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Die Geschworenen wurden nun zu Protokoll gekommen und vereidigt, dann wurde Effie noch einmal die Frage vorgelegt, ob sie sich des Verbrechens, dessen sie angeklagt sei, für schuldig bekenne, und noch einmal klang ihr »Unschuldig« in demselben herzzerreißenden Tone wie das erste Mal durch den Verhandlungssaal.
Hierauf führte der Kronanwalt eine Reihe von Zeuginnen vor, die unter ihrem Eide aussagten, Effie Deans habe, als man es ihr ins Gesicht sagte, sie sei in anderen Umständen, solchen Verdacht ärgerlich und schnippisch in Abrede gestellt. Mehr aber noch verstärkte Effie den Schuldbeweis durch ihr eigenes Zeugnis. Sie stellte den Umgang mit einem Manne, dessen Namen sie geheim zu halten wünsche, nicht in Abrede. Als Grund für diesen Vorbehalt führte sie an, sie sei wohl im Rechte, ihre eigene Lebensführung zu kritisieren, aber nicht befugt, einen Abwesenden zu beschuldigen. Auf die Frage, warum sie sich niemand offenbart habe, gab sie Scham als Grund an, wie auch, daß sie auf ihren Geliebten vertraut habe, der ihr versprochen habe, für sie und ihr Kind zu sorgen. Auf die weitere Frage, warum er sein Versprechen nicht gehalten habe, erklärte sie, er hätte lieber das Leben geopfert, als sie und ihr Kind ins Unglück gestürzt, aber es seien Umstände eingetreten, die es ihm unmöglich gemacht hätten, über die sie weitere Aussagen verweigere. Das weitere Verhör gestaltete sich in Frage und Antwort wie folgt:
»Wo sie die Zeit von ihrem Weggang aus Saddletrees Haus bis zu ihrer Heimkehr nach Sankt-Leonard gewesen sei?« – Sie könne sich darauf nicht mehr besinnen. – Die Frage wurde wiederholt . . Sie könne sich darum nicht darauf besinnen, weil sie schwer krank gewesen sei. – Als die Frage immer wieder, unter anderer Form, gestellt wurde, erklärte sie endlich, sie wolle in allen Punkten gern die Wahrheit sagen, wenn sie auch dadurch leiden müßte; nur solle man sie nicht über andre Leute ausfragen. Endlich bequemte sie sich im Kreuzverhör zu dem Geständnis, diese Zeit über in der Wohnung einer Frau gewesen zu sein, wo ihr Geliebter öfter sich aufgehalten und sie untergebracht habe, damit sie ihre Niederkunft dort abwarte, wo sie auch einen Knaben geboren habe; aber wo die Wohnung gelegen sei, darüber wüßte sie keinen Aufschluß zu geben, weil sie bei Nacht hingebracht worden sei . .
»Ob diese Wohnung in der Stadt selbst oder in einer Vorstadt gelegen sei?« – »Wie die Person, bei der sie niedergekommen sei, geheißen habe?« – »Ob sie die Person früher schon gesehen habe und ob es eine Bekannte von ihr gewesen sei?« – Auf alle drei Fragen verweigerte sie die Antwort.
»Ob das Kind lebend zur Welt gekommen sei?« – Gott möge ihm und ihr helfen: es habe gewiß und wahrhaftig bei der Geburt gelebt! »Ob es nach der Geburt oder später eines natürlichen Todes gestorben sei?« – Ihres Wissens nicht.
»Wo sich das Kind jetzt befände?« – Ihre rechte Hand opferte sie gern, wenn sie dadurch erfahren könnte, wo sie ihr Kind finden könne. Aber, ach! sie fürchte, mehr als seine Gebeine von ihm nicht wiederzusehen.
»Aus welchem Grunde sie ihr Kind für tot halte?« – Sie schwamm in Tränen, weigerte aber hierauf die Antwort.
»Ob die Frau, die ihr bei der Niederkunft Beistand geleistet, den Eindruck einer sachkundigen Person auf sie gemacht habe?« – Mehr den eines bösherzigen Weibes.
