Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Das Stigma Indiens

Der große Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd schraubt sich aus dem Hafen von Singapore in den offenen Indischen Ozean. Der schweigsame Arzt aus Batavia hält sich nie im Rauchzimmer auf. Er verbringt den Tag an Deck. Gewöhnlich trägt er eine Brille aus Rauchglas, als ob das Starren auf die funkenwimmelnde Wasserwüste seinen Augen weh tue, er es aber trotzdem nicht lassen könne, nach Westen zu spähen. Nur, wenn der maßlose Wolkenprunk in der Malakkastraße den Beginn des Abends kündigt, nimmt er die Brille ab und steigt auf opalfarbenen Stufen tief in Noras mütterliches Herz.

Er weiß, daß sein Leben eine unerhörte Wendung erfuhr. Hinter ihm, im wesenlosen Scheine, verdämmert Indien. Meilen nach Meilen mühen sich ihn zu trennen von der saugenden Kraft dieser dunkelbelaubten Ufer, dieser glutgebadeten Höhenketten.

Noch sitzt ihm der Hunger in der Brust. Doch ist das Verlangen nach dem Gift keine vergewaltigende Faust mehr, die ihn im Nacken packt und zum Pfuhl niederbeugt. Der hämische kleine Dämon aus der Schildpattdose zupft nur noch, wenn auch peinvoll, in Abständen an seinen Nerven. Er gibt sich noch 226 nicht ganz zufrieden. Aber Kehmerdill weiß, daß die Zuckungen allmählich einschlafen; gelindert werden und gelöst vom großen, allumfassenden Glücksgefühl.

Die Etappen der Reise reifen langsam ihrem Ende zu. Lärm und Geschwirr der Häfen versinkt. Jene ödesten Träume werden durchsteuert: das Rote Meer, das Brackwasser der Welt. An Abenden steigt, aus deutlicher Dämmerung, deren Dauer wächst, scharf das staubige Orangerot kahler entgleitender Ufer. In den Dunkelheiten webt es fern von Türkis, bis das grelle Gefunkel der sich wandelnden Sterne entsteht: als habe man eine Handvoll Juwelen hinaufgeschleudert, die seltsam körperlich hängenbleiben im Raum.

Und tagsüber – nach Suez – öffnen sich die tiefsten Verschwiegenheiten sandiger Welten neben totem Quallenwasser. Im weißen Morgenlicht rühren sich seidene Kamele. Violette Salzlaken funkeln in unerhörter Wüstenklarheit . . . Und diese Klarheit erfüllt auch ihn.

Das Klima wechselt; kühler Nordwind braust; Februarwind; man sucht europäische Kleidung heraus, man fröstelt . . . Denn die alte Heimat kommt näher, die Mutter allen erstickten Empfindens, das nun siegreich hervorbricht mit verwunderten Fragen, mit süßem Erschrecken: – Europa.

 

Im Hause Erdbrinks in Hamburg, in einem Palais, das wie eine kleine Sandsteinfestung in den Gärten an der oberen Alster steht, wartet Nora.

227 Es ist in einem hohen Raum zu ebener Erde, dessen französische Fenster, mit weißen Mullvorhängen verhängt, in den nebelerfüllten Garten blicken. Es ist kalt; so brennt ein Feuer im geräumigen Kamin. Der Raum enthält mehrere große zwanglos hingestreute Fauteuils; ein Messingtischchen für Tee steht in der Nähe des Kamins. Das Parkett ist seiner ganzen Breite nach von einem Smyrna mit verschwommenroten Mustern bedeckt.

Es wird keine halbe Stunde mehr dauern, dann steht er vor ihr. – Sie trägt ein dunkelblaues Kleid aus feinster Wolle; oben teilt es sich; die Brust ist halb bedeckt von einem Einsatz aus Goldbrokat. Um den offenen Hals schlingt sich eine Kette milchweißer Perlen und pendelt bis zum Schoß herab.

