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Zwanzigstes Kapitel.

So ungeduldig mein Führer auch war, mußte ich doch einige Minuten noch verweilen, um das Aeußere des Gebäudes zu betrachten, das nun in der Einsamkeit, die es umgab, noch ehrwürdiger erschien. Die bis jetzt offen stehenden Türen waren verschlossen, nachdem sie gleichsam die Menschenmenge verschlungen hatten, die erst auf dem Friedhof sich drängte, doch nun, im Innern des Gebäudes, wie die Stimmen des schwellenden Chorgesanges uns verkündeten, zu feierlicher Andacht beisammen war. Der Ton so vieler Stimmen, durch die Entfernung in eine Harmonie vereint, und frei von jenen rauhen Mißklängen, die das Ohr in der Nähe beleidigen, verschmolz mit dem Murmeln des Baches und dem Winde, der durch die alten Föhren rauschte, und erregte in mir das Gefühl der Erhabenheit.

Als ich noch auf die feierlichen Klänge lauschen wollte, ergriff mich Andreas beim Aermel; »Kommt, Herr, kommt!« sprach er., »Wir dürfen nicht zu spät hineingehen und den Gottesdienst stören; wenn wir hier bleiben, werden die Aufseher kommen und uns auf die Wache bringen, als Müßiggänger zur Kirchzeit.«

Auf diese Mahnung folgte ich meinem Führer, aber nicht, wie ich vermutet hatte, zur Haupttüre. »Hierher! hierher!« rief er, mich davon wegziehend. »Dort ist nur frostige Wahrheit! – fleischliche Moral, so kraft- und saftlos wie Rauke im Juli. Hier ist der wahre Wohlgeruch der reinen Lehre!«

Mit diesen Worten trat er in eine niedrig gewölbte Pforte, die ein ernst aussehender Mann eben verschließen zu wollen schien, und wir stiegen mehrere Stufen hinab, wie zu einem Grabgewölbe unter der Kirche. So war es auch; denn in diesen unterirdischen Kreisen war, aus mir unbekannten Gründen, ein höchst sonderbarer Ort zum Kirchendienst errichtet.

Man denke sich eine lange Reihe niedrig gewölbter, finstrer Hallen, wie sie anderswo zu Begräbnissen gebraucht werden, und auch hier dazu gedient hatten. Ein Teil davon war mit Sitzen versehen und wurde als Kirche gebraucht. Die so hergerichteten Gewölbe konnten zwar eine Versammlung von mehreren Hunderten fassen, waren aber weit kleiner als die dunklern und ausgebreitetern Höhlen, welche rings umher gähnten. In diesen öden Höhlen der Vergessenheit bezeichneten düstre Banner und zerrissene Wappenschilder die Gräber derjenigen, welche einst ohne Zweifel »Fürsten in Israel« waren. Inschriften in veralteter Sprache, nur dem Altertumsforscher lesbar, luden den Wanderer ein, für die Seelen derjenigen zu beten, deren Gebeine hier ruhten. Umringt von diesen letzten Ueberresten der Sterblichkeit, fand ich eine zahlreiche Versammlung eben im Gebete begriffen. So standen mehrere Hunderte beiderlei Geschlechts und von jedem Alter, die Männer mit unbedecktem Haupte, und hörten ehrerbietig und aufmerksam dem Gebete zu, das ein alter, sehr beliebter Geistlicher aus dem Stegreif sprach. In diesem Glauben erzogen, neigte sich mein Gemüt zu ernster Teilnahme an dieser Andachtsübung, und erst als die Versammlung wieder die Sitze einnahm, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf alles, was mich umgab.

Nach geendetem Gebete setzten die meisten Männer ihre Hüte oder Mützen auf, und wer so glücklich war, einen Sitz zu haben, ließ sich nieder. Andreas und ich gehörten nicht zu dieser Zahl, da wir zu spät gekommen waren. Wir standen unter mehreren andern, die einen Kreis um die Sitzenden schlossen. Hinter uns und rings umher waren die bereits erwähnten Gewölbe; vor uns die andächtige Versammlung, in matter Beleuchtung des Lichts, welches durch einige kleine gotische Fenster fiel, wie man sie in Beinhäusern findet. Man konnte dabei die Mannigfaltigkeit der Gesichter erkennen, die, wie gewöhnlich beim schottischen Gottesdienste, sich dem Prediger zuwendeten.

