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Der langjährige Chefkoch und jetzige Manager des »Des Indes«, Herr Salbeiblatt, steht, Hände im Rücken verkettet, in der Vorhalle und gibt trotz sanfter Aussprache abgehackte Befehle an die geschäftigen weißgekleideten Sundanesen, die ihn umschwirren.
Bildhaft betrachtet gleicht er Bonaparte: die steifgestärkte Leinenjacke mit dem hochgeschlossenen Kragen, jene hemdersparende Tropenuniform, umpanzert ihn wie die Schale einen Weichkrebs. Er hat ein rundes Gesicht mit edlen Zügen und einen Frauenmund. Sein blonder Kopf ist rasiert, und obwohl die dunkelbewimperten farblosen Augen das Bühnenhafte stärken, verwässern sie den Gesamteindruck, weil sie vor jedem Herrenblick abirren. Dazu kommt der Speckglanz seiner Haut, gleichmäßig überall verteilt, wo die barmherzige Uniform ihn nicht verhüllt.
Ist auch ein früheres Leiden Salbeiblatts ungewöhnlich diskreter Natur gewesen, so ist die Anhänglichkeit an seinen damaligen Arzt mächtig zurückgeblieben – für seine Natur allzu mächtig. Er kann sie nicht stilvoll bändigen; der »Manager« verdunstet aus seinem Gehaben. Langjährige Komposition anspruchsvoller Gerichte hat zudem sein an sich 56 konziliantes Wesen gesteigert und mit einer Süße übersättigt, die schwer erträglich ist. Gemessen und doch eilend tritt er ans Auto heran, beide Hände vorgestreckt.
»Herr Doktor Kehmerdill,« spricht er melodisch, etwas stockend vor so viel Glück – »ich darf Sie begrüßen – nein – welch unerwarteter Besuch – Gott, als ich denke . . .« Mit diesem letzten Ausruf legt er gespreizte Finger vor den Mund und betrachtet den Arzt mit einer Miene verschämter Schelmerei . . .
»Es heißt ›wenn‹, und nicht ›als‹,« sagt Kehmerdill kurz angebunden. Er ist ausgestiegen; dem ihm folgenden Manager voranschreitend nimmt er die paar Stufen zu den Cocktailtischen.
»Immer so streng, Herr Doktor! – Gott . . .« atmet es in seinem Rücken. Kehmerdill dreht sich brüsk um und sagt scharf: »Lassen Sie die Faxen, Salbeiblatt. – Wo ist der bestellte Estradentisch?«
Sofort wechsele des Guten Schelmerei mit sachlicher Würde. Er ist indigniert. Er schnaubt leise aus der römischen Nase und bemerkt: »Sie mißverkennen mich, Herr Doktor. – Ich bitte hier – Tisch sechzehn«. Er arrangiert mit wegwerfenden Bewegungen, unter Schonung des geschmückten kleinen Fingers, einige karminrote Hibiskusblüten auf der sorgfältig ausgelegten Tafel. – Lang gewinnt er's aber nicht über sich, zu grollen; sein Plauderton bricht durch und er fragt, weiterzupfend: »Es sind deutsche Herrschaften, die Sie erwarten?«
»Großhändler Erdbrink mit Frau, Mijnheer Heyermans – vielleicht noch andere . . .«
57 »Ah – Herr Doktor . . .« Wieder führt er die gespreizten Finger an den Mund. >Sie scherzen: wirklich ein Großhändler? – Nun, das ist besser als ein Kleinhändler.« Und nach diesem unsagbar platten und unangebrachten Witzchen wandelt er mit einer Verbeugung weiter . . .
