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Übersee

Ella war aus Eberswalde, gleichwohl aber auf Abwege geraten, die sie sogar bis nach Pernambuco geführt hatten. Hier litt sie plötzlich unter Heimweh; mehr wohl infolge des sehr unnoblen Verhaltens ihres brasilianischen Freundes als der Fremdartigkeit der Stadt. Deshalb lehnte sie jede Männerbekanntschaft, die nicht schon optisch die Aussicht auf eine Rückreise nach Europa zuließ, energisch ab; unter andern auch einen jungen Luxemburger, der nicht nur elegant und ein begehrenswerter Mann war, sondern auch mit auffälliger Hartnäckigkeit sich aufdrängte. Denn Ella, seit langem wissend, daß deran mit Vorzügen ausgestattete Herren nur schwer zu größeren Ausgaben zu bewegen sind, blieb unbarmherzig: »Nee, nich zu machen!«

Finnenbing hatte bisher französisch gesprochen. »Das ist ja großartig! Deutsch ist meine Muttersprache.«

›Schon aus‹, dachte sich Ella und lief davon.

Finnenbing jedoch, an seine Wirkung glaubend, hatte sie bereits am Schirm. »Aber was haben Sie denn nur?«

»Heimweh!«

»Na, da rutschen Sie eben mit dem nächsten Kasten zurück.«

»Danke. Aba det wa mia keen Jeheimnis.«

»Exquis! Wenn Sie wollen, fahre ich sogar früher nach Europa.«

»Ik will. Dann bin ik Ihn endlich los.«

Finnenbing betrachtete sie entzückt. »Ich nehme Sie mit. Abgemacht!«

Aber Ella war überzeugt, daß er es nur versprochen hatte, um das nähere Ziel zu erreichen. »Bei mia könnse keen Blumtopp jewinn. Da müssense neunzehn trudeln.«

»Ich bin bereit, zu trudeln.« Finnenbing streichelte ihren nackten Unterarm.

Ella hinderte ihn daran. »Hering mit Schlagsahne!«

Ihr Widerstand reizte Finnenbing, Ernst zu machen. »Rechts um die Ecke ist die Royal Mail. Rua de Bon Jesus.«

Ella stutzte, hoffnungsvoll die Waden durchdrückend. »Wann jeht denn der nächste Dampfa?«

»Aber das hat doch noch Zeit.«

»Jawoll, für Ihn, aba nich fier mich.«

Schließlich aßen sie doch Hering mit Schlagsahne und nach einem umständlichen Lunch Emmentaler mit Himbeerkonfitür. Woraufhin Finnenbing, das nähere Ziel betreffend, dringlicher wurde. Ella aber schickte ihn nach der Kabine und ließ, fest entschlossen, erst auf dem Schiff die erwartete Gegenleistung zu effektuieren, vorsichtshalber sich das Ticket aushändigen.

Finnenbing mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen und vier Tage lang in Ellas Gesellschaft auf die ›Arcadian‹ warten. Obwohl er unterdessen immer mehr sich entflammte, wurde er im selben Maße mißtrauischer. Denn Ella gewährte nicht den flüchtigsten Kuß und durchkreuzte seine Konversation gleich einer raffinierten Gaunerin. Und am Tag vor der Einschiffung war es so weit mit ihm, daß er am liebsten die Office gebeten hätte, ihn umzubetten.

Aber auch Ella hatte von ihrem Partner nichts erfahren können. Daß er für eine belgische Automobilfabrik reise, widersprach seinen Gepflogenheiten. Das hatte ihre Zurückhaltung verschärft und die Vermutung, ihr blendender Kavalier könne vielleicht nur ein Abenteurer sein. Ella war entschlossen, einmal auf dem Schiff, die Kabine nicht mit ihm zu teilen.

