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Gronski war ein Mensch von sanfter Gemütsart und sehr gutherzig. Trotz seiner Neigung zum philosophischen Pessimismus war er dennoch im Verhältnis zu den Menschen und dem Leben kein Pessimist. Mit anderen Worten, in der Theorie dachte er wie der Ekklesiast, in der Praxis wollte er lieber in die Fußtapfen des Horatius treten, oder richtiger, so leben, wie Horatius gelebt haben würde, wenn er Christ gewesen wäre. Das ständige Verweilen in der antiken Welt gab ihm eine gewisse melancholisch angehauchte harmonische Heiterkeit. Dank seiner Bildung und seiner großen Belesenheit, die ihm erlaubten, mit allen Ideen, die je in Menschenköpfen entstanden, und mit allen Formen des Menschendaseins sich bekannt zu machen, war er ungemein tolerant, und selbst die krassesten Grundsätze anderer konnten ihn nicht veranlassen, wie ein Pfau vor Bestürzung zu schreien. Diese große Nachsicht und das Bewußtsein, daß alles, was sich ereignet, vergehen muß, brachten ihn nicht um die Energie des Denkens und des Wortes, sie brachten ihn jedoch in gewissem Maße um die Energie der Tat. Er glich mehr einem Zuschauer als einem Schauspieler auf der Weltbühne, doch einem wohlwollenden Zuschauer, der lebhaft empfand und äußerst neugierig war. Manchmal verglich er sich selbst mit einem Menschen, der am Ufer des Flusses sitzt und seinen Lauf betrachtet, der weiß, daß der Fluß ins Meer fließen und darin verschwinden muß, den jedoch der Wellenschlag, die Strömungen, die Strudel und der aus der Tiefe aufsteigende Nebel und das Lichtspiel auf dem Wasser interessieren.
Außer seiner wirklichen Vorliebe für alte Sprachen und Schriftsteller waren es Politik, Wissenschaft, Literatur, die gegenwärtigen sozialen Strömungen, und endlich die Privatverhältnisse der Menschen, die ihn interessierten, und zwar letztere so sehr, daß die gegen ihn Eingenommenen ihm zu große Vorliebe für Nachrichten über seine Nächsten zum Vorwurfe machten. Diese allgemeine Lebensneugier war der Grund seiner Geschwätzigkeit und der Lust, über alles zu debattieren, was in seinen Gesichtskreis trat. Er war sich dessen wohl bewußt und entschuldigte sich scherzhaft vor seinen Freunden, indem er sich auf Cicero berief, der seiner Ansicht nach der redseligste und neugierigste Mensch gewesen sei, dessen Andenken uns die Geschichte überlieferte.
Aber neben dieser Schwäche besaß Gronski die hochentwickelte Fähigkeit, menschliche Leiden und Gedanken tief zu empfinden, denn er war überhaupt außerordentlich gefühlvoll. Er liebte innig sein Polen, so wie er es zu haben wünschte, d. i. edel, aufgeklärt, kulturell, durchaus europäisch und dennoch unter Beibehaltung seiner lechitischen Merkmale, gleichsam die weiße Fahne mit dem Adler in der Hand. Jener Adler verkörperte ihm das edelste Symbol der Erde.
In seinem persönlichen Gefühle als Mensch und Ästhetiker gewann er Fräulein Marie Zbyltowska lieb, aber er liebte sie auf blau und nicht auf rot. Anfangs bewunderte er in ihr, wie er zu sagen pflegte, »die Musik und die Taube«, dann, da er ohne näheren Familienanhang war, wurde er ihr so zugetan, wie ein älterer Bruder einer jüngeren Schwester, oder wie ein Vater seinem Kinde. Sie war ihm von ganzem Herzen für diese Zuneigung dankbar und verehrte seinen Verstand und Charakter.
Gronski war allgemein als Menschenfreund bekannt und beliebt; selbst Fremde und solche Leute, die mit seinen Ansichten keineswegs übereinstimmten und anderer Überzeugung waren, achteten in ihm die Fähigkeit des Mitfühlens; auch jene, die sich über seine Angewohnheit, den Finger aus geringfügiger Ursache an die Stirn zu legen und laut zu denken, ärgerten, schätzten ihn wegen seiner Leutseligkeit, die der offenen Tür eines gastfreundlichen Hauses glich.
Dies empfand auch Laskowicz. Wäre er gezwungen, zum Beispiel mit Dolhonski zu fahren, dann würde er viel lieber zu Fuß gegangen sein und sein Ränzel auf dem Rücken getragen haben. Aber Dolhonski stellte sich in Jastrzemb immer so, als bemerke er ihn nicht, Gronski jedoch grüßte ihn stets freundlich und verwickelte ihn oftmals in ein Gespräch, das nur deshalb nie sich länger hinzog, weil Laskowicz es selbst beschränkte und unterbrach.
Doch jetzt, neben Gronski sitzend, war er über seine Gesellschaft beinahe erfreut. Im Grunde der Seele hoffte er, Gronski würde von den in Jastrzemb zurückgebliebenen Personen sprechen und auch Fräulein Zbyltowska erwähnen, da er sehnsüchtig wünschte, wenigstens ihren Namen genannt zu hören. Er war auch durch den Abschied von dem kleinen Ännchen gerührt, denn es begegnete ihm zum erstenmal, daß ihn jemand mit tränendem Auge verabschiedete, und durch den Zufall, daß Fräulein Marie mit ihm im Moment seiner Abreise sprach, taute ihm das Herz auf, so daß er bereit war, mit einem Menschen aufrichtiger zu sprechen, der ihm nicht widerwärtig erschien.