Boys, längst von ihm entsandt, kommen schon mit Glas und Flasche, jedes einzelne Ding getrennt auf Tabletten balancierend. Kehmerdill bestellt sich einen »Martini« und dann noch einen. Es ist ganz ungewöhnlich, gegen alle Naturgesetze, daß er sich zu so früher Abendstunde (es ist kaum acht) und in so prächtigem Rahmen Cocktails gönnt . . . In der Ferne, auf dem weiten Tanzparkett, steht Salbeiblatt wie der Turm eines Scheinwerfers im Roten Meer und wirft ihm einen berechnenden, trotz leichter Gekränktheit sieghaften Blick zu . . . Denn Salbeiblatt wundert sich ein wenig. »Gott,« denkt er und die kleine Amorette, die im Panzer seines Busens sitzt, seufzt auf – »als ich sage . . . Der Doktor hier im ›Des Indes‹!« Er bleibt andauernd neugierig und die scheinschläfrige Sieghaftigkeit seiner Blicke ruht auf den Eingängen, bis die Gesuchten auftauchen. Da wird der Leuchtturm lebendig und geht ihnen, runde Arme schwenkend, schnurstracks entgegen. Sein Busen hebt sich. Er nähert sich dem großen Gast auf Flüsterweite.
»Mijnheer Erdbrink?«
»Der bin ich,« sagt der große Mann.
»Darf ich bitten – Tisch sechzehn –, Herr Doktor warten bereits.«
»Es ist gut,« sagt der große Mann.
58 Nichts gleicht der von Respekt gedämpften Berechnung, mit der Salbeiblatt die Frau mustert. »Sehr europäisch,« denkt er, – »sehr eigenartig.« – Und als er das gedacht hat, merkt er, daß man ihn nicht benötigt, und zieht sich auf seinen Scheinwerferposten zurück.
Nora trägt heute ein pfauenblaues Kleid und schwarze Wildlederschuhe mit Goldschnallen. Unter ihrem goldbraunen Pagenhaar pendeln gelbe Diamanten an Platinschnürchen; sie glimmen bei steter Bewegung des Halses in wechselnden Fünkchen. Ihre Haut ist hell wie Reis und matt wie Meerschaum. Gewölbte Schultern lassen Grübchen entstehen und vergehen, über deren Betrachtung man melancholisch werden könnte. Ihr Körper, von der blauen Seide eng umsponnen, scheint unaufhörlich bewegt; kaum zu bändigen; jeder Schritt verrät Schule. – Kehmerdill sieht, wie sie noch zweimal vor Spiegeln haltmacht und den Hünen hinter ihr dadurch zwingt, ebenfalls stehenzubleiben. Dieser trägt ein weißes in die Taille geschnittenes englisches Dinnerjäckchen, was seinen athletischen Brustkorb betont und ihm etwas von einem gelegentlichen Militär gibt. Er hält den Blick auf die farbige Niedlichkeit gerichtet, die er seine Frau nennt; schräg von oben herab blickt er in ihren Nacken, in das weiche Tal des tiefentblößten Rückens, wie ein Bär etwa, der aus dem Zwinger in etwas Blendendes blinzelt.
Kehmerdill betrachtet sich die Ankunft der beiden. Heute wirft er kein Deckelchen auf den Boden und bemeistert das Zittern seiner Hände. Es ist doppelt 59 geboten sich zu beherrschen; neben ihm, im weiten Umkreis der Estrade, vor und hinter den spiegelbelegten Säulen, haben sich nun die Tische mit blankäugigen und auf Stadtklatsch erpichten Leuten gefüllt. Ein stetig anschwellendes Stimmengemurmel regt sich in der großen hölzernen Halle. Alle Birnen flammen auf am weißlackierten Deckengebälk. Die Ventilatoren drehen sich droben wie gespenstische Riesenmotten und quirlen die stagnierende Luft. Um die ganze Halle herum hängt die Nacht ihren schweren schwarzen Vorhang. Dieser wird von den Lichtern der Autolampen auf dem Molenvliet durchquert wie von schwirrenden Leuchtkäfern. Die Kapelle beginnt, und dies ganze Panorama von reflektiertem Weiß und von Farbspritzern schreiend bunter Toiletten dreht sich langsam nach rechts – hol's der Teufel, schon wieder das Karussell!
