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Es geht hoch her bei Mijnheer van Kersten.
In den Kelchgläsern siedet Sekt; man ist in Solo, Soerakarta, mitten im Herzen der Vorstenlanden, im Zentrum von Altjava; und Kehmerdill fühlt sich wohl. Der stiere Blick und das ältliche Kopfwiegen haben ihn verlassen. Er spannt mächtig aus, den Teufel ja. Hier kann man es tun, wer will ihn hindern? Alles befördert und schürt ein rosiges Behagen.
Tritt eine Pause im Mahle ein, so hört man leises Sohlenplatschen auf den Fliesen. Die zwanzig Weiberchen, die für das Behagen des Gastgebers sorgen, sind voll alarmierter Geschäftigkeit und kredenzen. Sie rennen nicht; es ist eher ein schnelles Wandeln mit eingezogenem Kreuz, vorgeschobenem Schoß und ständigem Beben der Hüften. Verschämt und leicht nervös, wollen sie es um keinen Preis mit dem Hausherrn verderben, der trotz Behäbigkeit ein scharfes Auge hat. So tragen sie ihre Schüsseln mit schier ritueller Geste und wenn sie servieren, ziehen sie die Lippen ein und die großen Augen flackern angstvoll, während die Finger scheu zittern und die kleinen Brüste von stockendem Atem schwellen. Haben sie nichts zu tun, dann sinken sie im Hocksitz nieder, schlagen 147 gedämpft kichernd ihre dunkelblauen Sarongs in stramme Falten und ziehen die runden Schultern in die bunten Jackenärmel.
Das Luncheon erreicht sein Ende. – »Sie werden sich jetzt niederlegen wollen, Madame?« fragt Mijnheer van Kersten. Und Nora, mit einem Blick auf Kehmerdill: »Sie haben nur zu befehlen, Herr van Kersten.« –
»Also gut, ich wünsche Ihnen eine gesegnete Siesta; um fünf wird auf der Veranda Tee serviert.«
Nora und Kehmerdill, beide mit Zigaretten versehen, betten sich auf zwei Strohcouchetten der Halle nächst der Veranda.
Die Jalousien sind heruntergelassen. In der Halle steht ein großer eingelegter Tisch, umringt von Strohsesseln. In einem Paar mächtiger chinesischer Blumenkübel wuchern großblättrige Gewächse. Bis auf müßiges Droschkentrappeln ist es draußen still. Mitten in dieser sumpfigen Stille hört man ganz ferne Böllerschüsse. Als Echo klingt nadelfeines Singen im Porzellan. Das ist das tägliche Gewitter, das sich meldet. Ein gelbblühender Baum schickt Vanilleduft herein. Zuweilen braust eine blauschwarze Hummel durchs Haus, das ganz erfüllt ist vom leisen Schnalzen der Tschitschaks.
Von Schlaf ist noch keine Rede. Man duselt ein wenig; aber die Gedanken sind aufgestört wie ein Ameisennest. Erst gestern sind sie von Djokjakarta angelangt, und es ist gewesen, als habe ihnen bei der Bahnfahrt ein Dritter Gesellschaft geleistet; als habe dieser Dritte sie mit verständnislos wühlenden Augen verzehrt, so daß sie nicht recht Atem schöpfen 148 konnten. Nun sind sie ja im Schlupfwinkel. Und die Stimme des Gewitters: ist es das leise Schnarchen des Mannes, der keuchend in fruchtloser Wut die Wolken schiebt?
Kehmerdills Stirn ist heiß wie ein sonnendurchglühter Ziegel. Natürlich ist es bloß der Sekt, der ihn nicht schlafen läßt!! Denn eigentlich ist er übermüdet. Die Ereignisse der letzten Tage tanzen unter seinen Lidern wie ein stummes Gewühl von Farben und Menschen. Er sucht die Bilder zu erhaschen. Doch da verschmilzt alles zu opalfarbenen Höhenzügen, die sich schwellend verändern und Gefahr bedeuten. Dann wieder tritt junges funkelndes Reisgrün, überwirbelt von Benzinwolken, in den Vordergrund, und er sieht aufgepeitschte Staubfahnen unter endlosen Schattenalleen . . . Er reißt die Augen auf.