Er brauchte hierauf nicht lange zu warten, denn kaum waren sie bis an das Ende der Allee gekommen, als Gronski mit der gütigen Teilnahme eines älteren Menschen, der nicht begreift, was geschehen ist und gern alles bekritteln möchte, ihm die Hand aufs Knie legte und ihn fragte:
»Was haben Sie denn, mein Herr, in Rzenslewo angestellt? Jetzt kann es dort zu schweren Ausschreitungen kommen, und wollen Sie überall etwas Ähnliches anstiften?«
»In Rzenslewo«, erwiderte Laskowicz, »taten wir nur das, was das Wohl unserer Ideen erheischte.«
»Es handelt sich doch um eine landwirtschaftliche Schule, und solche Institute sind fürs Volk ungemein notwendig. Warum haben Sie denn unter den Bauern die Nachricht verbreitet, daß Grund und Boden unter dieselben verteilt werden sollten?«
Laskowicz zögerte, ob es nicht ratsamer wäre, diese Frage unbeantwortet zu lassen, da er aber durch das teilnahms- und kummervolle Gesicht Gronskis entwaffnet wurde, begann er zu sprechen:
»Jede Partei muß Augen und Ohren offen halten, um zu wissen, was im Lande vorgeht, und jede sich bietende Gelegenheit ausnützen. Im Rzenslewoer Falle war ich eben das Auge der Partei und im übrigen richtete ich mich nach den mir zugehenden Weisungen. Selbstverständlich konnten wir nicht ahnen, wie der Gottselige über sein Vermögen verfügen würde, doch das ist einerlei. Wir brauchen keine Schulen, die jene Gesellschaftsklassen, mit denen wir kämpfen, errichten und in ihrem Sinne leiten.«
»Ihr braucht sie nicht, aber das Volk braucht sie.«
»Das Volk wird den Ackerbau auch ohne Hilfe der Edelleute erlernen, wenn es nur Gelegenheit zum Lernen haben wird. Mehr Nutzen wird es aus den Grundstücken als aus den Schulen der Edelleute ziehen. Diesen Boden in Rzenslewo bebauten die Bauern seit Hunderten von Jahren, und wenn man nur einen Groschen für jeden Arbeitstag zahlen sollte, so ist der Wert des Bodens hundertfach bezahlt.«
»Ihr könnt wohl die Gier nach den Grundstücken wecken, ihr seid aber nicht imstande, sie zu schenken. Dabei gestatten Sie mir Ihnen zu sagen, daß ihr gegenüber der eigenen Doktrin unlogisch handelt. Denn euer Ziel ist ja doch die Verstaatlichung des Bodens. Also in Rzenslewo zum Beispiel ist der für die Schule bestimmte Boden gewissermaßen verstaatlicht, während er, unter die Bauern verteilt, nur ein zerstückeltes persönliches Eigentum bildet.«
»Die Verstaatlichung des Grund und Bodens ist unser endgültiges und darum auch noch fernes Ziel. Mittlerweile wollen wir das Volk in unserem Lager haben, also gebrauchen wir solche Mittel, die dazu führen. Wir können zwar nicht Grundstücke verschenken, aber das Volk wird sie sich selbst nehmen.«
»Im günstigsten Falle für euch wird es dieselben nur annehmen wollen. Zugegeben, daß in Rzenslewo die Hofbauern, Kleinhäusler und Knechte die Grundstücke an sich reißen und unter einander verteilen. Nun, und was dann? Sehen Sie nicht die Zwistigkeiten und hinterdrein die Gerichte, blutige Exekutionen und Kantschus, die auf alle herniederfallen werden?«
»Meinen Sie, dies wäre kein Wasser auf unsere Mühle? Je mehr von all dem – desto näher das Ende.«
»So habe ich denn gut kombiniert!« sagte Gronski, da er sich erinnerte, was er Krzycki und Dolhonski gesagt hatte, nämlich, daß das Herbeirufen der Polizei den Agitatoren sehr gelegen kommen würde.
Laskowicz wollte schon fragen, was Gronski so gut kombiniert hätte, doch dieser kam ihm zuvor und fuhr fort:
»Es ist doch merkwürdig. Wenn einem von euch ein Unglück zustößt, wenn ihm Kerker, Verbannung oder Tod bestimmt sind, dann sagen wir – Leute, denen ihr den Kampf auf Leben und Tod erklärt habt – Leute, die zu eurer Partei nicht gehören: Es ist schade um so viel Begeisterung, so viel irrigen Opfermut, schade um den jungen Mann, und wir bemitleiden euch. Ihr aber bemitleidet nicht dieses Volk, als dessen Verteidiger ihr euch doch aufspielt. Ihr organisiert Fabrikstreiks und spannt die Saiten so straff, bis sie springen, und wenn sie dann die Fabrikanten zusammenbinden, werden sie noch kürzer sein, als vorher. Tausende von Menschen sterben schon Hungers, und nun wollt ihr Ackerstreiks, nach denen das Brot noch teurer wird! Und wer wird darunter leiden? Wieder das Volk. Wahrlich, manchmal kommt es uns schwer an, nicht zu glauben, daß ihr die Doktrin mehr liebt als das Volk.«
Daraufhin entgegnete Laskowicz mit einer harten, dumpfen Stimme:
»Das ist der Krieg, Opfer muß es geben.«
Gronski schaute ihn unwillkürlich an, und als er seine nahe aneinander liegenden Augen sah, dachte er bei sich:
»Nein! … solche Augen können ja nur gerade vor sich hinschauen und sind nicht imstande, einen weiteren Horizont zu umfassen.«
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend weiter. Es erhob sich ein leichter Südwind, der ihnen Staub und Pferdeschweiß entgegenwehte. Aus dem Gesträuch, das den Weg umsäumte, flogen ganze Scharen Schmeißfliegen herbei und stachen die Pferde, daß der Kutscher fortwährend die Peitsche über ihren Rücken schwang und fluchte.