»Ob noch jemand in der Wohnung gewesen sei?« – Ja, soweit sie sich besinnen könne; aber genau könne sie nichts darüber sagen, da ihr Wahrnehmungsvermögen infolge des Fiebers, in dem sie gelegen habe, stark geschwächt gewesen sei.
»Wann ihr das Kind genommen worden sei?« – Sie wisse es nicht; als sie wieder zu sich gekommen, habe ihr das Weib gesagt, ihr Kind sei tot; darauf habe sie dem Weibe ins Gesicht gesagt, daß es umgebracht worden sei; darauf habe das Weib sie so grob und schlecht behandelt, daß sie, außer sich vor Entsetzen, den ersten Anlaß zur Flucht wahrgenommen und ihr Vaterheim aufgesucht habe.
»Warum sie den Ihrigen nichts gesagt und nicht versucht habe, sich über die Wohnung des Weibes Gewißheit zu verschaffen?« – Sie habe es gewollt, es sei ihr aber keine Zeit mehr dazu geblieben.
»Warum sie Namen und Wohnung der Frau noch immer verschweige?« – Weil, sagte sie nach kurzem Besinnen, nichts mehr dadurch ungeschehen gemacht werden, wohl aber viel neues Unheil entstehen könne.
»Ob sie selbst jemals auf den Gedanken gekommen sei, das Kind gewaltsam beiseite zu schaffen?« – Niemals, so wahr sie auf Gottes Barmherzigkeit rechne! Freilich habe das böse Weib in seinem Zorne ausgestoßen, sie habe im Fieber ihrem Kinde selbst Schaden zugefügt, aber sie sei überzeugt, daß dies bloß gesagt worden sei, um sie zu schrecken und zum Schweigen zu bringen.
»Ob das Fieber, an dem sie erkrankt sei, infolge natürlichen Verlaufs entstanden oder durch äußere Eindrücke hervorgerufen worden sei?« – Man habe ihr eines Morgens sehr schlimme Nachrichten mitgeteilt, worauf das Fieber zum Ausbruch gekommen sei.
»Was für Nachrichten das gewesen seien?« – Sie wolle nichts aussagen; sie wisse, ihr Kind sei tot; sollte sie aber hierin irren, so würde ein anderer die Sorge für sein Leben übernehmen; ihr eigenes Leben stünde in Gottes Hand, der es wisse, daß mit ihrem Willen oder Beistand ihrem Kinde kein Leid geschehen sei. Den Entschluß, den Ihrigen alles zu sagen, den sie gefaßt habe, als sie aus dem Hause des bösen Weibes geflohen sei, habe sie später aus Gründen, die sie nicht nennen wolle, wieder fallen lassen. Sie sei jetzt so erschöpft, daß sie bitten müsse, das Verhör abzubrechen.
Nunmehr erhielt der zweite Anwalt für die Beklagte, Nichil Novit, das Wort. Er zitierte zuerst die Zeugen, die über den Charakter des Mädchens aussagen sollten. Alle stimmten überein in ihrem Lobe, vor allem die brave Frau Saddletree, die unter Tränen erklärte, sie hätte ihr eigenes Kind nicht höher achten und inniger lieben können als die arme Effie. Alles wurde durch ihre herzliche Schilderung erwärmt, nur ihr Mann nicht, der dem neben ihm sitzenden Dumbiedike zuflüsterte:
»Ihr Nichil Novit ist wirklich noch ein novus, nehmen Sie mir das nicht übel! Solch ein schnatterndes, flennendes Weibsbild zu zitieren, das den Richtern den Kopf dick macht! Da hätte er mich lieber zitieren sollen! Ich hätte ein Zeugnis abgelegt, daß ihr von niemand hätte ein Haar gekrümmt werden können!«
»Geht es denn nicht noch?« fragte der Laird; »ich will dem Novit einen Wink geben.«
»Nein, nein! lassen Sie es jetzt lieber,« erwiderte, mit dem Kopfe schüttelnd, Saddletree, »das hätte bloß Nutzen gehabt, wenn ich debito tempore geladen worden wäre. Ein freiwilliges Zeugnis gilt nie viel.« Darauf wischte er sich mit seinem seidenen Taschentuche wichtigtuerisch den Mund und setzte sich wieder in die Positur eines aufmerksamen Zuhörers, der über alles genauen Bescheid weiß.