Beim Lotsenboot verfehlten sie einander. Finnenbing, der mit dem zweiten Boot kam, hatte vorsichtiger Weise die Nummer der Kabine sich notiert. Als er sie betrat, packte Ella schon aus. Beide betrachteten einander mit unmißverständlichem Mißbehagen, das, weil das Schiff bis auf den letzten Platz besetzt war, zu einem deutlichen Ingrimm sich verdichtete. Da sie aber von der neuen Umgebung, dem Erregenden der Abreise und der scharfen Meerluft mit gesteigerter Lebensfreude erfüllt wurden, ging in ihnen, als sie backbords einander begegneten, fast gleichzeitig dasselbe vor: sie beschlossen stillschweigend, ihr Unbehagen wegen der gemeinsamen Schlafstätte zu ignorieren. Lächelnd und plaudernd schlenderten sie über Deck. Als das Schiff zu beben begann, klatschte Ella in die Hände, und Finnenbings Entzücken der ersten Tage kehrte wieder; aber auch sein Wunsch, Ella auf den Grund zu bücken. Doch während er sämtliche Sonden, über die er verfügte, bereits resultatlos angesetzt hatte, erinnerte sich Ella, der es gleich ihm erging, an den Kniffeines schwedischen Pelzhändlers, der, um sie zu aufschlußreichen Bekenntnissen zu bestimmen, spontan Privatestes, das später als erlogen sich herausstellte, vor ihr ausgebreitet hatte, nach dem Rezept: ›Sprichst du vom Mausen, so wird der andere, wenn er maust, auch vom Mausen sprechen‹

Ella, den kleinen Finger zwischen die Zähne steckend, führte Finnenbing in eine Pelargonien-Ecke, begann, um den Übergang zu cachieren, üppigste Laune zu produzieren, und erst allmählich, von sich zu sprechen. »Also, ik will Ihn nich uff de Folta spann.« Sie heuchelte, als müsse sie erst von Wort zu Wort sich entsinnen. »Vor drei Jahre wa et jewesen. Da wa ik mit nem jewissen Fenyö in Scheveningen. Palace sin wa jewesen. Un nen Millionär aus Peru ham wa in de Arbeet jehabt. Ne kuriose Bratscholle! Die Jolanthe wa seine. Ne prachtvolle Person! Ik will ihr nich miekrich machen. Jar keen Interesse! Da sin wa also injeschritten. Denn det ham wa sofort rausjehabt, det die separiert jeschnürt werden müssen. Mia is jleich uffjefallen, det der Peruaner nie im Badekleid wa un imma janz miede dajesessen is. Nua wennt jerejnet hat, is er spornstreichs vaschwunden. Fier meen Oje war det nich bloß so vom Rejen davonjeloofen. Fenyö hat jejloobt, sie jibt ihm wat ein. Un det der Schlissel zu die janze Bindung bei ihr steckt. Un kess wie 'n Kaffer quatscht er die Jolanthe mal an, wiese jrade ausm Wasser kommt. Det müssense nämlich wissen, Finnenbing, kommste jrade ausm Wasser, biste immma unzurechnungsfähich, halb verrickt un ieberhaupt nicht janz uff de Höhe. Jleich hatse sich von dem Torpedo in de Ohren liejen lassen. Un unter uns, ausjekocht is der Junge bis uff de Fußlappen jewesen. Uff frech un unvorsichtich hat er jeschworen. Nämlich wenn Fernando, unsa Peruaner, ihm dabei jesehen hatte ... oj weh, die Pätsch! Det er jejloobt hätte, er is 'n Kommunist, so hätt er abjekriecht. Ne Stunde später hat er dann die Jolanthe een janz unjlaublichen Liebesbrief jeschriebn. Aba ik habe die Details jebremst. Un noch am selben Abend hat er ihr schon jehabt jehabt. Un ihr uff eene Achsel een scheenet Zijarettenloch hinjebrannt.«

»Hinjebrannt?« Finnenbring blieb vor Überraschung der Blick aus.