Plötzlich fragte Gronski:
»Opfer! Und welcher Gottheit bringt ihr diese Opfer dar? Was bezweckt ihr und was wollt ihr?«
»Das tägliche Brot fürs Volk und allgemeine Freiheit.«
»Und statt Brot gebt ihr ihm unterdessen Steine. Was die Freiheit anbelangt – so erwägen Sie, bitte, nur zwei Grundideen. Die erste kann man so formulieren: Wehe den Völkern, welche die Freiheit mehr lieben als das Vaterland! – Selbstverständlich spreche ich nicht von besiegten Völkern, denn in solcher Lage sind die Begriffe der Freiheit und des Vaterlandes beinahe gleichbedeutend. Aber denken Sie darüber nach, was Polen politisch in Wirklichkeit zugrunde gerichtet hat, und was Frankreich jetzt zugrunde richtet, das vor unseren Augen wie ein reifloses Faß auseinanderfällt. Und der zweite Gedanke, der mir manchmal in den Sinn kommt, ist, daß jene Freiheit, welche die durch das Wohl und die Sicherheit eines Volkes gezogenen Grenzen überschreitet, nur Halunken erwünscht sein kann. Diesen letzteren Ausspruch werden Sie als den Gipfel der Reaktion betrachten, doch nichtsdestoweniger ist es so.«
Auf Laskowicz Angesicht malte sich etwas wie Mißtrauen und Verletzung. Aber es war augenscheinlich, daß Gronski ihm persönlich nicht nahetreten wollte, sondern eine allgemeine Ansicht zum Ausdruck brachte, und deshalb brach er das Gespräch nicht ab.
»Die Freiheit der Vereine und Syndikate«, sagte er, »mit denen das Proletariat sich verteidigt, zerstört doch keine Grenzen. Sie verwechseln übrigens die Begriffe von Volk und Staat, und als einem Realisten ist es Ihnen vor allem um den Staat zu tun.«
Gronski lachte auf:
»Ich ein Realist? Ich gehöre nicht zu den Realisten. Das sind nicht dumme Leute, meistens sind sie vom besten Glauben beseelt, doch begehen sie einen Fehler, nämlich, daß sie den Acker im Dezember pflügen wollen, also zu einer Zeit, wo die Pflugschar die gefrorene Erde nicht erfassen kann. Oder wenn jemandem ein anderer Vergleich lieber ist: Sie kaufen sich einen Sommeranzug bei strengster Winterkälte, vielleicht scheint einmal die Sonne und es wird warm, denn alles ist ja möglich; aber mittlerweile erfrieren ihnen die Ohren und den Anzug fressen Motten.«
Und da er nur noch über Realisten nachdachte, sprach er weiter:
»Die Realisten wollen eben mit jener Wahrheit rechnen, die weder mit ihnen noch mit anderen rechnen will. Nehmen Sie zum Beispiel an, diese Partei heiße Peter und dieser Peter wende sich an die Wirklichkeit – übrigens ganz aufrichtig – und spräche so zu ihr: Höre, o Jungfrau! Ich bin bereit, dich anzuerkennen und sogar dich lieb zu gewinnen, aber erlaube du mir dafür, ein bißchen auf meinen eigenen Füßen zu stehen, aufzuatmen und die schmerzenden Glieder aufzurichten! Und die Wirklichkeit erwidert ihm darauf mit echt uralischer Freundlichkeit: ›Peter, Sohn des Peter, du weichst von der Angelegenheit ab und daher entziehe ich dir das Wort. Nicht darum handelt es sich, daß du mich anerkennen oder lieben, nur darum, daß du ein gewisses Kleidungsstück aufknöpfen und ausziehen sollst, welches mir, beiläufig gesagt, nützen kann – du aber sollst dich auf diese Bank hinlegen – was den Rest betrifft, vertraue meiner Stärke und meiner Peitsche.‹ – Wenn mich ein Realist hören würde, möchte er verneinen, innerlich aber mir recht geben, denn so stehen die Dinge tatsächlich.«
»Sie werden mir zugeben«, erwiderte Laskowicz, »daß wir die einzigen sind, die dieser Wirklichkeit aufs Haupt schlagen.«
»Ihr schlagt sie zwar«, sagte Gronski, »aber eure Faust prallt von ihrem steinernen Schädel ab und trifft die Magengegend der eigenen Nation, die den Atem dadurch verliert und in Ohnmacht fällt. Ihr helft sogar auf diese Weise der Wirklichkeit.«
Und da er sich hierbei erinnerte, was er von den Ameisen und dem Ameisenbär erzählt hatte, wiederholte er dies Laskowicz.
Letzterer war damit nicht einverstanden: »Der Vergleich hat nur den Anschein von Wahrheit, denn menschliche Verhältnisse kann man nicht mit Verhältnissen in einem Ameisenhaufen vergleichen. Wer danach strebt, das Proletariat mächtig zu gestalten, der gibt damit seiner Nation eine neue genügende Kraft, um sich gegen Angriffe und Überfälle zu wehren. Nur auf solchem Wege ist alles zu erreichen, schon aus dem einfachen Grunde, daß man Alliierte in dem Proletariat der Nachbarvölker haben würde, die aus Feinden in Freunde sich verwandeln müßten.«
»Das ist ja auch ein Kompromiß, nur einer von unten herauf«, erklärte Gronski.