Nun nahm der erste Anwalt der Angeklagten wieder das Wort . . »Durch die letzten Zeugen ist zwar bewiesen worden, wie würdig meine Klientin der allgemeinen Teilnahme ist; um ihre Unschuld noch klarer an den Tag zu legen, ist es aber notwendig, noch eine Zeugin zu vernehmen, und zwar die wichtigste von allen, denn durch ihren Mund werden wir vernehmen, daß die Angeklagte ihren Zustand nicht verheimlicht, sondern offenbart hat, und zwar ihrer natürlichen Beraterin, ihrer Schwester . . Fron! führen Sie die ältere Tochter des Pächters David Deans, Jeanie Deans, in den Saal!«
Als Effie diese Worte vernahm, fuhr sie erschreckt in die Höhe und beugte sich weit über die Schranke, nach der Seite hin, von wo ihre Schwester in den Saal treten mußte. Schon erschien auch Jeanie, langsamen Schrittes, hinter dem Fron und trat an das untere Ende der Gerichtstafel . . Aus Effies Zügen verschwand die Scham und Niedergeschlagenheit und machte dem Ausdruck innigsten Flehens Platz: sie streckte der Schwester die Hände entgegen und rief plötzlich mit herzzerreißender Stimme, die allen Anwesenden durch Mark und Bein ging: »O Jeanie, rette, rette mich!«
Von Empfindungen übermannt, die sich mit seinem unduldsamen Starrsinn gar nicht vertrugen, duckte der greise Deans sich noch tiefer in die dunkle Pfeiler-Ecke, so daß auch Jeanie sich vergebens nach seiner ehrwürdigen Gestalt umsah . . Aber die Hände ringend, flüsterte er dem vor ihm sitzenden Laird Dumbiedike zu:
»Das ist das Bitterste von allem, Laird . . wenn ich nur das erst noch überstanden habe! Mir schwindelt der Kopf . . Aber, Laird, der Herr ist stark im Schwachen!«
Jeanie war inzwischen bis zum Zeugenplatze getreten. Außerstande dem Impuls ihrer Liebe zu widerstehen, streckte sie der Schwester die Hand hin. Effie befand sich nahe genug, sie mit beiden Händen zu fassen und an den Mund zu pressen, während Jeanie, bitterlich weinend, mit der andern Hand sich das Gesicht verdeckte. Es war ein Augenblick so voll der höchsten Tragik, daß fast kein Auge tränenleer blieb, und selbst der Lord-Oberrichter einiger Zeit bedurfte, bis seine Stimme die nötige Festigkeit gewonnen hatte, die Zeugin zur Ruhe zu mahnen . . . Zeit und Ort seien nicht angemessen, solchen Empfindungen, so natürlich und begreiflich sie seien, Ausdruck zu geben . . Er forderte die Zeugin auf, ihm die Eidesformel nachzusprechen . . »Im Namen Gottes schwöre ich, die reine Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen, nichts zu beschönigen, so wahr mir Gott in Ewigkeit helfe!« – ein furchtbares Gelübde, das auch auf den verstocktesten Menschen nicht ohne Eindruck bleibt und selbst den frömmsten tief erschüttert. In Demut und Ehrfurcht vor Gott und seinem Namen erzogen, wurde auch Jeanie durch diese feierliche Anrufung im innersten Herzen ergriffen, zugleich aber über alle irdischen Rücksichten hinweg zu jener heiligen Pflicht empor geführt, der lauteren Wahrheit die Ehre zu geben. Mit leiser, aber deutlicher Stimme wiederholte sie die ihr vorgesprochenen Eidesworte. Dann folgte noch eine kurze Ermahnung des Oberrichters, ausklingend in dem Satze, daß sie für ihre Aussage hier und jenseits verantwortlich