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Das Fest in der Via Alfeo

Garringa, eine unklare Existenz, saß im Café Dora an der Ecke des Corso Buenos Aires, als ein Gast am Nebentisch seinen Schiffsfahrschein liegen ließ. Obwohl Garringa ihm sofort auf die Straße nacheilte, war er bereits im Gewühl verschwunden. Da aber Name und Adresse auf dem Fahrschein standen, beschloß Garringa, ihn seinem Besitzer zurückzubringen, falls dieser ihn nicht reklamieren sollte.

Als er nach zwei Stunden noch nicht gekommen war, machte Garringa sich auf den Weg zum Hotel de Londres, wo er Signor Pingezzi zu sprechen wünschte. Der Portier maß ihn neugierig und bedenklich über seinen rostigen Zwicker hinweg und fragte schleimig: »Sind Sie ein Verwandter von ihm?« Als Garringa erstaunt verneinte, lispelte er achselzuckend: »Signor Pingezzi ist nämlich vor einer Viertelstunde gestorben. Und morgen früh wollte er sich noch nach Alexandrien einschiffen. Ecco la vita.«

Garringa hob, zaghaft schnupfend, die Hand an die Mütze und ging. Sehr langsam. In seiner Mansarde angekommen, grübelte er verbissen weiter und so lange, daß er oft vor Ungeduld aufstöhnte. Gegen drei Uhr morgens endlich war sein Plan gefaßt und um acht Uhr eilte er zum Bahnhof, wo er sein Köfferchen in das Deposito gab.

Der Portier des Hotel de Londres teilte ihm auf sein unterwürfiges Fragen unwillig mit, daß betreffs das Ableben des Signor Pingezzi alles in Ordnung sei, die Leiche aber wahrscheinlich erst morgen nach Livorno überführt werden würde.

»Und er wollte doch heute mit der ›Esperia‹ ...« stieß Garringa erregt hervor. »Hatte er denn schon die Kabine?« Der Portier spritzte den Federhalter gegen ihn aus. »Ä! Noch dreißig können Sie haben.«

Garringa schnupfte nicht einmal. Er holte schnurstracks sein Köfferchen und rannte hinunter an den Hafen, wo er erfuhr, daß die ›Esperia‹ erst um elf Uhr ausfahre. Er setzte sich auf ein aufgeringeltes Tau und wartete, im Rausch eines überwältigenden Entzückens: in vier Tagen also würde er in Alexandrien sein, wo seine Manila arbeitete; neunhundert Lire würde er ihr zeigen und drei Tausender, die allerdings nicht ihm gehörten, sondern ... Er machte eine erledigende Geste gegen die Stadt in seinem Rücken: ›La polizia? Pah!‹ Er reiste ja als Signor Pingezzi, erster Klasse, und war in zwei Stunden spurlos aus Genua verschwunden.

Als er endlich die Hängebrücke emporkletterte, drängten hinter ihm zwei Reisende so brutal nach, daß er einen Stoß bekam und weit nach vorne torkelte. Um nicht hinzufallen, klammerte er sich an eine eiserne Säule. Grinsend sah er, daß er auf diese Weise die Kontrolle durchbrochen hatte.

Das sollte ihm zum Schicksal werden. Nicht weil er unter einem falschen Namen reiste, sondern aus einem ganz andern Grund. Er hatte sich nämlich im Taumel seines Reisefiebers den Fahrschein nicht genau angesehen. Dies tat jedoch der Stewart, den er nach langem Umherirren nach seiner Kabine gefragt hatte.

»Sie haben ja bloß zweite Klasse. Da müssen Sie nach hinten gehen und dann die Treppe hinunter.« Der Stewart machte ein kleines blaues Kreuz auf den Fahrschein. »So. Jetzt sind Sie in Ordnung.«

»Wann ist das Schiff in Alexandrien?« Garringa rang um Haltung.

»Wir fahren diesmal nur bis Syrakus. Kein Verkehr.« Der Stewart ließ ihn stehen.