Nora dort drüben ist gänzlich im Schlaf ertrunken. Der eine Arm hängt von der Couchette, der andere ruht friedlich im Schoß. Ihr Gesicht ist nicht leidvoll wie damals im »Daendels Hotel«; keine Verfinsterung trübt die eirunde Glätte der Stirn. Ganz in diesem keuschen Weiß liegt sie mit ihren goldbraunen Locken. Zuweilen zuckt ein Nerv an ihrem Bein oder an ihrer Hand . . . Wie er sie so liegen sieht, ist ihm, als hätten sie beide qualvolle Dinge durchkämpfen müssen mit dem Endzweck, einander am Tag der Erfüllung so weiß gegenüberzuliegen, zusammengehörig und erlöst von der Hetze irregeleiteter Wünsche.
Die Rolljalousie aus Bambus legt ein Flammengitter auf die Fliesen. Sie knarzt leise, denn ein 149 Lüftchen stiehlt sich herein aus dem hohen Blau. Kehmerdill denkt an die Hotels seiner Jugend; er denkt daran, wie damals in Genua – verschollene Welt! – seine Mutter in solchem Sonnendämmer ihren letzten Atem verhauchte. Dumpf findet er sich zu Ausgangsorten, und seine Brust ist beklommen wie von vergessener Musik.
Und da es nun so still ist bis auf das ferne Donnern im Blau, kriecht seine Seele ganz zurück. Seine Lider fallen wieder zu. Er wandelt auf dem milchigen Saumpfad von Träumen; er weiß nicht mehr, wie alt er ist. Nur darüber ist er verdutzt, daß alle beschützenden Hände entgleiten. Das verschollene Leben vor seiner indischen Zeit wird wach; in Verkleidungen rührt sich Totgeglaubtes mit all dem Moderduft des längst Versäumten.
Nun wird der Traum deutlich. Da ist wieder das funkelnde Reisgrün. Er sitzt am Steuer seines Autos, doch der Zünder versagt, und er hat keinen Ersatz.
Verzweifelt müht er sich ab, den Motor in Gang zu bringen.
Da kommt Kusuma. Er schnalzt bedauernd mit der Zunge und wandert die endlose Sykomorenallee hinunter; zwischen den Stämmen sieht man sein schmetterlingsbuntes Kopftuch rhythmisch auf- und untertauchen. Schon ist er weit fort; doch als der Doktor seinen Namen schreit, wirbelt er mit dem Stöckchen und winkt anheimstellend zurück.
Koos erscheint, Hände in den Taschen. Er sagt: »Gottverdammich! – Das ist dumm, Doktor.« Er versucht zu helfen; er bastelt, schnauft, flucht vor sich 150 hin. – »Ich muß dich verlassen,« meint er schließlich. »Du weißt, wir alle müssen fort . . .« Und auch er geht weiter; ab und zu klingt sein Lachen noch auf, wie verhallendes Gebell.
Ein mattes Licht legt sich auf die Szene. Gurrend erscheint Salbeiblatt; er wiegt sich gefallsüchtig in den Hüften. Als er den Doktor bei so schweißtreibender Arbeit sieht, legt er die gespreizten Hände vor den Mund und läßt ein übles Lächeln hindurchsickern.
Kehmerdill denkt entsetzt: »Zehn Jahre nun schon müh' ich mich ab; und keiner hat mir geholfen. Jetzt ist die Zeit um. Wenn ich nicht vom Fleck komme, geschieht etwas Furchtbares.« Auf einmal sieht er Nora neben dem Steuerrad im Auto sitzen. Hat er sie denn die ganze Zeit übersehen? Und wiewohl er so beschäftigt ist, spürt er hemmungsloses Mitleid mit ihr. – »Ich hätte dir schon geholfen,« flüstert sie und deutet listig auf ihr eigenes blasses Gesicht, »aber ich konnte nicht. Ich bin zwar ganz gesund, verstehst du. Nur das ewige Veronal macht mich so müd.« Zusehends verfärbt sie sich. Da sieht er eine düstergelbe Windhose von hinten herannahen. Vor dieser anrückenden Wand bewegen sich Menschen, die ihm übelwollen; Erdbrink ist an der Spitze, er überragt sie alle. Neben ihm, zeternd, humpelt mit schauderhafter Behendigkeit die alte de Ruyter und schwenkt einen Fächer aus Banknoten wie ein corpus delicti erster Klasse. Dann kommt Hendrijk, dann Peter; sie schleppen die atemlose und kreischende Antja zwischen sich. Eine ganze Phalanx ist es von herzuschnellender Erbitterung, und hinter ihnen wälzt sich das 151 graugelbe Ungemach, das ihn unwiderruflich verschlingen wird. Schon ist Erdbrink in nächster Nähe und seine traurigen Augen dringen lähmend auf den Doktor ein. Und während dieser sich keuchend mit letzter Raserei am Motor abmüht, fühlt er: »Dies ist der Tod.« – Sein Herzschlag donnert. Schon kommt der Moment, wo die Verfolger zu pfeifenden Ratten werden und ihn anspringen. Ahrrr . . . Er schnappt nach Luft und fährt in die Höhe.