»Eben deshalb unbesiegbar und wirksam! Man hört nur immer: Polen! Polen! Aber jene, die es jeden Augenblick wiederholen, verbinden dies Polen mit solch verschiedenen, längst überlebten Dingen, wie Religion, Kirche usw., die schon mit Schimmel bedeckt sind oder mit Leichen, die bereits verfault. Wir sind die einzigen, die Polen mit einer mächtigen, jungen und lebensfähigen Idee verbinden, der die Zukunft schon darum angehört, weil bei ihr die gesamte Jugend steht.«
»Erstens nicht die ganze, nicht einmal die Hälfte«, erwiderte Gronski. »Zweitens, die Kirche hat so manche soziale Strömung überlebt, und wird sie noch ferner überleben, und drittens ist eure Idee so alt, wie die Not, die in der Welt ist. Wenn Sie aber behaupten wollen, daß diese Form, die ihr Lassalle und Marx gaben, neu sei, werde ich Ihnen folgendes sagen: Euer heutiger Sozialismus hat noch wirklich einen mächtigen Haarwuchs, aber wird er einmal kahlköpfig – dann wird ihn niemand so verhöhnen wie eben die Jugend.«
»Sie reden immer in Aphorismen. Glücklicherweise gleichen Aphorismen jenen auf den Bäumen der Dialektik hängenden Papierlampen, die man im Finstern sieht und die beim Sonnenlichte verlöschen.«
»Das ist ja ein fertiger Aphorismus«, erwiderte Gronski lächelnd. »Mein Herr, was ich sage, hat eine andere Bedeutung. Ich will nur andeuten, daß euer sozialistischer Staat, solltet ihr ihn je gründen, eine solche Unterwerfung der eigenen Persönlichkeit unter die sozialen Einrichtungen, ein solches Hineinpressen des Menschen in die Rädchen und Triebwerke der Maschinen und eine solche Sklaverei sein wird, daß selbst das heutige russische Reich im Vergleiche damit als Tempel der Weisheit erscheinen müßte. Und selbstverständlich würde eine Reaktion sofort eintreten. Presse, Literatur, Poesie und Kunst würden euch im Namen des Individuums und seiner Unabhängigkeit den unerbittlichen Krieg erklären – und wissen Sie, wer der Fahnenträger der Opposition wäre? – Die Jugend! – das ist so wahr, wie die Kiebitze, die Sie soeben hier sehen, über den Wiesen dahinschweben.«
Und er zeigte auf eine Schar Kiebitze, die den Viehweideplatz kreisend umflogen. Hierauf fügte er hinzu:
»In Frankreich hat es schon begonnen. Unlängst durchliefen die Straßen von Paris einige tausend Studenten mit dem Rufe: ›Fort mit der Republik!‹«
»Das ist die Drehkrankheit der Schafe«, erwiderte Laskowicz, »aber es ist dies der Kampf gegen den Radikalismus und nicht gegen uns. Wir verachten ihn auch nicht. Die Bourgeoisie meint, daß der Radikalismus sie im gegebenen Falle vor der Rache des Proletariats schützen würde, doch sie wird sich täuschen. Mittlerweile ebnen sie, ohne es zu wollen, den Weg für die Revolution.«
»Darin muß ich Ihnen recht geben«, sagte Gronski. »Ich sah in Kairo, wie vor dem Wagen des Paschas Saisen liefen und riefen: ›Aus dem Wege, aus dem Wege!‹ Denselben Dienst erweist euch der Radikalismus.«
»Ja!« erwiderte mit strahlendem Antlitze Laskowicz.
Gronski nahm den Zwicker herunter, reinigte ihn vom Staube und zwinkerte mit den Augen.
»Doch auch unter euch«, sagte er, »gibt es schon Unterschiede. Anders geartet ist der französische, anders der deutsche oder englische Sozialismus, und in deren Schoße entstehen schon feindliche Parteien. Darum will ich nicht vom Sozialismus im allgemeinen sprechen. Bei mir handelt es sich um dieses Quasi-Landesprodukt, dessen Agent Sie sind, denn aus Ihren Worten entnehme ich, daß Sie der sogenannten polnischen Sozialistenpartei angehören.«
»Ja«, erklärte Laskowicz energisch.
Gronski setzte neuerdings den schon gereinigten Klemmer auf und entfaltete nun voll die Segel.
»Sie behaupten also, daß ihr den Namen Polens mit einer jungen und mächtigen Idee verbindet und so in dessen Adern frisches Blut eingeflößt habt. Ich aber sage, daß die Idee, sie sei wie sie wolle, in euch in einem solchen Grade entartet ist, daß sie aufhörte, eine soziale Idee zu sein und zur sozialen Krankheit wurde. Ihr impftet dem Polenlande eine Krankheit ein und nichts weiter. Das neue polnische Gebäude muß man aus Ziegel und Stein errichten, nicht aber aus Dynamit und Bomben. Doch in euch gibt es keine Ziegel und keine Steine. Ihr seid nur ein Schrei des Hasses. Ihr verwerft das alte Evangelium und kennt nicht, ein neues zu schaffen, darum sprießt in euch kein Lebenskeim. Euer Name ist ›Irrtum‹, und deshalb wird das endliche Resultat eurer Bestrebungen immer gegen eure Voraussetzungen ausfallen, weil ihr mit dem allzu straffen Spannen der Streiksaite das Volk nur zur Schwäche und zum Elend bringen werdet, und aus Schwachen und Elenden werdet ihr nicht imstande sein, ein starkes Polen zu bauen. Das ist ja ganz klar. Und außerdem kann man doch nicht gleichzeitig auf demselben Kopfe zwei Mützen tragen, höchstens daß eine von ihnen zu unterst zu sitzen kommt. Ich frage nun, was hier ›unten‹ ist. Ist euer Sozialismus nur ein Mittel, um Polen zu gründen oder ist euer Polen nur ein Köder und ein Losungswort, das das Volk in euer Lager locken soll? Diesen Sozialisten, die sich Sozialisten ohne weitere Zugabe nennen, muß ich einräumen, daß sie logischer sind, da sie nicht behaupten, in einer Person Fisch und Krebs zugleich zu sein. Ihr aber betört euch selbst. Denn in Wirklichkeit ist es so, daß – wolltet ihr sogar etwas Polnisches zustande bringen, ihr es nicht könntet, weil in euch nichts Polnisches enthalten ist. Die Schule, die ihr durchgemacht, beraubte euch nicht eurer Sprache, weil sie es nicht vermochte, doch knetete sie euren Geist und eure Seele derart, daß ihr keine Polen, vielmehr Rußland hassende Russen seid. Was hieraus für Polen und Rußland entstehen wird, ist eine Sache für sich, aber es ist so. Euch scheint es, daß ihr im gegenwärtigen Augenblick Revolution