Seit sie heute auf ihn wartet, hat sie das Sofa nicht verlassen. Die Brust über die Seitenlehne geschmiegt, starrt sie in die knackende Glut. Auf ihrer Stirn nistet die Brauenfalte. Sie ist von ungeheurer Nachdenklichkeit; ihre Lippen bewegen sich flüsternd, als ziehe sie die Bilanz mit Erdbrink; ein paar Wochen noch, dann muß ein fetter Schlußstrich daruntergezogen werden von einer Hand, die nicht zittern darf. Dann wird das Hauptbuch zugeklappt mit einem Knall, und man nimmt ein neues mit blütenfrischen Blättern. – Aber ihre Hand darf nicht zittern!

Die Klingel draußen schrillt. Nach einer Pause, die von aufgestörten Herzschlägen durchbebt wird, meldet der schwarzgekleidete Diener in den Raum hinein:

»Herr Doktor Kehmerdill.«

228 »Ich lasse bitten,« tönt es zurück wie aus einer Gruft. Ein einsames Sätzchen! Sie hat es in den Samt der Polsterung hineingesprochen. Der Diener hört mit geschärftem Ohr die Zustimmung heraus.

Zunächst sieht der Doktor nur das Licht, das die Stores erzeugen, und eine Dämmerung, die auf den Sesseln dort am Ende des großen Raumes nistet und mit den zuckenden Flammenschatten auf dem weiten Teppich kämpft. Dann aber sieht er das kleine blasse Gesicht, das unter der goldbraunen Pagenkappe hervor über die Lehne des Sofas lugt, und den leuchtenden Hals.

»Nora,« sagt er und geht etwas zögernden Schrittes auf sie zu. Sie kommt ihm nicht entgegen. In ihrem Blick ist ein Staunen.

Sie läßt sich von ihm küssen und gibt den Kuß wieder. Sie will nicht, daß er sieht, daß sie staunt. Um ihn noch besser betrachten zu können, schiebt sie ihn an den Schultern von sich.

Er trägt einen Anzug aus gutem Stoff, etwas forsch Englisches, sportlich Betontes; daran, daß sich da und dort Falten bilden, wo sie nicht hingehören, sieht man, daß er fertig gekauft ist. Einen hohen Hemdkragen trägt er und eine erstaunliche Krawatte von grellem Blau. Die Strümpfe harmonieren nicht damit.

»Dies sind ja Äußerlichkeiten . . .,« denkt sie verbissen. »In ein paar Tagen gewöhnt man ihm das ab.« – Sie hat ihn bisher nur im makellosen Weiß eines zweimal täglich gewechselten Leinenanzuges gesehen. – – Und jetzt, zum erstenmal, sieht sie auch, 229 daß seine Gesichtsfarbe und seine Hände gelb sind. Es ist nicht auffallend; bewahre; es ist nur ein Ton der Haut, ein Hauch von Gelb, der seltsam absticht von dem Teint anderer Leute, unter denen sie vorher lebte und jetzt wieder lebt. Es ist nur ein Hauch . . . Und doch wirkt es wie das Symptom eines Lasters, als komme dieser Mensch aus einer gefährlichen abseitigen Atmosphäre . . . Sie ist fast untröstlich darüber, daß sie dies gerade in diesem Augenblick bemerkt.

»Das ist ja alles belanglos!« wiederholt sie formelhaft bei sich. »Es ist mein Freund; es ist der Mann, den ich liebe . . .« Ihre Augen verschleiern sich. »Setze dich doch, Otto. Nun bist du also da. Nun bist du da!«

Er läßt sich auf dem Sessel ihr gegenüber nieder. Seine Erregung nimmt ihm die Worte; nach alter Gewohnheit läßt er die Schnurrbartspitzen durch die Finger gleiten . . . Durch Finger, die ebenso wächsern sind und zittern wie bei einem Genesenden. Der Blick, mit dem er sich umsieht, hat etwas Unsicheres. Er bemüht sich, diese Unsicherheit durch ein Lächeln zu verdecken.