Er klammert sich mit den Händen an die Tischplatte; der Druck macht die Finger weiß. Er sieht Nora und nichts als Nora – den leicht geschürzten Mund, die kapriziöse kleine Nase, das zurückgeschüttelte Haar, die fein sich abzeichnenden elastischen kleinen Brüste, die schwingenden nackten Arme . . . Nun lächelt sie etwas konventionell; auch der Bär mit Taille verliert das Hornige im Blick und schmunzelt auf ihn herab. Er reißt sich zusammen und erhebt sich.
»Guten Abend, lieber Doktor,« sagt sie, »das ist ja ein reizender Tisch, den Sie da reserviert haben . . .« – Sie sieht sich, mit halbgeöffnetem Mund, stehend um. Der Schildpattfächer schlägt mit leichtem Klappen an ihre knappe Hüfte.
60 »Gute Aussicht,« bestätigt Erdbrinks Baß. Beide lassen sich nieder. Der Doktor sitzt zwischen ihnen am Kopf des Tisches. Beim Platz nehmen streichelt ihr kleiner Fuß den seinen; leise klirrt das Glas an seinen Zähnen. »Was ist das nun . . .« denkt er trotzdem ganz logisch und amüsiert sich über sich selbst – »bin ich tatsächlich behext?« – Allerhand Vorstellungsfetzen seiner Knabenzeit tanzen durch sein Hirn. Ein Gefühl unendlicher Geborgenheit geht von dem Geschöpf neben ihm aus. »Aha – das ist Europa; es scheint doch, daß ich kein abgebrühter ›Blijver‹ werde. Dies Ländchen Java hat mir falsch gesungen. Ja, das ist's; Europa gibt sich Mühe, mich zurückzuholen. Ein auserlesener Köder . . .«
Die Erdbrinks trinken sich soeben zu und leeren im Akkord ihren Cocktail bis auf die Kirsche. Nora feiert das Gelingen ihres tapferen Schluckes mit einem kleinen Triumphschrei.
»Runter mit dem ersten Glas, heißt es bei mir,« scherzt Erdbrink. »Tempo im Anfang, und die Bremse am Schluß. Das ist viel praktischer als umgekehrt. Außerdem braucht man nicht so lang auf Stimmung zu warten.«
»Paul kommt schwer in Stimmung,« erklärt Nora. »Besonders wenn ich dabei bin . . .«
»Trotzdem du dabei bist,« gibt der große Mann zurück. »Das Geschäftliche läuft nicht so geschmiert, Herr Doktor, und meine Frau verträgt Hitze besser als ich.« Er wischt sich mit einem gewaltigen Taschentuch übers Gesicht.
»Nun, ich hoffe,« meint der Doktor, ganz 61 Gastgeber, »Sie werden sich amüsieren. Mein Freund Heyermans ist auch geladen, der kann Ihnen gute Tips geben. Bringen Sie das Gespräch auf die ›Porte ouverte‹, er vertritt diese Politik mit großem Eifer. Er ist für jeden Kapitaleinschuß hier zu haben. Nur japanisch paßt ihm nicht. Er erlaubt Ihnen ganz Borneo zu kaufen, vorausgesetzt. daß Sie keine Pickelhauben dort anpflanzen. Besonders keine Herzoglich-Mecklenburgischen . . .« Erdbrink lacht prustend und schlägt ihm auf die Schulter.
»Nun, nun, ich bin bescheidener,« ruft er. »Ich bin nur ein kleiner Grossist in Tee, sozusagen päckchenweise.«
In diese großzügige Heiterkeit hinein gerät Heyermans, der heute, das muß man ihm lassen, seinen guten Tag hat. Auch er hat ein Taillenjäckchen, und da ihm das Ausladende des Hamburgers fehlt, er vielmehr seine ihm gleichfalls beschiedenen zwei Meter mit jagdhundschlanker Geschmeidigkeit trägt, wirkt er wie ein Ausbund von Eleganz. Man wittert schon von fern den Seifenschaum.