macht, doch das ist nur der Affe einer Revolution, und dazu einer fremden. Ihr seid eine giftige Blüte von fremdem Geiste. Es genügt ja, eure Zeitungen, eure Schriftsteller, eure Dichter und Kritiker in die Hand zu nehmen! Ihr ganzer geistiger Gedankengang ist fremdartig; ihr wahres Endziel ist nicht einmal der Sozialismus und das Proletariat, sondern die Vernichtung. In der Hand die Brandfackel und im Grunde der Seele die Hoffnungslosigkeit und ein großes ›nihil‹. Und man weiß ja, woher das stammt. Der galizische Sozialismus ist auch kein Apollo von Belvedere, dennoch hat er andere Gesichtszüge und keine so breiten Backenknochen. Er besitzt nicht diese Wut, aber auch nicht diese Verzweiflung und Traurigkeit, die der lateinischen Kultur so entgegengesetzt sind. Ihr seid wie eine Frucht, die auf einer Seite noch grün und auf der anderen schon faul ist. Ihr seid krank. Diese Krankheit erklärt den grenzenlosen Mangel an Logik, der darin besteht, daß ihr gegen den Krieg schreit und trotzdem ihn führt, gegen die Feldgerichte schreit und ohne jedes Gericht verurteilt, gegen die Todesstrafe schreit und den Leuten Brownings in die Hand mit den Worten drückt: ›Töte!‹ Durch diese wahnsinnige Krankheit erklärt sich auch eure verrückte Begeisterung und eure vollständige Gleichgültigkeit gegenüber demjenigen, was folgen wird, wie auch gegenüber jenen, die euch als bloßes Werkzeug dienen. Sie mögen morden, Kassen berauben, ob sie aber nachher am Strick baumeln oder Lumpen werden, das ist euch gleichgültig. Euer ›nihil‹ erlaubt euch, aufs Blut und auf die Ethik zu spucken. Ihr öffnet die Tür breit selbst berüchtigten Halunken und gestattet ihnen, nicht nur die eigene Nichtnutzigkeit, sondern auch eure Idee zu repräsentieren. Ihr, um im allgemeinen zu sprechen, tragt die Vernichtung in euch und vereinigt Polen mit dieser Vernichtung. In eurer Partei gibt es zweifellos opferfähige und gutgesinnte, aber blinde Leute, die in ihrer Blindheit jemand ganz anderem dienen, als sie glauben.«
Gronski wußte, daß er vergeblich rede, doch sei es, daß er es gewohnheitsmäßig tat, sei es, daß er alles von sich abschütteln wollte, was sich in ihm angesammelt hatte, er hörte so lange mit dem Reden nicht auf, bis das Gerassel der Wagenräder auf dem Stadtpflaster seine Worte übertönte. Vor dem Hotel verabschiedeten sie sich jedoch sehr kühl voneinander, weil Gronskis Ansichten den jungen Mediziner sehr verletzt hatten.
Er gab Gronski durchaus nicht recht, und schon das Vorhandensein solcher Ansichten über seine Partei erfüllte ihn vorerst mit Zorn und Entrüstung. Er sagte sich zwar: »Es lohnt sich nicht der Mühe zu antworten, denn nicht unser Geist ist fremd, sondern unsere Idee ist neu; diese Gesellschaft gleicht einem Menschen, der, nachdem er jahrelang ein Haus bewohnt, nur unwillig in ein anderes übersiedelt, wenn auch dies andere besser ist.«
Dennoch verletzten ihn Gronskis Worte so tief, daß er ihn in diesem Augenblicke ebensosehr wie den Krzycki haßte, und er viel darum gegeben hätte, die ihm so gehässig erscheinenden Anschuldigungen widerlegen und zermalmen zu können. Unglücklicherweise fehlte es ihm dazu an Zeit, und dann fühlte er sich nach der schlaflos verbrachten Nacht auch sehr ermüdet.
Gronski begab sich auf die Post, nahm das Paket mit dem Sattel in Empfang und fuhr dann zum Arzt; da man ihm aber erklärt hatte, daß dieser erst in einer Stunde frei sein werde, ließ er den Wagen vor dessen Hause stehen und ging zum alten Notar Dzwonkowski, um ihm einen Besuch abzustatten und gleichzeitig Krzyckis Brief mit der Einladung nach Jastrzemb zu übergeben.
Der Notar war über die Einladung sehr erfreut, weil er ohnehin die Absicht hatte, die Familie Krzycki zu besuchen, um, wie er sich ausdrückte, »sein Herzpinkerl« zu sehen und die Zaubergeige zu hören.
Mittlerweile unterhielt er sich mit Gronski über die Ereignisse, die in der Stadt und Umgebung vor sich gingen. Er war durch dieselben so ergriffen und erregt, daß ihn die gewöhnliche Verdrießlichkeit verließ und in seinen Worten bittere Traurigkeit und schwere Sorge um die Zukunft einer Gesellschaft klang, die ganz kopflos zu werden schien. Die Fabrik- und teilweise auch Landstreiks ereigneten sich immer häufiger. In der Stadt feierten die Arbeiter der Kalköfen und in der einzigen Zementfabrik wurde die Arbeit ebenfalls eingestellt. Den Arbeitern, die über keine Ersparnisse von früher her verfügen konnten und nur von der Hand in den Mund lebten, mangelte es seit dem ersten Augenblicke an Brot. Nach Warschauer Muster bildete sich hier ein Komitee, um einer Hungersnot vorzubeugen. Dadurch aber entstand eine Lage, welche bewirkte, daß die der Arbeitslosigkeit feindlich gesinnten Leute dieselbe trotzdem aufrechthielten, indem sie den Müßiggängern Brot gaben.
»Es ist ein richtiger Circulus vitiosus«, sagte der tiefbetrübte alte Herr. »Gib nicht, dann treiben Hunger und Verzweiflung den Arbeiter in die Arme der Sozialisten, gib ja, so ist auch das den letzteren von Nutzen, weil sie dadurch Mittel zur Erhaltung der Arbeitslosigkeit in die Hand bekommen und das Volk von ihrer Allgewalt überzeugen.«
Er erzählte ferner, daß die Sozialisten auch außerhalb des Komitees Sammlungen veranstalteten oder richtiger dieselben erpreßten, indem sie den Ängstlichen Furcht einjagten; auch bei ihm seien sie erschienen, er habe aber erwidert, für Brot gebe er etwas, doch für Bomben sei er nicht zu haben. Sie hätten ihn mit dem Tode bedroht, wofür er sie hinausgeworfen.
Er schwieg eine Weile, denn der ihm angeborene Jähzorn gewann die Oberhand über seine Traurigkeit – er rollte zornig die Augen und bewegte die Kinnbacken so grimmig, als ob er alle Sozialisten mitsamt ihrer roten Fahne verschlingen wollte.