Auf einmal wird ihr seltsam klar, was sie empfindet. Es ist nicht Kehmerdill, der sich verändert hat.

Er bringt dies unsäglich Fremde mit sich, das er in sich aufgesogen hat zehn Jahre lang, das ihn in den Klauen hatte, und strahlt es aus. Er kann nichts dafür! Aber aus jeder seiner Bewegungen steigt äffend dies Fremde auf wie ein Gespenst . . . Wie ein zweites schemenhaftes Gesicht, eine zweite Kontur, in der er steckt; eine Hülle . . .

230 Grelle Farben entrollen sich vor ihrem inneren Auge; geisterleis dringt Geschrei an ihr Ohr, ihre Brust wird beklommen vom Gedächtnis an eine fragwürdige Schwüle, an ein Asthma . . .: Indien.

Sie kämpft. Sie atmet tief auf. »Otto!« sagt sie. »Sprich, Otto!« Sie gleitet hinüber, und wühlt mit ihren Augen in den seinen . . . Er blinzelt; sein Lächeln wird zur pathetischen Grimasse. Sie faßt sich und geht an den Teetisch. Sie schenkt ein und bringt ihm die Tasse. Er schlürft sie gierig hinunter, als sei es etwas Berauschendes. – Und endlich findet er Worte.

»Ich habe deinen Brief nach Port Said erhalten. Es ist also noch nicht ganz so weit?« (Ist seine Stimme auch verändert? Ist das die alte Stimme von damals auf dem Tjibodas, die Stimme des trostreichen Freundes? Ach was, sie ist ihrer nur entwöhnt, dieser leicht schleppenden Akzente, dieser netten kleinen Sprachschnitzer, die sie damals völlig überhörte!)

Sie rafft sich zusammen. – »Noch nicht ganz; nein,« sagt sie ruhig. »Die Formulare sind noch nicht unterschrieben.« – (»Meine große Liebe, meine einzige und letzte,« betet sie dabei, als wolle sie sich an ein Stichwort klammern . . .)

»Wie lang' dauert das noch?«

»Vielleicht drei Wochen, Otto . . . Du wohnst im Hotel?«

Ja. – Er wohne im Atlantic. – Man sei dort leidlich aufgehoben.

Das Groteske der Situation überwältigt sie plötzlich. Hier sitzen sie beide nach einem unerhörten Erlebnis, das sie sprunghaft einander schenkte wie 231 zusammenschießende Kristalle und wechseln konventionelle Redensarten wie im Coupé. – – Sie lacht hell auf.

»Otto!« ruft sie, »was sind wir doch für Menschen . . . Denke dir, hier habe ich gewartet und gewartet, mein Lieber . . . Auf dem Atlas habe ich die Tage markiert, bis du kommen würdest. – Wenn er sich nur nicht den Schnupfen holt! habe ich gedacht, als du aus dem Suezkanal hervorkrochst und deine Nase in den Nordwind stecktest . . . Er kommt aus der Hitze; man muß ihn in Wolle wickeln und gut behandeln! – Du bist wohl ein wenig konfus, wie? Ich kann's mir denken; zehn Jahre sind ja eine so lange Zeit in dem schrecklichen Land. Aber wart' nur. Ich pflege dich! Ich modele dich um! Ich mache dich gesprächig! Du findest dich schon hinein in unser altes Europa. Dir ist alles fremd geworden, wie? Das ist so begreiflich . . . Siehst du! Nun faßt du schon Vertrauen.«

Es zuckt in seinem Gesicht. Dann macht er eine Gebärde, als wische er mit der Hand etwas von der Stirn, und lächelt wieder. Doch ist es kein Krampf der Wangenmuskeln mehr; es ist das Lächeln eines Menschen, der sich seiner Genesung bewußt wird.