sei; dann legte er ihr die üblichen Fragen vor: ob ihr von irgendwem das Zeugnis, das sie ablegen wolle, in den Mund gelegt worden sei? ob ihr von irgendwem eine Belohnung dafür zugesagt worden sei? ob sie gegen den Kronanwalt, dem sie gegenüber stehe, einen Groll im Herzen trage? . . Sie antwortete auf all diese Fragen mit ruhigem Nein; ihrem Vater aber, der nicht wußte, daß diese Fragen jedem, der schwören soll, vorgelegt werden, bereiteten sie so großes Aergernis, daß er, laut genug, um im Saale gehört zu werden, rief: »Nein, nein! Mein Kind ist doch nicht wie die Witwe von Tokoah! Es hat ihr kein Mensch gesagt, wie sie aussagen soll!«
Einer vom Richterkollegium schien im schottischen Gesetzbuche besser bewandert zu sein als in den Büchern Samuelis, denn er wollte auf der Stelle diese Witwe aus Tokoah zitieren lassen in der Annahme, sie stände zu dem Prozesse in gewisser Beziehung; der Lord-Oberrichter aber, besser in der Schrift zu Hause als sein Amtskollege, flüsterte ihm eilig zu, wie es sich um die Witwe verhalte; die kleine Pause indes, die durch dieses Intermezzo entstanden war, hatte wenigstens den einen Nutzen, daß sie Jeanie Deans Zeit verschaffte, sich für die ihr bevorstehende Aufgabe zu sammeln.
Der gerichtliche Anwalt der Angeklagten, ein beschlagener Jurist, von dem Argwohn beherrscht, Jeanie erscheine vor Gericht, falsches Zeugnis in der Sache ihrer Schwester abzulegen, begann, um ihr weitere Zeit zur Sammlung zu lassen, mit einigen geringfügigen Fragen . . über Namen, Stand, Alter . . und ging zu dem eigentlichen Zweck des Zeugen-Verhörs erst über, als Jeanie ruhiger geworden war.
»Hat die Zeugin,« fragte er, »während der Zeit, die ihre Schwester im Hause der Frau Saddletree gelebt hat, eine Veränderung im Gesundheitszustande derselben wahrgenommen?« – Jeanie antwortete mit Ja.
»Die Angeklagte hat der Zeugin vermutlich auch die Ursache davon mitgeteilt?« fragte er weiter.
»Ich bedaure,« fiel hier der Kronanwalt ein, indem er sich von seinem Stuhle erhob, »ich erblicke in dieser Frage das Moment der Irreführung oder Beeinflussung, stelle aber dem Lord-Oberrichter die Entscheidung anheim.«
»Wenn hierüber verhandelt werden soll,« erklärte dieser, »so wird es notwendig sein, die Zeugin so lange abtreten zu lassen.«
»Ich meine, daß hiervon Umgang genommen werden könne,« sagte der Verteidiger der Angeklagten, »denn ich kann die Frage ja anders an die Zeugin stellen . . Haben Sie an Ihre Schwester,« wandte sich der Verteidiger wieder an Jeanie, »als Sie ihr krankhaftes Aussehen wahrnahmen, irgendwelche Frage deshalb gestellt? . . Fassen Sie sich doch, Zeugin; und geben Sie ruhige Antwort!«
»Ich habe sie gefragt, was ihr fehle,« antwortete Jeanie.
»Gut. Besinnen Sie sich genau! Was antwortete sie Ihnen?«
Jeanie schwieg, Leichenblässe trat auf ihr Gesicht. Nicht, als habe sie auch nur einen Augenblick geschwankt, ob sie der Eidespflicht genügen müsse, oder ob ihr, da es sich um Leben und Sterben der Schwester handelte, eine Ausflucht gestattet sei; aber sie bebte vor dem Gedanken zurück, durch die einzige Antwort, die sie geben durfte, die letzte Hoffnung aus dem Herzen der Schwester reißen zu müssen . .