Fast stößt er ein leises Pfeifen der Überraschung aus, als er Nora erblickt. Seine blauen Augen gehen jedoch unbefangen von einem zum anderen; er ist voll kleiner Höflichkeiten. Der Doktor ertappt ihn bei einem Zucken des rechten Augendeckels, das besagen will: »So steht also die Sache, alter Freund. Nicht übel!«
Man beginnt zu tafeln, man scherzt, man trinkt Chablis und dann Sekt. Nora pickt von den indischen Gerichten, die von einer exakt servierenden Kolonne 62 sanfter Djonges gereicht wird, wie ein Vogel, und macht bei jeder neuen Entdeckung drollige Glossen . . .
Die Tische leeren sich und dafür füllt sich das Parkett mit schreitend tanzenden Menschen. Die weißen, gelegentlich westlich schwarzen Smokings der Herren beherrschen das Bild; dazwischen mengen sich die grellfarbigen Backfischkleider der Frauen. Blickt man schräg von der Estrade, so hat man den Eindruck, daß die Welt aus Beinen jeden Formates bestehe. Das Auge wird verwirrt von soviel kupfer- und fleischfarbener Strumpfseide; die Mode schreibt kürzesten Rock vor; hier in der Wärme verkuppelt sich ihr noch das Naturbedürfnis, es möglichst luftig zu haben. Deshalb sind auch die Frauen halb entkleidet. Feiste Matronen stellen sieghafte Fleischmassen zur Schau und schreiten einher in den grünen oder gelben Abendkleidern der Sechzehnjährigen. Indoschönheiten jeden Alters schmiegen sich durch die spärlichen Tanzgassen, die sich bilden und schließen. Kornblonde Holländerinnen mühen sich verbissen ab um den Rhythmus, der ihrem Schaukeln die Erdenschwere nehmen soll – vergebens. Immerhin kommt alles vom Fleck und wogt gemessen. Behutsam mutet es an, dies festliche Getue; jeder nimmt Rücksicht auf seinen Nächsten; man weiß, ein einziger Grad von Beschleunigung würde den Körper in Schweiß tauchen, die weißen Jacken, die Chiffonwolken in Lappen verwandeln: so fassen sie sich gleichsam mit den Fingerspitzen an, stoßen einander elastisch ab und lassen doch zwischen sich eine Hochspannung entstehen, die nach einer 63 phantastischen Erlösung schmachtet. Diese in ihren Bureaus verstumpften Männer, diese fettbeschwerten Frauen fühlen sich von Asthma und Sehnsüchten geplagt, jetzt, da die Nacht – nur durch ihr Dunkel – ihnen das Gefühl falscher Kühle erzeugt. Der träge Luftstrom der Ventilatoren umfächelt sie; sie werden wieder Menschen. Dinge fallen ihnen ein – halb vergessene europäische Dinge . . . Wäre die Musik nicht, die gerade den neuesten Schlager von Rotterdam: »O Katharina –« spielt, so wäre man versucht, an ein Aquarium zu denken, in dem grotesk gefärbte Fische pärchenweise durcheinander spielen.
Und in all dem heftiger atmenden Flüstern, dem Knirschen der schweren Stoffe an den massiven niederländischen Hüften, den wechselnden Parfüms, die aus schwarzen Locken und blonden angeklatschten Strähnen steigen, drehen sich Nora und Kehmerdill.
Sie ist kleiner als die meisten Frauen. Sie wird aus wasserblauen, aus dunklen Augen mit verblüffter Frage begrüßt, die man aber nicht zu Ende denkt. Dazu ist es zu warm. Während der Blick sich in leichtem Schwindel verschleiert und man die lang fortgehaltene, mit Puder weggezauberte Feuchte unwiderstehlich hervorbrechen fühlt, sieht man in ein kühles, launisches kleines Gesicht. Dies blickt durch die massive Menschheit hindurch wie durch Glas. Es ist keins von ihren eigenen Gesichtern – ein importiertes Gesicht ist das; es hat nicht vor, sich hier einzuleben und in irgendeiner Veranda Weltevredens oder Buitenzorgs wie eine fahle Papierlampe zu schaukeln, bis ein Fieber es rötlich färbt oder ganz verlöschen läßt. 64 So völlig beziehungslos dreht sich das Köpfchen hin und her, als sei ein regsam hübscher Vogel plötzlich unter die Gesellschaft überfütterter Tauben geraten. Sie umtrippeln ihn und gurren. Doch der Vogel stößt nur eine perlende Klangfigur aus, die man nicht im Notenbuch der Tauben findet, und ist auf und davon wie ein blauer Blitz.