Und nun macht er einen Anlauf zur Gesprächigkeit, der alles wettmachen soll –: »Du hast ganz recht, Nora. – Es hat tausend Gründe, warum ich dir jetzt schwerfällig erscheine. War ich die heiße Tretmühle da drüben auch sterbenssatt, so war sie mir doch zu einer Sorte übler Gewohnheit geworden . . . Du kamst und rissest mich heraus. Gabst meinem Dasein andern Sinn. Heyermans, der herrliche Kerl – (ich glaube fast, er war selbst ein wenig in dich verliebt!) – hat noch das Seinige getan, um mir die Scheuklappen herunterzureißen. Ihr zwei wurdet die Pole, ihr wart das Trockendock, und da zog man das Wrack hinauf und firnißte und takelte es neu . . .«

»Es sieht schon ganz passabel aus,« pflichtet Nora bei. – »Ich lege noch letzte Hand, du erlaubst, an die Takelage . . .«

»Nun der zweite Punkt. Geschmacksfragen. – Man ist ein wenig Outsider geworden; wie? – Die weißleinene Menschheit dort braucht weder Krawatten noch Hemden. – Doch man versiert sich . . . Du schwelgst hier im Zentrum der Kultur; das sieht man. Ich nehme an, das sind deine Einfälle . . .« – er blickt sich um. – »Das heimelt mich derartig an, daß ich fast verwirrt bin. – Dritter Punkt: Du weißt, ich bin so ziemlich gewohnt gewesen, der Menschheit drüben meine Wünsche zu diktieren. Sie heißen Mahil, oder Nas, oder sonstwie; das sind verständliche Namen. Man pfeift; sie kommen. – Hier aber gibt es die große Höflichkeit. Kellner, Zimmermädchen, Liftboy, Portier – alles macht leere Phrasen . . . Jedem hängen Spruchbänder zum Mund heraus. Ich werde wie ein Patient behandelt. Ich bin der Nabob.«

Nora lacht schallend und befreit auf.

»Weißt du was, Otto? – Eröffnen wir doch einen Toko Bombay hier, einen Kramladen, und kleiden sie indisch ein . . . Den Liftboy vom Atlantic im Sarong! – Dann fühlst du dich hier zu Hause! – Nein, mein Lieber, du redest Unsinn. Du mußt solche Hemmungen beseitigen. Zunächst einmal die Angst vor mir.«

233 Sie steht wieder auf, zieht auch ihn empor und preßt sich an ihn. Ein Strom von Kraft geht von ihr zu ihm über.

»So ein Unsinn,« flüstert sie. »Behandle sie ruhig wie Mahil und Nas. Und was bin ich? Deine Nonna. Nur das Kostüm ist anders, an Kulissen gewöhnt man sich. – Und was deinen Urlaub betrifft, arbeite ruhig weiter hier, mach' eine Praxis auf, für Seeleute . . . Die brauchen deine Tropenkenntnis, sollt' ich meinen! Ich passe schon auf, daß du des Guten nicht zuviel tust. Bücher . . . Kunst . . . Es ist ja alles da, um dir das Leben zu verschönern.«

Plötzlich ist es, als werde sie matt in seinem Arm. Mit schmerzlichem Lächeln: »Es ist fast zuviel für mich, verzeih. – Du wirst ein ganz gesunder Mensch, du brauchst nur zu wollen. Bemüh' dich nur, Indien hinauszuwerfen aus dir. Das geht hier in Hamburg gut; ein normaler Prozeß . . . Ein paar Wochen, und du kennst dich selbst nicht wieder . . . Komm morgen! Komm jeden Tag! Du wirst sehen, alles wird gut!«


Er ist gegangen und sie steht noch mitten auf dem Teppich.

»Es wird noch alles gut, wie?« fragt sie laut in die Stille hinein.

Kein Echo kommt. Sie setzt sich wieder aufs Sofa und grübelt.

Plötzlich wie eine Stahlfeder, mit einer entschlossenen Bewegung, richtet sie sich auf und ballt die Hände. 234


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