Nachdem er ausgeschnauft hatte, sprach er weiter:
»Unlängst haben sie mir ein Todesurteil zugeschickt, das sie auch vollstrecken werden, denn sie erklären den Krieg zwar der Regierung, morden jedoch die eigenen Landsleute. Na, Schwamm drüber! Vor drei Tagen hat man hier einen Klempner und zwei Arbeiter von der Zementfabrik getötet. In Wilczodoly, ein paar Werst von hier, überfiel und verwundete man Herrn Baczynski, und bei dieser Gelegenheit beraubte man auch das Monopolgeschäft. Szremski, der Arzt, den Sie eben nach Jastrzemb holen wollen, dessen Optimismus mir schon zuwider wird, sagt, es sei dies nur ein vorübergehendes Ungewitter. Ja! Alles geht vorüber, einzelne Menschen und ganze Nationen. Ich fürchte, daß gerade die unserige vergeht. Weil wir uns in ein Banditenvolk verwandeln, und das Banditentum kann doch keine feststehende Institution sein. Na! Selbstverständlich langweilt es schon die Leute von der Kampforganisation. auf Rechnung der Partei zu plündern, und sie tun es lieber auf ihre eigene. Weiß ich denn, ob wir heute lebend bei Krzyckis anlagen werden? Ja! Krzycki sollte mehr als die anderen auf der Hut sein. Er gilt als wohlhabender Mensch und darum werden sie ihn mehr als jeden anderen im Auge behalten. Ich werde nach Jastrzemb kommen, denn wenn sie mich schon morden wollen – so möchte ich noch vorher unser Wunderkind hören. Doch im Ernst gesprochen. Krzycki sollte, statt neue Gäste einzuladen, jene, die bei ihnen jetzt weilen, hinausexpedieren. Wäre Szremski klug, würde er morgen alle auseinanderjagen.«
»Ich höre, daß er ein tüchtiger Mann ist«, erwiderte Gronski.
»Ein tüchtiger Teufel«, sagte der Notar; »auch dürft ihr nicht vergessen, wen ihr unter euch habt, und daß es sich um sie handelt.«
Gronski, wenn auch durch Dzwonkowskis Erzählung beunruhigt und besorgt, konnte doch nicht umhin, über letztere Warnung zu lächeln, denn in gewöhnliche Worte übertragen lautete dieselbe:
»Euch alle kann der Teufel holen, wenn nur der kleinen Geigerin nichts Böses passiert.«
Da er aber selbst etwas Ähnliches empfand, wenn es sich um Marie handelte, beruhigte er nur den greisen Herrn:
»In Jastrzemb gibt es, Gäste und Dienerschaft mitgerechnet, zu viel Hände und Waffen, um einen Überfall zu befürchten, und außerdem wird die wahrscheinliche Abreise der Frau Krzycka der weiteren Anwesenheit der Gäste ein Ende machen.«
Die fernere Unterhaltung unterbrach die Ankunft des Doktors Szremski, der wie eine Bombe mit den Worten hereingeplatzt kam, daß er für den Rest des Tages frei sei und sogleich fahren könne.
Gronski betrachtete ihn sehr aufmerksam, denn noch in Warschau hörte er von ihm als von einer originellen und scharf ausgeprägten Persönlichkeit im vorteilhaftesten Sinne.
Er war noch ein ganz junger Mann mit lichtem Haar und dunklem Zigeunerteint, lebhaft wie Feuer, von strotzender Gesundheit, ein wenig laut und beweglich. In der Stadt und in der Umgebung spielte er eine nicht unbedeutende Rolle, nicht nur, weil er die größte Praxis hatte, sondern auch, weil er auf allen Gebieten ungemein tätig war. Er ging an jede Arbeit wie zur Attacke, und dank dem nüchternen, wenn auch mit ungeheurem Temperament gepaarten Geiste machte er alles, was er angriff, klug und gut. Er war die Personifikation jener in Polen so häufigen Erscheinung, daß in der nicht nur geknechteten, sondern auch nachlässigen und faulen Nation ein energievoller und unternehmender Mensch sich findet, der mehr leistet, als ein Deutscher, Engländer oder Franzose je leisten würde.
Szremski unternahm alles mögliche mit solcher Vehemenz, daß man ihn »Doktor Sporn« nannte. Er gründete Geheimschulen, Lesehallen, Kinderbewahranstalten, ökonomische Institutionen und Erwerbsgesellschaften; er war überall anwesend und gab Geld her, da er viel verdiente, obwohl er ganze Scharen Bedürftiger umsonst kurierte.
Die Ortssozialisten haßten ihn, weil er ihrer Tätigkeit durch seine Popularität und seinen Einfluß auf die Arbeiter im Wege stand. Die Behörden schauten ihn argwöhnisch und scheel an. Ein Mensch, der sein Land liebt, das Gesellschaftsleben organisiert, Bildung verbreitet und Geld für öffentliche Zwecke spendet, muß in ihren Augen verdächtig erscheinen, und verdiente mindestens in »entlegene Gouvernements« verschickt zu werden.
Glücklicherweise schien es der Frau des Gouverneurs, daß sie nervenkrank sei, und beim Gendarmeriehauptmann begann sich die Basedowsche Krankheit zu entwickeln. Die Gouverneurin, die dank ihrer Verbindungen den Mann zum Gouverneur gemacht hatte und das Gouvernement nach ihrem eigenen Wunsch regierte, war überzeugt, daß, wenn nicht l'homme qui rit – wie sie den Doktor zu nennen pflegte – zugegen sei, der Gouverneur in ewige Trauer verfallen müßte; und der Gendarmeriehauptmann hatte vor der Gouverneurin denselben Respekt wie vor der Basedowschen Krankheit. Er hatte zwar einen fertigen Rapport, den er für das Kunstwerk seines Lebens hielt – und er war auch vielleicht deshalb krank, weil er dies Meisterwerk an die vorgesetzte Behörde nicht abzusenden wagte.