Nora fühlt, daß sie Aufsehen erregt. Es macht ihr spitzbübischen Spaß – oh, dies ist eine Plattform, auf der man sie nicht greifen kann und kein Recht hat, sie zu tyrannisieren. Und merkwürdigerweise empfindet Kehmerdill die Tatsache, daß er in dieses Aufsehen gewaltig mit hineinbezogen wird, und daß das große Klatschmaul der weißen und farbigen Fama sich schon erwartungsvoll die Lippen leckt, lediglich als Erhöhung seines eigenen Lebensgefühls. Er grüßt, den fremden Vogel gleichsam präsentierend vorgeschoben, mit fast aggressivem Gleichmut bekannte Gesichter, die aus dem Strudel tauchen. Kaum lächelt er dabei.
Da plötzlich sieht er in Hendriks fahlbraunes, langnasiges Gesicht . . . Es ist schier dumm vor Feindschaft; die dicken Lippen zittern darin. Während er sich dieses Gesicht innerlich vervielfacht, wird wieder das Tribunal daraus, das sich unverständlich ziert, leidet, und auf ihn losfährt wie eine Rotte aufgehetzter Kinder. In flammender Sonne sitzt eine Alte mit einem Gesicht aus Seifenstein und kreischt . . . Plötzlich findet sein Blick Noras Augen, und er sinkt darin unter wie in einem Schacht von Geborgenheit.
»Sie sind blaß, Herr Doktor,« spricht sie klug und schnell. »Hören wir auf?«
65 »Nein, beileibe nicht,« flüstert er heftig zurück. »Ich bin immer blaß. – Das ist Indien.«
»Indien . . .« echot sie, eine kleine Grübelfalte in der runden porzellanweißen Stirn. – »Sind wir auch in diesem Moment – in Indien?«
Sein Gefühl der Geborgenheit wächst, und damit seine Angst, sich um Gottes willen nicht zuviel in diese launischen kleinen Glossen hineinzudenken. Eine Täuschung wäre unerträglich.
Die Kapelle trommelt weiter im Takt eines verblutenden Pulses. Irgend jemand singt mit: flache Stimmen steigen dort hinter den Instrumenten auf. Sie beten, die Halbblut-Musikanten, zu ihrer Gottheit, die »Katharina« heißt; in der Mitte eines Taktes, beim Verstummen der Synkope, schluchzt ein brünstiges »Och!« – Vielleicht hat diese Gottheit, der sechs Gesichter huldigen mit hurtig rollenden Sammetaugen, blondes, kurzgeschnittenes Haar und weißes niederländisches Fleisch; höchstwahrscheinlich hat sie das. Aber Kehmerdill hat den Typus »Katharina« von jeher abgelehnt. Er liebt den Klang der Holzpantinen nicht, der durch die Äußerungen solcher Frauen klappert.
Rings um sie ist trotz aller Vorsicht – schon durch den Takt der neuen Piece – eine Beschleunigung in die Leute geraten. Ganz aus der Seele ist es ihnen gesungen, dies Gassenhauerchen aus Rotterdam. Wären sie, in all ihrem verpflanzten Bürgertum, um einen Pahit-Tisch versammelt, das fühlt man, so ergäbe sich großes Lustgekreisch und sinnenfreudiges Tohnwabohu . . . Die Gesichter röten sich. Gespräche 66 werden gewagter, sichtbare Transpiration setzt ein.
Und mittendrin fühlt Kehmerdill sich wie auf einer Insel.