»Natierlich. Na also, wenn Fernando det jesehen hätte, wär jarantiert Blut jeflossen. Da is die Jolanthe, ebene Sache watse is, wie se die Bescheerung im Spiejel jesehen hat, lieba jleich mit Fenyö nach Rotterdam jeautelt. Un nachher mit die Batavier Line uff London. Na un wat wer nu ikke jemacht ham? Dreizehn hab ik mia jemacht un mia so injepuppt, det Fernando formvollendet jetröstet wa. Bei mia is er aba bald wieda jerade jegang. Von die Ermiedungstechnik, da halte ik nischt von. Da wern die Männer nua vadrießlich un fang an, an die Zukunft zu denken. Det Richtiche wa im vorliejenden Falle de Sache mitm Rejen. Se wern jleich vastehn. Der Mann hat nämlich, kurz jesacht, den Rejen jeliebt. Die faichte Luft un det Pritscheln uffm Fensterblech, det hat ihm mächtich anjerecht. Nich wiedazuerkenn wa der Mann. Na un in Schevening rejnet et ja nu unjefähr so alle drei vier Tache. Det hat mia jenücht. Un jemopst is jesund. Aba uff diese Weise wa er imma hoch in Stimmung un ik habe natierlich, wenn ik in seine Arme jelejen bin, jelejentlich mal bißken jestöhnt. Na un sonst ham wa Tango jetanzt. Schee Gastong. Oder im Trianong. Wissense, man soll die Männer ooch nich zur Besinnung komm lassen. Dann frajense zu viel, zum Beispiel, wat ik die Viertelstunde uff de Toilette mache. Un von da zu nem reellen Verdacht is nua ne Jeschwindichkeit. Eenmal warn wa in die Zentraldiele oda so. Da hat Fernando schon mit mia jetanzt, wie wenn er an een andern Planeten anjeschlossen jewesen wär. Ella is Ella. So valiebt is er jewesen. Ins Rejenströmen an meine Seite. Na, da war er nu janz feste anjemacht un hat nich mal mehr de Koffa zujesperrt. Un zwee Nächte druff bin ik mit ner sehr elastischen Ziffa rieba zu Gastong un hab mia von nem jung Holländer, der mia schon von janz zu Anfang wie 'n Blöda nachjeloofen is, nachm Haag mitnehm lassen. Een sehr vornehmes Haus uff der Maurits-Kade. Een paar Tache druff wa ik mit dem talentierten Jingling in London. Un bei Pinoli in der Ruppert Street hab ik ihm vasetzt. Denn hab ik mein Fenyö anjeklingelt un denn ham wa jezählt. Sehr lange. Denn Fenyö, könnse sich vorstellen, hatte die Jolanthe natierlich ooch noch die Zuricklejungen abjemolken.« Sie schob, die Hände unterm Nacken, den Kopf auf die Stuhllehne zurück. »Jott, wenn ik so dran denke! Nee, im Beruf bin ik nie jestorben!«

Finnenbing leckte an seiner Oberlippe. Der Blick war seinen Augen zwar wiedergekommen, aber es flackerte seltsam in ihnen.

Ella schwankte, ob sie es für Ironie, Berufsfreude oder Heimtücke halten sollte. Schließlich entschied sie sich dafür, daß er sich über sie lustig mache, und biß wütend an ihren Lippen.

Dieweil Finnenbing mit sonor anschwellender Stimme äußerte, schon am ersten Tag geahnt zu haben, welcher Art ihr Leben wäre. Verwundert sei er nur darüber gewesen, daß sie sich eingebildet zu haben scheine, er könnte sie um ihrer schönen Augen willen nach Europa mitnehmen. Er sei nämlich auf der Flucht vor zwei Portugiesen, die ihm nach dem Leben trachteten, weil er ihnen im Café Abrazilleira, auf der Rocio in Lissabon, zehntausend Eskudos abgenommen habe und tagsdarauf einen Freund erschossen. Sie hätten gemerkt, daß er falsch gespielt habe, und ihm im Hotel Borges eine Falle gestellt. Und er, anstatt an seine Regel sich zu halten, Dupes nicht zweimal hochzunehmen, sei hingegangen, obwohl er gewußt hätte, daß er am besten täte, es nicht zu tun. Das sei überhaupt ein psychopatisches Manko seiner Natur, wider besseres Wissen zu handeln. Ellas Wangen wölbten sich kurz. »Janz jenau so is et jewesen, wie ik meine Jungfernschaft verloren habe. Ik habe ooch nich jewollt und ik habe et doch jemußt.«

Finnenbing schluckte ein Grinsen, während er erklärte, dies komme davon, daß man vor Langeweile und Überdruß apathisch sei, sich dumm und taub mache, so wie einer, der halsüberkopf sein letztes Geld setze, um Schluß mit sich machen zu können. Im Hotel Borges hätte er jedoch nur auf Nichtverlieren trichiert, so daß die Gunmans aus Wut darüber, ihr Geld nicht zurückgewinnen zu können, die Revolver gezogen hätten. Er wisse heute noch nicht, wie er unverletzt aus dem Zimmer gekommen wäre; nur, daß er einen von ihnen tot darin zurückgelassen hätte. Er sei dann geflohen. Zuerst nach Vigo, dann Madrid, Barcelona, Genua, Syrakus und wieder Lissabon. Dann New York, Buenos Aires und Pernambuco. Und überall habe er gewußt, daß die beiden da seien. Die indirekten Wirkungen! Die neuen Bekanntschaften! Auch Ella habe er kurze Zeit in Verdacht gehabt, sie könnte ihm von diesen Banditen in den Weg geschickt worden sein. Da es Finnenbing war, als hätten ihre Lider unwillig gezittert, entschuldigte er sich.

