaufnahme der Unterhaltung den Eindruck seiner Gründe abzuschwächen; deshalb entfernte er sich schnellen Schrittes, den Pächter mit den widersprechendsten Empfindungen im Herzen zurücklassend.

Den Presbyterianern war es immer zweifelhaft, bis wie weit sie gehalten seien, sich den Gesetzen einer Regierung zu unterwerfen, die es umgangen habe, ihren feierlichen Religionsbund anzuerkennen, als sie die heimische Gewalt vernichtete. Die verschiedenen kleinen Sekten, die sich im Laufe der Jahre von dem Hauptstamm abgezweigt hatten, wichen gerade in diesem Punkte wesentlich voneinander ab. David Deans gehörte zu den starren Presbyterianern, denen es als unvereinbar mit der göttlichen Lehre galt, vor Gericht Zeugnis wider einen Mitmenschen abzulegen, und jetzt sah er sich den mächtigsten Beweggründen gegenüber, seine ältere Tochter zu einem solchen zu bestimmen! In der Tiefe seines Herzens erhob sich die Stimme der Natur gegen die Vorschriften fanatischer Starrgläubigkeit, und um ihn vor dieser Scylla, die ihm mit dem Sturze seiner Grundsätze drohte, und jener Charybdis, die ihm sein Kind auf dem Schafotte zeigte, zu retten, zeigte ihm seine in Lösung polemischer Schwierigkeiten wohlgeübte Phantasie einen rettenden Ausweg. Ohne sich daran zu kehren, daß es im Grunde nur künstlicher Selbstbetrug war, was ihm über das Dilemma hinweghalf, schlug er den Ausweg ein . . . »Ich habe meinem Bekenntnis,« philosophierte er, »allzeit treu und redlich angehangen; aber wer möchte mir nachreden, ich hätte meinen Nachbar zu streng gerichtet, weil er sich zu freierer Handlung für berechtigt wähnte als ich mich? Meiner Tochter Jeanie kann eine Erleuchtung geworden sein, für die meine Augen schon zu schwach waren, sie wahrzunehmen. Darum sei die Entscheidung ihrem, nicht meinem Gewissen anheimgegeben . . Hält sie es für vereinbar mit ihren Grundsätzen, sich dem Gerichte zu stellen und für die Arme, die im Gefängnisse schmachtet, die Hand zum Zeugnis zu erheben, so will ich es ihr nicht wehren und ihr nicht nachreden, sie wandle auf unrechtem Wege . . Meint sie aber,« – hier hielt er in seinem Räsonnement inne – und ein heftiges Zittern erschütterte seinen Körper – »meint sie aber, sie könne es nicht, sie dürfe es nicht . . dann sei Gott davor, es sie zu heißen und in geistige Verdammnis zu stürzen . . Nein! es sei ferne von mir, meines ältern Kindes zartes Gewissen zu verletzen, um auf solche Weise meines jüngern Kindes Leben zu retten!«


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