Manchmal arretierte er in seiner Phantasie den Arzt und zwang ihn in einem strengen Verhör zur Bekanntgabe seiner Mithelfer; er träumte auch, daß dies Meisterstück einmal zu gebrauchen wäre, wenn man zufälligerweise den Gouverneur und ihn selbst in eine andere Provinz versetzen würde, aber dies alles war nur ein Traum. In Wirklichkeit blieb der Rapport im Innern seines Schreibtisches liegen, und der Arzt, der ihn gelesen (denn der Hauptmann zeigte ihm denselben zum Zeichen, was er machen könnte, und dennoch nicht täte) – lachte so aufrichtig darüber und war so selbstbewußt, daß der Hauptmann schon vollkommen überzeugt war, es sei mit der Gouverneurin und der Basedowschen Krankheit nicht zu spaßen.
Der Doktor lachte aber, weil er von Natur aus ein sehr lustiger Mensch war. Im gegebenen Falle konnte er zwar ernst denken und sprechen – doch bei kurzen Begegnungen und im eiligen Gespräch, wo es keine Zeit zu gründlichen Erörterungen gab, balancierte er lieber auf der Oberfläche der Dinge, machte Witze, erzählte Anekdoten, die dann in der Stadt kursierten und meistens ihm selbst Freude bereiteten. Ein unverbesserlicher Optimist, brachte er zugleich mit seinem Optimismus und dem strahlenden Gesicht, wo immer er sich zeigte, Zuversicht und Frohsinn mit. Mit den Kranken scherzte er über ihre Krankheit und mit Witzen verscheuchte er ihre Angst. Seine Lustigkeit gefiel den Leuten, und sein gründliches ärztliches Wissen sowie die erfolgreichen Kuren sicherten ihm eine Art Herrschaft über seine Patienten. Deshalb machte er sich nichts aus den örtlichen »großen Tieren« und überhaupt aus niemand.
So war es auch mit dem Notar, dessen Jähzorn und Schroffheit so gut in der Stadt bekannt waren, daß gesellschaftlichen Verkehr mit ihm nur jene unterhielten, die sich ausnahmsweise für Musik interessierten. Der Arzt, der auch über Musik seine Scherze machte, suchte absichtlich die Gesellschaft des Notars, um ihn zu necken und nachher zu seinem eigenen und der übrigen Zuhörer Ergötzen von seinem Aufbrausen zu erzählen.
Und nun kam er wie ein Wirbelwind herangebraust, machte Gronskis Bekanntschaft, erkundigte sich nach der Gesundheit der Frau Krzycka und nach den schönen in Jastrzemb weilenden Damen, von denen er bereits gehört hatte, und, indem er das kummervolle Gesicht des Notars betrachtete, rief er lustig aus:
»Was ist denn das für eine Miene! Geht es uns denn schlecht auf dieser Welt oder was gibt's? Fünfundsiebzig Jahre. Große Sache! Das ist zwar nicht das Alter der Stärke, aber ein starkes Alter! Zeigen Sie den Puls!«
Hier ergriff er die Hand des Notars, ohne ihn zu fragen, zog die Uhr heraus und begann zu zählen:
»Eins, zwei! – Eins, zwei! – Eins, zwei! – Schlecht! Der Puls eines Verliebten und dazu ein bißchen Sodbrennen. So ist's gewöhnlich. Länger als fünfundzwanzig Jahre wird eine solche Maschine nicht funktionieren … Höchstens dreißig. Ich danke!«
Nach diesen Worten ließ er die Hand des alten Herrn los, dessen Miene im Nu sich gebessert hatte, denn er dachte, daß fünfundzwanzig Jahre zu denen hinzugerechnet, die er bereits zählte, ein schönes Alter gebe.
Aber mit der Miene eines Schmollenden erwiderte er:
»Immer wieder diese Witze. Sie, Doktor, glauben vielleicht, mir wäre es um diese elenden fünfundzwanzig Jahre zu tun. Es lohnt sich wirklich nicht der Mühe, jetzt zu leben. Sie wissen ja, was alles jetzt geschieht. Eben deshalb habe ich eine solche Miene, weil ich mit Herrn Gronski darüber sprach. Sodbrennen habe ich auch, ja! Ich frage nur, was mit uns geschehen wird, wenn diesen Leuten das ganze Volk folgt?«
Der Doktor fuchtelte mit den Händen herum und verneinte energisch. Weder das ganze Volk, noch die Hälfte, noch der tausendste Teil desselben. Und selbst jene, die behaupten, zu den Sozialisten zu gehören, sagen dies unter der Schreckensherrschaft oder aus Unverständnis.
»Ich werde Ihnen folgende zwei Beispiele anführen«, fuhr er dann fort; »ich wohne im Parterre, und unter mir befindet sich im Souterrain eine Schlosserwerkstätte. Nun höre ich nachstehendes Gesprächsfragment zwischen meinem Famulus und dem Schlosser. Letzterer sagt: ›Ich bin ein Sozialist, das ist einmal ausgemacht!‹ – ›Wieso ausgemacht?‹ fragt mein Diener, ›glauben Sie denn nicht an Gott und lieben Sie nicht Polen?‹ – ›Und weshalb sollte ich an Gott nicht glauben und Polen nicht lieben?‹ – ›Weil die Sozialisten nicht an Gott glauben und Polen nicht lieben.‹ – Und der Schlosser hierauf: ›So? Dann soll sie allesamt die Krankheit dahinraffen!‹ – Auf diese Weise gehören also die Leute zu den Sozialisten. Ich sage, nicht alle, aber viele von ihnen! – Ha.« Und er fing an zu lachen.