»Sie haben recht,« flüstert er nach zwei Minuten. »wir sind in Europa. Sie sind Europa.«
»Also die Quintessenz von Vollkommenheit,« sagt der spöttische kleine Mund (etwas geschürzt wie bei jener noch stummen, aber schon geformten Frage: »Was hast du mit deinem Leben gemacht?«): »Das wollten Sie doch damit sagen? – Apropos,« sagt sie plötzlich mit veränderter Stimme, »wie geht es Ihrer Frau?«
Ein Zufall will, daß sich in diesem Augenblick Hendrijk wieder vorüberschiebt. Kehmerdills Augen verengen sich; ihn erfaßt leidende Wut. Nora folgt seinem Blick und fängt den Ausdruck jenes fahlbraunen Gesichtes auf. Ihr ist als werde sie angesprungen. Es ist nur eine Sekunde. Sie hat den Eindruck einer großen Silhouette, eines seltsamen Schmelzprodukts aus gewohnter gesellschaftlicher Gebärde und aalgleicher Glattheit der Tropen. An diese dunkle Figur wie gekreuzigt, in gelbe Rohseide gekleidet, perlblaß vor Anämie, hängt eine Jungfrau, der das Klima nicht bekommt.
»Wer war das?« fragt Nora fröstelnd.
»Der Bruder meiner – früheren Frau.«
»Ah! – Ihrer ›früheren‹ Frau?«
»Ja. – Wir leben bereits getrennt. – Es ist nur Formsache, daß wir uns scheiden lassen.«
»Sieht – jene Dame ihrem Bruder ähnlich?«
»Sehr! – Es herrscht in ihrer Verwandtschaft –« Kehmerdill wird plötzlich fast schwatzhaft, – »eine 67 ausgesprochene Familienähnlichkeit . . . Man kann fast sagen, sie gleichen einander wie Eier. – Wie Krokodilseier.«
»Man soll,« sagt Nora mit rätselhaftem Ausdruck, »von den Abgeschiedenen nur Gutes reden. Denn für Sie scheint sie doch gewissermaßen tot zu sein.«
»Für mich ja . . . das heißt hoffentlich. Für ihre Welt ist sie sehr lebendig – schauderhaft lebendig.«
»Wie sagten Sie? . . . Die Musik . . .«
»Ich sagte: ungewöhnlich lebendig, denn sie verkörpert das akuteste Problem, das wir hier haben: – das Mischlings-Problem. Man hätte schon längst zu englischen Methoden greifen müssen. Aber dafür ist man hier zu uninteressiert.«
»Also haben auch Sie zu den Uninteressierten gehört. Die ehelichen Folgen solch mangelnden Interesses sieht man ja hier. Bis zwanzig sind sie ganz reizvoll, diese Mädchen; geradezu hübsch, nein?«
»Ich war zehn Jahre jünger . . .«
»Und vor zehn Jahren waren Sie sehr stürmisch und unbedenklich . . . Und jetzt sind Sie seit Monaten – oder Wochen? – getrennt . . . Sie Armer . . . Das war wohl eine lange Zeit . . .«
»Der Zufall wollte, daß meine Trennung – zeitlich mit – Ihrer Bekanntschaft zusammenfiel.«
Nora dreht ihr Köpfchen ruckweise umher; ihm scheint, als atme sie stark aus und schmiege sich dabei um einen winzigen Grad weniger elastisch an seinen stützenden Oberarm. Dann beugt sie den Kopf, so daß er sehen kann, wie sich das goldbraune Haar mit feinflimmerndem Flaum in die weiche Nackenrinne hinei68 nverliert. Und die gelben Brillanten pendeln gewaltig schnell, wie kleine Uhrenpendel, die diesen köstlichsten aller Momente abmessen und zerspalten.
Er kann nicht darauf schwören; er hört's nur mit dem ganzen ihr entgegendrängenden Wesen, daß sie zum Parkett hinunterflüstert:
»So so – wirklich der Zufall?« 69