»Nee, nee.« Ella imitierte ein Schneuzen. »Ik bin nich beleidicht. Mein Antlitz tut bloß manchmal so.« Sie hielt seine Schauergeschichte lediglich für schlechter erfunden als die ihre. Denn wenn er wirklich wäre, wofür er sich ausgab, wäre er schwerlich so vertrauensselig gewesen. Sie hielt ihren Kniff für mißraten. Da lächelte sie mit einem Mal. Er war geglückt: Finnenbing war das, wofür er anfangs sich ausgegeben hatte. »Nu sajense mal, Sie oller Quaßler, wennse mia nu nich wejen meine schön Ojen mitjenomm ham, wejen wat denn dann?« Finnenbing, der ihre Schauergeschichte geglaubt hatte und die seine erlogen, um Ella zu bewegen, ihm davonzulaufen, ärgerte sich heftig, daß es ihm nicht gelungen war. »Wollen wir zusammen Bratschollen essen?«

»Jehnse wech, Sie Suppenaufzuch!« Ella kicherte überheiter.

Finnenbings Züge erschlafften gänzlich. »Sie machen sich über mich lustig.«

»Janz jenau so wie Sie. Wissense, ik bin nämlich ne Klasse für sich.«

»Exquis!« stöhnte Finnenbing sachte.

Aber da riß Ella ihn an sich und küßte ihn minutenlang. Und nach einer Stunde lag er neben ihr in der Kabine, dachte aber trotzdem bereits darüber nach, wie er seine Begleiterin nach der Ankunft in London reibungslos entfernen könnte. Den Lunch, den Tee und auch das Dinner ließen sie sich in der Kabine servieren. Bis Mitternacht ging es in jeder Hinsicht hoch her. Erst ein peinlich komischer Zwischenfall schuf die Nachtruhe: die Luke oberhalb des Bettes hatte sich geöffnet, so daß plötzlich der Kamm einer Welle hindurchflog – mitten auf Finnenbings unbekleidetes Posterieur.

Man lachte zwar, aber es war doch eine starke Abkühlung. Und da auch die Trockenlegung des Bettes sehr ernüchternd wirkte, drehte Ella nachher das Licht ab. Sie konnte jedoch so lange keinen Schlaf finden, daß alles ihr noch einmal durch den Kopf ging. Und sobald sie Finnenbing schnarchen hörte, begann sie, seine Effekten zu inspizieren. Als sie sich an seine Kleider machte, las sie im Mantel die Firma E. Bertoloni Genova, im Hut L. Garipoli Siracusa, auf der Schuhschlipfe Freire Lisboa, auf der Krawatte Budd New York, im Hemd Camiseria Caleri Madrid und im Kragen Panero Barcelona. Entgeistert ließ sie den Kragen fallen: sie zweifelte nun nicht mehr, daß sie in Gesellschaft eines von rachedurstigen Portugiesen verfolgten Falschspielers sich befand. Bis ihr einfiel, daß er ja doch auch als Automobilreisender in jenen Städten gewesen sein könnte. Auf der Suche nach seinen Agenda fand sie ein kleines Buch mit Zahlen und stenographischen Notizen. Die Achseln zuckend, huschte sie ins Bett zurück. Aber der Schlaf floh sie.

Bis London. So daß sie, um ihn wieder zu finden, vor Finnenbing floh, der so froh darüber war, daß er, als sie ihm acht Tage später in Fullers Tea Room in der Victoria Street begegnete, bereits in Begleitung einer jungen Dame sich befand. Ella würgte der Neid und deshalb wiederum der Zweifel. Sie horchte den Oberkellner aus, von dem sie erfuhr, daß Finnenbing ein schrullenhafter Millionär sei und Londoner. Als sie ihn aber anderntags besuchen wollte, war er schon wieder abgereist. Auf dem Rückweg reflektierte sie ohne Unterlaß. Und plötzlich glaubte sie zu begreifen: Finnenbing hatte sie von allem Anfang an für das gehalten, was sie ihm auf dem Schiff vorgemacht hatte, und, apathisch vor Langeweile und Überdruß, trotzdem nach Europa mitgenommen. Sie schlug sich auf die Stirn: »Wie mit Steifjase wa ik uffjezojen! Jott soll schitzen, det der Mann Selbstmord bejeht! Nee, det laß ik mia een Detekk kosten. Aba een Aß.« Und da rannte sie auch schon, daß die ganze Straße lachte.


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