Hier saß ein eifriger, verständiger Calvinist, dessen gesenkte Augenbrauen tiefe Aufmerksamkeit andeuteten. Seine Lippen waren leicht geschlossen und die Augen auf den Prediger geheftet, mit dem Ausdrucke geziemenden Stolzes, als ob er über die wohlbegründeten Lehren innerlich triumphierte. Ein andrer, der wilder und ernster aussah, verriet zu gleicher Zeit seine Verachtung gegen alle, die an den Lehren seines Seelsorgers zweifelten, und seine Freude über die ihnen angedrohten Strafen. Ein dritter, der vielleicht zu einer andern Gemeinde gehörte und nur durch Zufall oder aus Neugierde hierher gekommen war, verriet durch ein leichtes Kopfschütteln deutlich seinen Zweifel an den dargelegten Glaubenssätzen. Die meisten lauschten mit ruhigem, zufriedenem Gesicht, dessen Ausdruck andeutete, daß sie es sich als Verdienst anrechneten, einer so scharfsinnigen Rede zuzuhören, obwohl sie dieselbe vielleicht nicht ganz verstanden. Zu diesen letztern gehörten größtenteils die Weiber; die Alten schienen jedoch ernster auf die Darlegung der abstrakten Lehren zu achten, während die Jüngern gelegentlich ihre Blicke bescheiden in der Versammlung umherwandeln ließen.

Das waren die Gruppen, die ich bei den Sonnenstrahlen unterschied, welche durch die schmalen Fenster fielen, die aufmerksame Gemeinde beleuchteten und sich dann im leeren Raum der hintern Gewölbe verloren. Bei dieser Beleuchtung lag der vordere Teil des Raumes in matter Dämmerung, während der tiefere Hintergrund in gänzliche Dunkelheit gehüllt war.

Ich stand mit dem Rücken gegen diese Hallen und hatte den Blick auf den Prediger gerichtet. Von meinem Platze aus konnte mir nicht das geringste Geräusch entgehen, das in jenen einsamen Gewölben tausendfach widerhallte. Mehr als einmal blickte ich mich ringsum, wenn Regentropfen durch eine Spalte des verfallnen Daches auf die Steine herabfielen, und hatten meine Augen einmal jene Richtung genommen, so fand ich es schwer, sie abzuwenden; ein solches Vergnügen gewährt es unsrer Einbildungskraft, soweit als möglich in ein dunkles Labyrinth einzudringen, das nur matt erleuchtet ist und Gegenstände darbietet, die unsre Neugierde nur erregen, weil sie unbestimmt und unerkenntlich sind. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit des Raumes, auf den ich sie gerichtet hielt, und es hatte nun mehr Interesse für mich, diese Finsternis zu ergründen, als den theologischen Auseinandersetzungen des Predigers zu folgen.

Ich bat Andreas leise, sich zu erkundigen, ob jemand aus dem Hause Mac Vittie da wäre. In tiefer Aufmerksamkeit auf die Predigt, antwortete mir Andreas nur mit derben Ellbogenstößen, womit er mir zu verstehen gab, daß ich mich still verhalten sollte. Mit ebenso schlechtem Erfolge strengte ich meine Augen an, ob ich unter der Menge erhobner Gesichter, die sich nach der Kanzel richteten, Owens ehrbare, bedächtige Züge erblicken könnte. Allein weder unter den breiten Filzhüten der Bürger von Glasgow, noch unter den noch breitrandigern Mützen der Bauern von Lanarkshire, konnte ich etwas entdecken, was der anständigen Perücke, den steifen Manschetten und dem ganzen hellbraunen Anzug des Buchhalters der Firma Osbaldistone und Tresham ähnlich gewesen wäre. Nun kehrten meine Befürchtungen plötzlich mit solchem Ungestüm zurück, daß ich ganz vergaß, wo ich mich befand. Ich zog den Gärtner derb am Aermel und sagte ihm, ich wolle hinaus, um meine Nachforschungen fortzusetzen. Er erwiderte aber, daß wir vor Ende des Gottesdienstes nicht hinausgehen könnten, weil die Türen, sobald das Gebet anfange, verschlossen würden. Nachdem er mir dies kurz und mürrisch zugeflüstert hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit, mit dem Ausdruck von Verständnis und Urteil, wieder auf den Vortrag des Predigers.

Indem ich mich bemühte, aus der Not eine Tugend zu machen und wieder auf die Predigt zu achten, ward ich durch eine neue seltsame Störung unterbrochen. Eine Stimme hinter mir flüsterte vernehmlich in mein Ohr: »Euch droht Gefahr in dieser Stadt.« – Unwillkürlich drehte ich mich um.