»Fassen Sie sich,« wiederholte der Anwalt, »ich frage, was Ihnen Ihre Schwester antwortete, als Sie sich bei ihr über ihr krankhaftes Aussehen erkundigten?«
Mit fast erlöschender Stimme gab Jeanie die Antwort . . »Nichts!« und doch wurde das Wort gehört bis in der fernsten Ecke des Gerichtssaales, denn ein ehrfürchtiges Schweigen lag über ihm.
Dem Anwalt sank der Mut; aber er faßte sich und fragte: »Nichts? . . Zeugin, Sie meinen im ersten Augenblicke, nicht wahr? Aber als Sie dann in die Schwester drangen, Ihnen zu sagen, wie es sich mit ihr verhalte, da hat sie es Ihnen gesagt? Nicht wahr ?«
Er stellte die Frage in einem Tone, der Jeanie die Wichtigkeit ihrer Aussage zu Herzen führen mußte, falls sie sich derselben nicht schon bewußt war. Aber fester und ruhiger als zuvor, und mit geringerem Zögern antwortete Jeanie: »Weh mir! Sie sprach darüber niemals eine Silbe!«
Selbst aus der Brust der Richter drang ein schwerer Seufzer; aber schwerer, schmerzlicher noch drang er herauf aus der Brust des bejammernswerten Vaters, in dessen Herzen die geheime Hoffnung nun zerstört war, an die er sich noch immer geklammert hatte . . und besinnungslos schlug er auf die Dielen, der entsetzten Tochter vor die Füße . . . Außer sich, vor Schmerz, rang die Angeklagte mit den beiden Fronen, die ihr als Wache gesetzt waren . . »Laßt mich zu meinem Vater! Ich will zu meinem Vater!« schrie sie in ohnmächtiger Wildheit . . »ich will zu ihm! ich muß zu ihm! Er ist gestorben durch mich!«
Selbst in diesem Augenblicke höchster Seelenangst verlor Jeanie die Herrschaft nicht über sich . . »Es ist mein Vater! Es ist unser Vater!« sprach sie sanft zu den Fronen, als sie neben dem bewußtlosen Greise niederkniete und ihm liebevoll die Schläfe rieb.
Umflorten Auges gab der Lord-Oberrichter Weisung, Vater und Tochter in ein anstoßendes Zimmer zu führen und ihnen dort alle Fürsorge angedeihen zu lassen. Effie blickte, als der Vater aus dem Saale getragen wurde und die Schwester langsam hinter den beiden Männern herschritt, mit so starren Augen hinter ihnen her, als wollten sie aus ihren Höhlen dringen . . Dann aber fand sie in ihrer verzweifelten Situation einen Mut, wie sie ihn noch in keinem Augenblicke der Verhandlung gezeigt hatte.
»Jetzt liegt das Schwerste hinter mir,« sagte sie; ihr Busen hob sich, wie von einem Alp befreit; und kühn wandte sie sich zu ihren Richtern mit dem Rufe: »Mylords! Beliebt es Ihnen, die Verhandlung zu Ende zu führen? Der traurigste Tag meines jungen Lebens muß ja endlich auch zu Ende gehen!«
Der Lord-Oberrichter, nicht wenig verwundert, sich durch die Angeklagte selbst an die ihm obliegende Pflicht erinnert zu sehen, sammelte sich und stellte dem Anwalt der Angeklagten anheim, weitere Zeugen zu laden, sofern dies in seiner Absicht läge. Der Anwalt erwiderte jedoch, er betrachte seine Aufgabe für erfüllt.