»Sie, Doktor, finden immer eine Anekdote«, fauchte der Notar, »aber gestehen wir uns die Wahrheit: ihnen gehören Tausende an.«
»Dann sollen sie wenigstens einen Abgeordneten aus dem Königreich Polen durchbringen«, entgegnete der Arzt. »Die Bomben explodieren laut, darum hört man sie besser als sonstige Arbeit. Und wieviel Tausende nahmen Teil an dem nationalen Aufzug? Gehören diese auch sämtlich zu ihnen? Wenn in der Fabrik drinnen zehn eine rote Fahne aufpflanzen – dann scheint die ganze Fabrik rot zu sein, und das ist eben nicht wahr!«
»Warum also reißen sie die anderen nicht herunter?«
»Ganz einfach! Weil die Polizei sie herunterreißt.«
»Und deshalb«, warf Gronski ein, »weil jene keine Revolver haben und die Polizei solche besitzt.«
»Zweifellos!« sprach der Doktor weiter. »Ich habe mit den Arbeitern zehnmal mehr zu tun, als jeder Fabrikdirektor. Ich betrete ihre Wohnungen und habe Einblick in ihr häusliches Leben. Ich kenne sie. Der Sozialismus ringt mit der Bureaukratie, darum meinen viele, daß sie Sozialisten seien. In die Kampforganisation haben sich jedoch nur die finstersten und verkommensten Elemente eingereiht. Diese verwandeln sich dann in Banditen – und kein Wunder! Man nahm ihnen ihr Gewissen und gab ihnen dafür Revolver. – Aber die Mehrzahl, die größere und ehrlichere Mehrheit, trägt ein polnisches Herz in der Brust, und deshalb hat sich der Teufel, der sie unterjochen will – als Lockmittel der polnische genannt. Ach! gebt ihnen mehr Schulen, Wissen, Kenntnis in der polnischen Geschichte, daß sie sich nicht betrügen lassen, das tut not – nur das!«
Und temperamentvoll faßte er den Greis an den Armen und drehte ihn herum:
»Schulen, lieber Notar, Schulen, um Gottes willen!«
Dem Notar stieg vor Empörung das Blut in den Kopf:
»Sind Sie toll geworden?!« rief er, »was rütteln Sie mich wie einen Birnbaum!«
»Ganz richtig«, erwiderte der Doktor, indem er ihn losließ, »ganz richtig. Und manche von diesen Ärmsten haben überhaupt keinen Begriff davon, darüber müßte man zugleich weinen und lachen.«
»Nein, zum Lachen ist es wahrlich nicht«, sagte Gronski.
»Wissen Sie, mein Herr, manchmal hätte man schon Lust hierzu«, rief der Arzt, »denn hören Sie mein zweites Beispiel an: Vorigen Sonntag war ich hundemüde und fuhr in den Gorczyner Wald hinaus. Dort kommen mir einige Arbeiter entgegen, die augenscheinlich einen Ausflug machten. Ich sehe nun, wie einer von ihnen auf einem frisch abgeschabten Stocke eine rote Fahne trägt. Sicherlich hat er sie in der Tasche mitgebracht und erst im Walde angeheftet. Gut, denke ich, es sind Sozialisten! Wie ich in ihre Nähe komme, höre ich, daß der Fahnenträger mit einer bis zum Himmel dringenden Stimme nach der Melodie »Bartoszu, Bartoszu!« das singt, was ich euch gleich wiederholen werde, ohne auf Ehrenwort etwas davon wegzulassen oder etwas hinzuzufügen:
»Kosciusko – obwohl er ein Schuster war,
Ach, schlug er mächtig die Deutschen!
Ach, schlug er mächtig die Deutschen!
Nur tut es uns sehr leid,
Daß er ertrank!
Nur tut es uns sehr leid,
Daß er ertrank!« –
»Ach, der gutmütige Dummkopf!« rief Gronski, »ich möchte ihn umarmen und ihm die neueste Geschichte Polens schenken.«
»Warten Sie nur!« rief der Doktor. »Ich halte also diese seltsamen Sozialisten auf (es zeigte sich, daß alle gute Bekannte von mir waren) und sage ihnen: ›Um Gottes willen, Bürger, Kosciusko war doch kein Schuster, besiegte nicht die Deutschen und nicht er ertrank, sondern Fürst Josef Poniatowski! Besucht mich und ich gebe euch ein Buch über Kosciusko, Kilinski und Josef Poniatowski, die ihr jetzt alle drei zusammenmengt.‹ Sie dankten mir, und da fragte ich sie: ›Wo verschwand denn der Adler von eurer Fahne? Ging er Schwämme suchen oder was anderes?‹ Sie waren sehr verwirrt, und der Fahnenträger selbst erklärte mir, weshalb sich auf der Fahne kein Adler befände. ›Damit verhält es sich so, Herr Doktor: man sagte uns, nehmt nicht die Fahne mit dem Adler, denn wenn man sie euch wegnimmt, wird der Adler schnöde behandelt und ihr müßtet euch schämen und kränken.‹ – So! Auf diese Art betrügt man die polnischen Herzen unseres Volkes.«
Der Notar wollte jedoch die schwarze Brille nicht weglegen. »Sie behaupten demnach«, fragte er, »wenn nicht dies und jenes, dann gäbe es bei uns keinen Sozialismus?«
»Er ist auf der ganzen Welt, er wäre also auch bei uns«, erwiderte der Doktor, »nur wenn nicht dies und jenes, dann würde an seiner Seite nicht Raub, Verwilderung und Blindheit schreiten, und er wäre nicht so, wie der heutige, der sich der polnische nennt, obgleich er meilenweit nach Teer riecht.«
»Bravo!« rief Gronski, »dasselbe habe ich bereits heute mit anderen Worten jemand auf dem Wege von Jastrzemb nach hier gesagt.«
»Ach, Jastrzemb«, rief der Doktor, indem er die Uhr betrachtete, »da schwatzt man und es ist Zeit zu fahren.«
»Vielleicht fährt der Herr Notar mit uns?« fragte Gronski, »der Wagen ist viersitzig.«
»Gut! Ich nehme nur die Flöte mit – ja, so!« erklärte der Notar.
»Ja, so!« wiederholte nachahmend Szremski. »Aha, die Flöte! In Jastrzemb wird eine Serenade veranstaltet, während die Sozialisten hier mittlerweile die Kanzlei berauben werden.«
Der Notar, der schon ging, um die Flöte zu holen, kehrte plötzlich zornig zurück und sagte:
»Die Leute haben mir heute ein Todesurteil geschickt.«
»Pah! Ich habe deren bereits zwei«, erwiderte Szremski lustig.
Eine Viertelstunde darauf waren sie schon auf dem Wege nach Jastrzemb; Gronski und der Arzt schlossen nähere Bekanntschaft und plauderten so eifrig, daß, wie Gronski später selbst gestand, kein Platz für eine Stecknadel übrig blieb.