Ein Paar steife, schlichte Handwerker standen neben und hinter mir, die ebenso wie wir zu spät gekommen waren. Mit einem Blick auf ihre Gesichter war es mir klar, obwohl ich kaum sagen konnte warum, daß keiner von ihnen zu mir gesprochen hatte. Mit ruhiger Aufmerksamkeit hörten sie der Predigt zu, und keiner erwiderte meinen forschenden Blick. Hinter einem starken, runden Pfeiler, der dicht hinter uns stand, hätte die Person, sogleich nachdem sie die geheimnisvolle Warnung ausgesprochen hatte, sich verstecken können; aber warum ich an solch einem Ort gewarnt wurde und vor welcher Gefahr, und wer die Warnung gegeben hätte, das waren Fragen, die ich mit allen Mitteln meiner aufgeregten Phantasie zu beantworten suchte. Ich erwartete, daß die Warnung wiederholt würde, und richtete von neuem den Blick auf den Prediger, damit der Warnende glauben sollte, seine ersten Worte seien nicht gehört worden.

Mein Plan gelang. Kaum hatte ich fünf Minuten meine Augen dem Redner zugewendet, als dieselbe Stimme flüsterte: »Hört mich, aber seht Euch nicht um.« – Ich drehte den Kopf nicht um einen Zoll. – »Euch droht Gefahr in dieser Stadt,« fuhr die Stimme fort, »und ich bin es auch. Sucht mich auf der Brücke heute nacht mit dem Schlage zwölf. Bleibt zu Hause, bis es dunkel wird, und laßt Euch nicht sehen.«

Die Stimme schwieg hier, und ich wandte mich sogleich um; doch der Sprecher hatte sich noch schneller hinter den Pfeiler versteckt, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Aber ich wollte sehen, wer es sei, und so drängte ich mich aus dem Kreise der Zuhörer und trat hinter den Pfeiler. Alles war leer, und ich sah nur eine Gestalt in einen Mantel gehüllt, die, einem Schatten gleich, den grausen Raum des Gewölbes durchschritt.

Unwillkürlich wollte ich der geheimnisvollen Erscheinung folgen, die in den Grabgewölben dahin glitt und verschwand, wie der Geist eines hier ruhenden Toten. Es war wenig Hoffnung, die Erscheinung einzuholen, da sie allem Anschein nach eine Begegnung vermeiden wollte; aber selbst dieses bißchen Hoffnung wurde noch vereitelt; denn ich hatte kaum drei Schritte getan, so strauchelte ich und fiel. Glücklicherweise schützte mich die Dunkelheit, denn schon hatte der Prediger mit jener Strenge, mit der die schottischen Geistlichen Ordnung in ihren Versammlungen aufrecht erhalten, seine Rede unterbrochen und den Aufseher aufgefordert, den Störer der Andacht in Gewahrsam zu nehmen. Da jedoch das Geräusch sich nicht wiederholte, wurde keine nähere Untersuchung vorgenommen, und ich konnte, ohne weitere Aufmerksamkeit zu erregen, meinen Platz an des Gärtners Seite wieder einnehmen.

Als der Gottesdienst zu Ende war und die Versammlung auseinander ging, zeigte mir mein Freund Andreas den Herrn Mac Vittie und dessen ganze Familie. Ich erblickte in ihm einen langen, magern, ältlichen Mann mit harten Gesichtszügen, dicken, grauen Augenbrauen, lichten Augen und, wie mir vorkam, einem hämischen Ausdruck, vor welchem mein Herz zurückbebte. Ich dachte gleich an die erhaltene Warnung und zögerte, den Mann anzureden, wiewohl ich mir selbst keinen vernünftigen Grund für Abneigung und Argwohn angeben konnte.

Noch war ich unentschlossen, als Andreas, der meine Zögerung für Schüchternheit hielt, mir zuredete: »Sprecht mit ihm – sprecht mit ihm, Herr Franz! Er wird Euch gewiß ausführlichen Bescheid geben, wenn Ihr kein Geld von ihm verlangt; denn die Leute sagen, so reich er auch ist, zieht er doch nicht gern den Beutel.«

Mir war es sofort klar, daß, falls dieser Kaufmann in der Tat so geizig wäre, ich mich nicht so ohne weiteres zu erkennen geben dürfte, da ich ja über den Stand seiner Geschäfte mit seinem Vater nicht genau unterrichtet war. Diese Erwägung verstärkte den Eindruck, den die geheimnisvolle Warnung auf mich gemacht hatte, und die unangenehme Meinung, die ich beim ersten Blick von diesem Manne gewonnen hatte. Anstatt mich also direkt an ihn zu wenden, sprach ich nur den Wunsch aus, Andreas möchte sich erkundigen, ob Herr Owen sich im Hause Mac Vitties aufhalte. Er sollte dabei meiner Person nicht Erwähnung tun und mir nach dem kleinen Gasthaus, in welchem wir abgestiegen waren, Bescheid bringen. Das versprach Andreas zu tun.

Ende des ersten Bandes.


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