Sein Kopf ist in kühlen Duft gebadet. Eine Stimme fragt: »Liebster, was stöhnst du so?« Hinter dieser Stimme steht der Nachhall eines Donnerschlages und anschwellendes Rauschen von Regen.
Nora kniet an seiner Couchette und hält den Arm um seinen Hals. Noch spinnt sich die gräßliche Vision, buntverblassend, auf dem weißen Regenschleier weiter. Er starrt in das kleine angespannte Gesicht; das fahle Phantom tritt zurück; die Wirklichkeit behauptet sich lächelnd und gesund. Da atmet er tief beruhigt auf und stößt hervor: »Gott sei Dank, daß du mich geweckt hast!«
»Du hast dumm geträumt. Ich bin bei dir! Was war es denn? Ich hatte fast Angst. Mir war zumute, als zerrte mich jemand von der Couchette herab.«
In seinem Blick ist noch der Nachschimmer des Entsetzens. »Ich war steckengeblieben, Nora,« stammelt er, »gänzlich steckengeblieben. Kennst du das Gefühl? Ich kam einfach nicht vom Fleck. Und niemand konnte mir helfen.«
»Auch ich nicht?«
Er schweigt. – – Sie streichelt seinen Kopf. In 152 ihren Blick tritt eine Fremdheit; sie sieht ihn aufmerksam an. Aus einmal meint er ganz lustig: »Es ist ja gerade, als wollten wir ins Orakeln verfallen. Wenn man so träumt, so sind das die Nachklänge von früher, die einem zusehen . . .«
»Otto, ich bitte dich, schwatze keinen Unsinn. Im Traum kommt einfach heraus, daß du meiner nicht sicher bist. Innerlich sitzt dir noch ein Zweifel. Da muß ich noch einmal gründlich durchfegen. Bildest du dir ein, ich hätte alles aufs Spiel gesetzt, wenn ich meiner und deiner nicht sicher wäre? Solange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe, bleibst du nicht stecken. Natürlich sind deine Nerven kaputt, und ich reiße dich noch vollends aus dem Geleise. Bist du aber nicht, wenn man an deine vorherige Einbalsamierung denkt, schon recht beweglich geworden?« Sie lacht. »Ich werde dir noch beweisen, daß ich dir auf die Beine helfen kann . . .«
»Bin ich das wirklich wert?«
»Eigentlich nicht, wenn du so albern träumst. Aber schließlich kann der Mensch nichts dafür, was er träumt, nach Sekt und bei 38 Grad Hitze. Dein Kopf war ganz vom Kissen heruntergerutscht . . . Ich glaube, du bist immer empfindlich gewesen! Und bei deinem weichen Gemüt, geschätzter Freund, hast du allerhand ausstehen müssen! Wie deine Halfcastegattin dir auf die Nerven fiel, kann ich mir sehr gut vorstellen. Deswegen hast du auch wie eine Maschine geschuftet. Daß du nicht zum Misanthropen oder Trinker geworden bist, macht dir alle Ehre. Das imponiert mir.«
153 Er beißt sich auf die Lippen. Sein Gesicht wird vorübergehend fleckig. Er schluckt hinunter.
»Vorläufig bin ich ein undankbarer Kerl und stecke deine Güte ein wie ein Trinkgeld.«
»Nett gesagt. – Aber schließlich gestatte ich es dir ja auch.«
Sie erhebt sich aus der knieenden Stellung und setzt sich neben ihn; sie beugt sich über ihn mit einem langen Kuß. Er sinkt zurück. Die eine Hälfte seiner Jacke steht offen und hängt auf der Seite herab. Er versucht sie an sich zu ziehen. Der Brief von Heyermans ist in der Tasche und auch eine gewisse kleine Schildpattdose.
»Ich will aufstehen,« sagt er mit belegter Stimme. – Sie erhebt sich; er rafft den Zipfel an sich und knöpft sich die Jacke zu. Das Papier knistert.
»Es ist Zeit zur Dusche,« sagt sie plötzlich. »Ich lass' dich bald in die Kammer . . .« – Ihm zunickend verschwindet sie. Er sieht ihr nach; mechanisch lächelt er den leeren Gang hinunter. Es ist kein ganz offenes Lächeln. Wenn er sich jetzt im Spiegel sähe . . . Aber wiewohl Mijnheer van Kersten über eine Menge der schönsten Prunkspiegel (Marke Warenhaus) verfügt, befindet sich gerade dort, wo Kehmerdill steht, keiner; und das ist auch vielleicht gut so.