Darauf wandte sich der Kronanwalt an die Geschwornen. Niemand, sagte er, könne von dem schmerzlichen Auftritte, den sie alle erlebt hätten, tiefer erschüttert sein als er; aber es sei eben die unausbleibliche Folge von schweren Verbrechen, daß sie Jammer und Not über alle Angehörigen des daran Schuldigen brächten. Mit kurzen Worten setzte er nochmals auseinander, weshalb die Angeklagte dem Gesetze verfallen sei, und forderte die Geschwornen auf, Anklage und Beweise gewissenhaft und vorurteilsfrei zu prüfen und ihren Spruch dem Wortlaute des Gesetzes gemäß zu sprechen. Hieran schlossen sich mahnende Worte des Lord-Oberrichters, dessen eingedenk zu sein, daß das Gesetz, gegen das die Angeklagte gefehlt habe, von ihren Voreltern erlassen worden sei, um dem beängstigenden Umsichgreifen eines furchtbaren Verbrechens Einhalt zu tun, und daß die Geschworenen verpflichtet seien, aus Rücksicht gegen Regierung und Vaterland sich von Nebenumständen nicht beeinflussen zu lassen.
Darauf zogen die Geschworenen sich, unter Vortritt eines Ratsdieners, in das Beratungszimmer zurück. Eine Stunde verstrich. Dann traten sie, langsamen, feierlichen Schrittes, von tiefem Schweigen empfangen, wieder ein, um zu verkünden, daß ihr Spruch gegen Euphemia Deans auf Schuldig laute, daß sie jedoch in Berücksichtigung ihrer Jugend und besonders tragischen Umstände, unter denen sie sich des Verbrechens schuldig gemacht habe, das Richterkollegium ersuchten, sie der königlichen Gnade anzuempfehlen.
Der Lord-Oberrichter forderte nunmehr die Angeklagte auf, zur Gerichtstafel heranzutreten und das über sie gefällte Urteil ergeben und demütig zu vernehmen . . Sie ertrug den Schluß dieses erschütternden Auftritts mit größerer Fassung, als ihr Verhalten in verschiedenen Phasen desselben hätte erwarten lassen . . Der Henker, dem nach schottischen Rechtsbrauche die Verkündigung eines Todesurteils zusteht, wurde von einem Fron hereingeführt und stellte sich der Angeklagten gegenüber auf. Es war ein großer, hagerer Mann, in einer absonderlichen Tracht, halb schwarz, halb grau, mit einer roten Kappe auf dem Kopfe . . Alles wich mit instinktmäßiger Scheu vor ihm zurück, denn der Henker gilt in Schottland noch heute als unrein, und zur damaligen Zeit betrachtete sich jeder für entehrt, den auch nur ein Hauch aus seinem Munde getroffen . . Gefühllos plärrte er die Worte des Gerichtsschreibers nach, der ihm das Urteil ins Ohr vorsagte: »daß Euphemia Deans in den Kerker zurückzuführen sei, um am Mittwoch über sechs Wochen, zwischen zwei und vier Uhr nachmittags, auf den Richtplatz geführt und an den Galgen gehängt zu werden. Und dies,« so schloß der grause Urteilskünder mit rauher Stimme, »verkündige ich hiermit als Urteil!«
Geheimnisvoll wie er gekommen, verschwand der Henker wieder. Unbeweglich stand die Angeklagte vor den Schranken, während er gesprochen hatte; nur als er vor sie hingetreten war, wollten einige gesehen haben, daß sie die Augen schloß. Aber als die schreckliche Gestalt von ihr gewichen war, zeigte sie wieder, wie vorher, als Vater und Tochter aus dem Saale verschwanden, festen Mut. Sie war die erste, die das Schweigen brach, indem sie sich gefaßt an ihre Richter wandte:
»Mylords! Möge Gott Ihnen vergeben! Sie handeln nach Ihrer Einsicht, und ich darf nicht murren; denn wenn ich auch mein Kind nicht umgebracht habe, und wenn mich auch keinerlei Schuld an seinem Verschwinden trifft, so trifft mich doch die Schuld am Tode meines armen, armen Vaters! und darum allein verdiene ich das Schlimmste von Gott und den Menschen – Gott aber ist barmherziger gegen uns, als wir es gegen unsre Brüder sind!«
Die Verhandlung wurde geschlossen. Die Menge strömte ins Freie, und der ergreifende Auftritt, der sich vor ihr abgespielt hatte, war bald aus ihrer Erinnerung verwischt. Die Rechtskundigen aus dem Auditorium gingen zu zweit oder dritt und diskutierten, gleichgültig gegen solche Vorgänge, wie Aerzte bei Krankheitsfällen, über die einzelnen Phasen der Verhandlung und über den einschlägigen Gesetzesparagraphen, wie auch über die von den Richtern und Anwälten gehaltenen Reden. Von dem weiblichen Teile des Publikums waren es auch nicht wenige, die sich erbittert gegen den Lord-Oberrichter aussprachen; unter ihnen befanden sich ein paar, mit denen wir schon in einem der ersten Kapitel Bekanntschaft gemacht haben.