Garringas Kopf kugelte über Bord: das Schiff war schon in voller Fahrt. Seine Augen stürzten auf den Fahrschein: ja, da stand in rotem, freilich mattem Gummidruck – Siracusa. Er ließ sich auf eine Bank fallen und starrte verzweifelt vor sich hin: alles war zu Ende; er mußte noch in Italien von Bord gehen. Nach wütendem Überlegen entschloß er sich, bis Syrakus zu fahren. Anfangs hatte er beabsichtigt, schon in Neapel an Land zu gehen, dies aber verworfen, weil dort die Möglichkeit, ausfindig gemacht zu werden, zu groß war. In Syrakus aber glaubte er sich während der kurzen Zeit, die er auf ein Schiff würde warten müssen, sicherer.

Nach einer Fahrt von zwei Tagen, während welcher Garringa mehrmals seekrank gewesen war, lief die ›Esperia‹ in den Hafen von Syrakus. Da gerade im letzten Teil der Fahrt die See sehr hoch gegangen war, so daß Garringa wieder heftig gekotzt hatte, verfügte er, als er aus dem Landungsboot stieg, nicht über seine volle Entschlußfähigkeit. Froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, ließ er von einem jungen Burschen, der unablässig auf ihn einredete, nach der Via Alagona sich schleppen und im Ronco Olimpia in ein altes Steinhaus. Er warf kaum einen Blick auf das winzige halbdunkle Zimmerchen und sich angekleidet aufs Bett.

Als er die Augen aufschlug, war es stockfinster. Er lag, wie ihn deuchte, auf einem Sandhaufen. Sein Kopf lehnte an etwas Hartem. Die Glieder und der Mund schmerzten ihn. Und plötzlich erschrak sein ganzer Körper: er war gefesselt und geknebelt und wohl zweifellos beraubt worden. Tränen traten ihm in die Augen. Nach einer Stunde mühsamer und schmerzhafter Versuche gelang es ihm, den Knebel aus dem Mund zu stoßen. Die Stricke aber gaben nicht nach. Die Helligkeit wurde zusehends größer. Er sah bereits, daß er an einem großen Holztor lehnte und vor ihm ein weiter leerer Platz sich ausdehnte, von kleinen hellfarbigen Häusern umsäumt. Bald mußten Menschen kommen. Wenn er bis dahin nicht befreit war, würde alles herauskommen. Fieberhaft suchte er die Umgebung nach etwas Scharfem ab. Aber er entdeckte nichts. Nur Kiesel lagen umher und Plunder.

Plötzlich fiel sein Kopf hintüber: aus dem Tor war eine Frau getreten, deren große schwarze Augen alsbald ruhig auf ihn sich richteten. Schnell den Blick senkend, betrachtete er ratlos die nackten schmutzigen Füße, die dicht vor ihm standen.

»Wie kommst du daher?« fragte sie, ihren Rock fester bindend. »Warst du in der Kaserne?«

»Sie haben mich hergebracht.«

»Wer. Die Militari?«

»Bestohlen haben sie mich.«

»Du bist nicht von hier, das hör ich. Bist wohl erst gestern gekommen, mit der ›Esperia‹?«

Garringa nickte.

»Weiß schon, wer das war.« Sie verschob die Wangen, wobei ihre Augen fast verschwanden.

Garringa glaubte zu bemerken, daß sie ihn mit einem gewissen Wohlgefallen musterte, und hielt ihr die gefesselten Hände empor.

Sekundenlang starrte sie darauf, ohne sich zu bewegen. Miteins aber stieß sie das Kinn verächtlich nach oben, nahm mit unvermuteter Kraft Garringa auf die Arme, trug ihn eine niedrige Steinmauer entlang und durch eine flügellose Tür in einen feuchtwarmen Raum. Hier legte sie ihn hinter einem speckigen dunkelroten Vorhang auf eine breite Ottomane und setzte sich neben ihn.

»Allora, mio amico, erzähl mir erst mal, wieviel Geld sie dir abgenommen haben. Und sag nur Metta zu mir.«

Garringa schwieg. Die Wahrheit zu sagen, schien ihm ebenso gefährlich wie lügen und unvorteilhaft; denn Metta dachte offensichtlich an ein Geschäft. Er entschied sich deshalb für einen Kompromiß. »So im Ganzen waren es ... rund viertausend.«

Metta faltete die Hände: »Porca Madonna! Viertausend! Und da kümmerst du dich gar nicht weiter darum?«

Garringa hielt ihr die gefesselten Hände hin, die sie löste, während er berichtete. Dann höhnte sie: »Wenn du zur Polizei gehst, siehst du dein Geld nicht wieder.«