Langsam schlendert er auf die Veranda. Im Garten steht ein weißgetünchter Elefant aus Plastilin, halblebensgroß. Der Hausherr hat wohl von einer gewissen westlichen Gepflogenheit gehört, tönerne Rehe oder karrenschiebende Zwerge zur Belebung des Gartens anzubringen und wollte, in Anpassung an 154 indische Verhältnisse, offenbar ein übriges tun. »Das ist immerhin rührend,« denkt der Doktor. »Gipsgöttinnen, bronziert, leuchten mir zum Speisezimmer, und wohl nie werde ich herausbekommen, ob der Messingfrosch dort hinten eine Sparbüchse oder ein Spucknapf ist. Guter van Kersten. Du kennst Europa nicht. Du bist hier geboren und hier geblieben. Nymphen in Seerosen und Öldrucke, in Hirschhorn gerahmt, bedeuten dir mehr als uns. Trächtig sind sie dir von allem Reiz der Fremde. Auch du hast dein zweites Leben, guter Greis. Sechsundsechzig Jahre in Indien!! Großer Gott.«
Diese Beobachtung formt Kehmerdill in leisem Selbstgespräch. – »Zwerge!!« flüstert er noch einmal und schüttelt ältlich den Kopf – »Schubkarrenzwerge . . .« – Doch es läßt sich nicht übertäuben und nicht anhalten, was in ihm wächst und ihn durchschüttelt. Er versucht, sich über Mijnheer Kersten zu amüsieren; es gelingt ihm nicht.
Es ist eine zu bittere Pille, die hemmungslose unfaßbare Güte dieser Frau. Kaum verdaulich. Er schluckt Speichel. Jetzt steht sie unter der Dusche; er hört das Plätschern des Wasserschöpfers. Durch und durch sauber ist die Frau – klar an Geist und Leib. Auch über sich selbst ist sie sich klar.
Wenn er das von sich behaupten wollte, so würde er, um mit dem Referendaris zu reden, den Tatsachen »greulich schmeicheln«. Und doch! – Nora hat ihn soeben hübsch charakterisiert. Glauben wir einmal, zum Spaß, an die gütige Meinung der Frau! Was man fest genug glaubt, tut einem vielleicht den 155 Gefallen und wird zur Tatsache! Sie glaubt, ich sei ihrer wert!
Wo ist da ein strikter Beweis, daß sie sich täuscht? Hat sie nicht auch vor sich davonrennen wollen? In »Daendels Hotel«?
Er fährt mit dem Finger an der Nase herab. Mit diebischer Bewegung stiehlt sich seine Hand in die Tasche und umschließt die kleine Dose.
Noch zögert er. Verdammt, daß er sich immer um die Stimmung bringen muß mit faulen Sophismen! Das Schildpattdöschen brennt ihm in der Hand, die Finger zucken. Zwanzig Gramm sind es noch . . . Das genügt für einige Zeit. Langsam gewöhnt man sich's ab, ökonomisch muß man sein. Zwischendurch schlürft man Gesundheit aus der prachtvollen Kameradschaft, stärkt sich den Widerstand gegen das Döschen, borgt sich Kraft aus dem reinen Körper . . . Denn immer noch spürt er, trotz des tollen Erlebnisses, trotz der Erfüllung, die wie eine Rakete den Dunst seines Daseins zerriß, diese Lähmung! Die stechende kleine Schwäche an der Wurzel der Schwinge, die man entbreiten will! Psychisch ist das nicht, bewahre!. »Das periodische Fieberchen« ist es . . . Haben wir dies Indien einmal abgestreift, dann sind wir auch davon befreit! Zwischendurch muß man sich helfen; ich möchte doch, Mevrouw Erdbrink, Ihrer würdig sein! Sacht bremse ich ab, passen Sie auf; peinlich schraube ich die Dosierung herunter, und während Mijnheer Erdbrink sich an unserem gemeinsamen Puffer den Kopf einrennt, werde ich Vollmensch . . .
Mit schneller Bewegung führt er das weiße Pulver 156 zur Nase. Süßlicher Druck beginnt im Hinterkopf. Der »Vollmensch« rührt sich bereits, und preßt in schönen Pumpstößen das Blut durch die Venen. Die Augen tränen, dann kommt das herrlichste Behagen, die große weiche allumfassende Toleranz . . . 157