»Schändlich, mit einem armen Frauenzimmer, das vielleicht gar keine Schuld hat, so umzuspringen und ihm alle Aussicht auf die himmlische Gnade zu rauben!« rief Frau Howden . .
»Aber, Nachbarin,« erwiderte Jungfer Damahoy, indem sie ihre magere Gestalt zu voller Höhe jungfräulicher Würde reckte, »ich dächte, einmal wär's doch an der Zeit, diesem naturwidrigen Treiben mit den unehelichen Kindern ein Ende zu machen . . Man kann ja gar kein Frauenzimmer unter dreißig Jahren mehr ins Haus nehmen, ohne daß einem gleich alle möglichen Kommis und Schreiber die Tür einrennen und Schimpf und Schande auf den Hals hetzen . . Mir ist die Geschichte schon lange zu bunt!«
»Ei, ich sage immer, Nachbarin, leben und leben lassen! Wir sind auch einmal jung gewesen und müssen, wenn junges Volk zusammenkriecht, nicht immer gleich das Schlimmste denken.«
»Jung gewesen?« rief Jungfer Damahoy: »na, ich dächte, aus dem Schneider wäre ich auch noch nicht, Frau Howden, und was das Schlimmste anbetrifft, von dem Sie reden, nun, so kann ich's dem Himmel nicht genug danken, daß er mich vor Gutem wie vor Bösem bewahrt hat.«
»Ich dächte, da wären Sie gerade nicht für was Besonderes dankbar,« antwortete, den Kopf zurückwerfend, Frau Howden, »und gar so jung sind Sie doch wohl auch nicht mehr, denn Anno 7, bei der letzten Parlamentssitzung, waren Sie doch schon selbstständige Geschäftsinhaberin.«
Herr Plumdamas, der Ritter der beiden kampflustigen Damen, witterte Gefahr und suchte die Gemüter dadurch zu besänftigen, daß er die Unterhaltung auf ihren Ausgangspunkt zurückführte.
»Der Lord-Oberrichter,« meinte er, »hat über das Gnadengesuch bei weitem nicht alles gesagt, was er hätte sagen können. Aber die Rechtsleute lieben es nun einmal, mit versteckten Karten zu spielen. Es ist ein gewisses Geheimnis dabei.«
»Geheimnis, Nachbar? Was denn für eins?« riefen die beiden Frauenzimmer wie aus einem Munde, denn das Wort Geheimnis wirkte elektrisierend auf ihre Nerven.
»Ei, das wird Ihnen der Herr Saddletree am besten auseinandersetzen können! Da kommt er gerade.«
Höchst geringschätzig bemerkte Saddletree: »Da wird geschwatzt von häufigem Kindermord. Glauben Sie denn, unsre alten Erbfeinde drüben in England scheren sich was drum, ob wir uns alle zusammen totaliter totschlagen? Daran liegt's nicht, daß das arme Ding nicht pardonniert wird. Die Geschichte hat einen ganz andern Haken, und darüber will ich Euch reinen Wein einschenken. Der König und die Königin haben sich über den Porteous-Krawall so gefuchst, daß sie sich im Leben nicht wieder einfallen lassen werden, einem Kinde Schottlands Pardon zu geben, und wenn ganz Edinburg am Galgen baumelte.«
»König Georg soll seine Perücke aus Wut ins Feuer geschmissen haben,« meinte Jungfer Damahoy.