»Wenn ich aber nicht hingehe, sehe ich es auch nicht wieder.«

»Du willst also die viertausend so einfach segeln lassen?«

»Will ich nicht.« Garringa bückte sie herausfordernd an. »Du hast doch gesagt, daß du weißt, wer es war.«

»So?« Metta suchte mit den Augen die Wände ab. »Hab ich das?«

»Si. Da könntest du mir ... Da könnte ich doch ... Da könnten wir uns doch das Geld wieder verschaffen.«

Metta zwinkerte ihm zu. »Sag mal ... hat das Geld dir gehört?«

Garringa nickte eifrig.

Mit einem komisch singenden Zwitschern sog Metta die Luft ein. »Wenn es dir aber zum Beispiel nicht gehört hat ... Was hast du überhaupt hier in Syrakus machen wollen, ä?«

»Nach Alexandrien wollte ich weiter.«

»So.« Metta rückte ihm ganz nahe. Und wie von selber fiel ihr Hemd die Schultern hinunter und entblößte zwei riesige fleckige Brüste, an denen die Warzen gleich blauen Pflaumen hingen. Sie hielt Garringa die wulstigen Lippen hin.

Er küßte sie ohne jedes Vergnügen, aber auch durchaus nicht widerwillig. Dann verlangte er zu trinken.

Metta brachte ihm ein Glas Ziegenmilch, streifte ihren Rock ab, schob das Hemd bis zu den Brüsten hoch und wies mit einem breiten einladenden Grinsen auf ihren nackten sonnegebräunten Leib ...

Nach einer Viertelstunde kleidete sie sich an. »Das Geld gehört also nicht dir.«

Garringa, dem ihre Schlauheit gefiel, hustete. »Dann hätte ich es wohl schon verschmerzt.«

»Es ist aber besser, wenn du da bleibst.«

Garringa kämmte sich schweigend.

»Setz dich mal da her an den Tisch und schreib mir einen Brief an Carlo!« Metta schneuzte sich mit dem Daumen.

Garringa schnupfte übellaunig, gehorchte aber.

Nachdem Metta ihm diktiert hatte, ging sie mit dem Zettel unter die Tür: »Pietro, Pietro, venga!«

Wieder im Zimmer, zerrte sie Garringa auf die Ottomane. »Carlo kommt. Das weiß ich. Du versteckst dich da hinten unter der Kiste. Aber rühr dich nicht! Wirst schon sehen.« Sie fuhr ihm lachend mit der Zunge über die Wange, den Mund und legte sich neben ihn ...

Nach einer Stunde kam Carlo. Garringa, durch ein Astloch der Kiste blickend, erkannte ihn sofort: es war derselbe, der ihn auf der Passeggiata Aretusa abgefangen hatte.

Metta verhandelte sehr lange mit Carlo, der nicht glauben wollte, daß sein Opfer ein entfernter Verwandter von ihr sei, der sie schon seit langem habe heiraten wollen, aber jetzt erst das Geld beisammen gehabt hätte, um ein Geschäft anfangen zu können. Immer noch mißtrauisch den Kopf wiegend, wünschte Carlo diesen Verwandten zu sehen. Metta sagte, er sei zur Polizei gegangen, habe ihr aber versprochen, zu verschweigen, daß er bei ihr war. Daraufhin stieß Carlo sie auf die Ottomane und versprach nachher, fünfzehnhundert Lire zurückzugeben und noch tausend, wenn wirklich geheiratet würde.

Als er fort war, kroch Garringa mit einem ledernen Gesicht hervor und ging eilends unter die Tür, um frische Luft zu haben. Vor allen Türen sah er halbnackte Weiber sitzen, die ihre verfilzten Haare mit kurzen Holzkämmen bearbeiteten oder von kleinen Mädchen sich lausen ließen. Nach dem, was er soeben bei Metta mitangesehen hatte, zweifelte er nicht mehr daran, wo er sich befand. Gewiß, Metta war die wohlerhaltenste, aber die Aussicht, an ihrer Seite sein Leben zu verbringen, fest in ihren Krallen durch ihre Mitwisserschaft, schien ihm unerträglich. Da fiel ihm ein, wie unvorsichtig es war, sich auf der Schwelle blicken zu lassen. Schnell trat er zurück. Und bekam eine Gänsehaut, als Metta ihm freudenärrisch um den Hals fiel.