»Das soll er schon bei geringeren Anlässen getan haben,« versetzte Saddletree.
»Meinetwegen,« sagte Jungfer Damahoy, »je öfter, desto besser – wenigstens für seinen Perückenmacher.«
»Die Königin, heißt's,« bemerkte Plumdamas, »soll aus Wut ihre Haube zerfleddert haben? . . Ja, Sir Robert Walpole soll mit Fußtritten regaliert worden sein, aus Aerger darüber, daß er den Edinburger Pöbel nicht besser im Zaume hält; aber ich glaube doch nicht, daß sich unser verehrter König so weit vergangen haben sollte!«
»Den Herzog von Argyle mißhandeln,« riefen verschiedene in höchster Entrüstung.
»Ja, aber Mac Cullamores Blut wird so etwas nicht auf sich sitzen lassen!« riefen andere; »da hätte Andrea Ferrera [ * ] vergl. den Roman »Der Abt« von Walter Scott. leicht den dritten Mann abgeben können.«
»Der Herzog ist ein echter Schotte,« riefen die ersten wieder, »der auf Schottland hält und auf Schottland nichts sitzen läßt!«
»Freilich, das trifft zu!« sagte Saddletree, »und wenn Ihr auf ein paar Augenblicke in meinen Laden kommen wollt, will ich's Euch sagen, wie alles zugegangen ist. Ueber so etwas schwatzt man am besten inter parites.«
Er schickte den Lehrbuben fort, schloß sein Pult auf und nahm mit selbstgefälliger Miene ein zerknülltes Papier heraus . . »Ganz nagelneu,« sagte er, »das könnt' Euch kein Mensch sonst zeigen. Des Herzogs Rede über den Porteous-Rummel wird seit ein paar Tagen in den Straßen von London verkauft . . Ein Bekannter von mir hat's im Schloßhofe gefunden, dicht vor der Nase des Königs . . Ich hab's mit einem Wechsel, den der Mann prolongiert haben will, in einem Briefe bekommen . . Du, Frau, sieh doch einmal nach, wie es damit steht!«
Die brave Frau Saddletree war aber dermaßen mit der armen Effie und ihrem Schicksale befaßt gewesen, daß sie sich in den letzten Tagen um die Geschäfte wenig gekümmert hatte. Erst die Worte Wechsel und prolongieren weckten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief, den Saddletree ihr hinhielt, wischte sich die Augen, setzte sich die Brille auf und suchte sich über den Fall zu informieren, so gut es ihr mit ihren noch von Tränen umflorten Augen möglich war.
Nach einer Weile riß sie Saddletree auf die Seite, ihn jäh in dem Vortrage der herzoglichen Rede unterbrechend . . »Aber was fällt Dir ein, Mann? Hier stehst Du und schwatzest vom Herzog von Argyle, und dabei will uns der Hasenfuß in London um bare 60 Pfund bringen? . . Welcher Herzog wird sie uns ersetzen? Mir wär's schon lieber, der Herzog bezahlte, was er selbst schuldig ist. Er steht auch noch mit tausend Pfund Schottisch in der Kreide . . Er mag ein ganz gerechter Herr sein, auch einer, mit dem es sich umgehen läßt . . aber wie kann ein Mensch von Herzögen, Wechseln undsoweiter faseln, wenn man in der Nebenstube solch arme Leute hat, wie Jeanie Deans mit ihrem Vater?
Aber, Nachbarn, verzeiht doch, bitte! Ich will euch ja gar nicht stören . . Bloß meinem Manne macht das Gericht noch ganz den Kopf verdreht . . das werden wir alle noch erleben!«
Sie eilte in die andere Stube, wo Deans mit seiner Tochter einstweilen Unterkunft gefunden hatte, und sah mit Freude, wie sich die Nachbarn langsam aus ihrem Hause entfernten.