»Heute werfe ich sie alle hinaus, die Militari. Heute wird gefeiert und getanzt.« Sie sprang in ihren unförmigen Holzpantoffeln grotesk umher und heulte ein Lied.

Garringa rieb sich knirschend die Knie. »Metta, was willst du denn mit dem Geld machen?«

»In Damaskus eine Trattoria. In drei Monaten kündige ich.«

»Und was weiter?«

»Ä, und da heiraten wir.«

Garringa spie sich auf die Schuhe und fegte sie mit einem Stück Papier sauber. Dabei zeterte er ob seines grausamen Geschicks in sich hinein. Schon wollte er aufspringen, um irgendwie eine Änderung zu erzwingen, als ein langer Soldat hereineilte, sich auf Metta warf, ihr einen Teller aus der Hand riß und an die Wand schleuderte, daß die Scherben bis in die Mitte des Zimmers spritzten.

»Hinaus!« schrie Metta. »Ich mag nicht.«

Der Soldat aber zerrte sie hinter den Vorhang und zwang sie auf die Ottomane nieder, die Garringa soeben erschreckt verlassen hatte. Dieser mußte sich darauf beschränken, wegzublicken. Er wunderte sich, daß er Mettas Schmach schon fast als die seine empfand. Bald aber wurde der Trieb, sich umzuwenden, immer stärker. Und schließlich zog es seine Augen mit unwiderstehlicher Gewalt zur Ottomane, auf der Metta keifend und zischend, aber vergeblich sich wehrte und mit all ihren Anstrengungen, dem Unhold sich zu entwinden, nur dessen Vergnügen erhöhte.

Endlich war es zu Ende. Metta rannte, wie unter einem Rest von Scham, auf die Straße hinaus.

Der Soldat schimpfte, stieß mit dem Fuß nach Garringa und hätte ihn unweigerlich in den Unterleib getroffen, wenn nicht die halb herunterhängende Hose ihn behindert hätte. Deshalb ergriff er einen blechernen Waschkrug und goß, roh lachend, Garringa den Inhalt nach. »Sauerei, das alles! Metta, komm her! Deinem Ruff geb ichs nicht.«

Metta trat maulend in die Tür. Der Soldat gab ihr drei Lire, schimpfte noch in der unflätigsten Weise und tänzelte hinaus.

Metta sprang zur Seite und spuckte hinter ihm her. Dann machte sie sich wieder ans Waschen des Geschirrs, als wenn nichts geschehen wäre.

Gegen vier Uhr nachmittags kam Carlo mit dem Geld, das Metta sofort in einen Zipfel ihres Hemdes knüpfte. Für Garringa hatte er nur einen verächtlichen Blick. Als er aber ging, war er für den Abend eingeladen worden, zu dem er ein halbes Dutzend gemeinsamer Bekannten mitzubringen versprach.

Metta holte alte Papiergirlanden hervor und schmückte Wände und Plafond. Dann holte sie Wein und nach einer halben Stunde waren beide angetrunken und balgten sich, ineinander verkrallt, auf der Ottomane, bis sie einschliefen.

Als sie gegen neun Uhr erwachten, kamen die ersten Gäste. Und um zehn Uhr wälzte sich zu den Klängen einer Okarina und einer Ziehharmonika ein Knäuel Soldaten, Huren, Gauner und Matrosen in dem kleinen Zimmer Mettas. Und vor der Tür standen die Nachbarn, lachten, tanzten und rissen ordinäre Witze.

Nach Mitternacht, als es bei Metta längst still geworden war, ging ein Kanonikus draußen vorbei. Er tat, als hindere seine Soutane ihn beim Gehen, um unauffällig die Szene betrachten zu können.

Metta lag, völlig nackt, auf der Ottomane; neben ihr Carlo, das Gesicht auf ihrem Bauch. Und vor ihm auf dem Boden hockte Garringa. Speichelfladen liefen ihm über Kinn und Wangen. Er hatte sich vor Wut sinnlos besoffen.

Am nächsten Morgen, kurz nach sechs Uhr, wurde er verhaftet und mußte noch am selben Tag, an der Seite eines Kriminalbeamten, die Rückreise nach Genua antreten.


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