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In dem Augenblicke, als Fräulein Anney den verwundeten Wladislaw emporhob, weilte die Dienerschaft am anderen Ende des Hauses. Am nächsten, weil auf dem Vorplatz beim Billard, befanden sich Frau Otocka und Marie. Als diese auf die Veranda hinauseilten und das den Verwundeten stützende Fräulein Anney sahen, begannen sie ebenfalls laut zu schreien. Jene legte den Bewußtlosen unterdessen auf eine Bank nieder, stützte ihn und rief nach Wasser. Die beiden Schwestern liefen und alarmierten das ganze Haus. Die gesamte Dienerschaft kam gerannt; auch Gronski erschien, der im ersten Augenblick ganz kopflos war und erst, nachdem er wieder zur Besinnung gekommen, eiligst Frau Otocka zu Frau Krzycka sandte, um dieselbe von dem Vorfalle zu benachrichtigen.
Mittlerweile befahl Fräulein Anney einigen Dienern, den Verwundeten auf sein Zimmer zu tragen; sie selbst mußte sich für eine Weile mit ihrer Zofe befassen, die beim Anblicke Krzyckis in hysterische Krämpfe verfiel. Gronski eilte nach dem Stall, um sogleich den Kutscher zum Arzt zu senden.
Aber bevor man den Verunglückten auf sein Zimmer brachte, kam eiligst die Mutter herbeigelaufen, die bei dieser Unglücksnachricht ihren Rheumatismus vergaß und hilfreiche Hand beim Transportieren, Auskleiden und Niederlegen des Sohnes bot, dem sie sodann die Wunden mit einem Schwamme reinigte. Infolge des großen Blutverlustes verfiel Wladislaw in eine tiefe Ohnmacht und, nachdem er kaum seine Besinnung wiedererlangt, wurde er zum zweitenmal ohnmächtig, so daß er keine Erklärung des Vorfalls geben konnte. Er murmelte mehrmals: »im Walde, im Walde«, woraus man schließen konnte, daß der Überfall nicht auf öffentlicher Straße, sondern irgendwo bei Rzenslewo oder Jastrzemb stattgefunden hatte.
Inzwischen ertönte das Heranrasseln der Britschke, und nach einer Weile rief Gronski das Fräulein Anney aus ihrem Zimmer heraus, wo sie eben das blutbefleckte Kleid abgelegt hatte.
»Ich fahre allein zum Arzt«, sagte er, »der Kutscher ist auch verwundet und die Wirtschafterin pflegt ihn, keiner von den Stallknechten wollte mitfahren, alle fürchten sich und geben mir abschlägige Antwort. Nur der alte Lakai Anton ist bereit, aber er kann noch weniger kutschieren als ich.«
»Man muß allerdings sogleich zum Arzt fahren«, erwiderte Fräulein Anney, während sie die Handflächen an die glühenden Backen legte, »aber man muß auch an die Verteidigung des Hauses denken. Eilen Sie noch zur Gesindehütte und senden Sie zu den Waldhütern, die bewaffnet hierher kommen sollen, denn sonst könnten jene ihm hier noch den Garaus machen.«
»Ganz richtig.«
Und sie sprach schnell weiter:
»Auch die Arbeiter aus der Sägemühle müssen mit ihren Gewehren kommen. Die Knechte werden ihrem Beispiele folgen. Es ist wahrscheinlich ein Überfall des Herrschaftshauses geplant, und hier sind nur Frauen. Man muß sich mit der Verteidigung befassen. Gehen Sie, gehen Sie!«
Gronski sah die Richtigkeit dieser Ratschläge ein und lenkte seine Schritte dem Meierhofe zu.
Es war wohl denkbar, daß die Angreifer sich von der Wirkung ihrer Schüsse überzeugen möchten, um nötigenfalls ihre Arbeit hier zu vollenden. So war es auch in einigen anderen Fällen geschehen, und deshalb waren alle, und besonders die Frauen, in Gefahr.
Gronski, der zwar kein energischer Mensch, aber doch auch kein Hasenfuß war, flößte der Gedanke an die überaus teure Marie Mut ein. Er sandte sogleich Knechte zu den Waldhütern, ebenso in das Sägewerk, wo einige Leute arbeiteten, von denen man im Herrschaftshause wie auch im Dorfe wußte, daß sie den »Polen« lasen und niemand fürchteten.
Das Hauptgesinde überwand schnell den ersten Schreck, wohl hauptsächlich dadurch, daß der verwundete Kutscher – obwohl er die aus dem Gebüsch schießenden Angreifer nicht gesehen hatte – bestimmt behauptete, daß Rzenslewoer Bauern den Gutsherrn wegen der Grenzstreitigkeiten überfallen hätten. Dies benahm der Angelegenheit allen geheimnisvollen Schauder, denn der Bauer fürchtet nicht die Gefahr, sondern nur das Geheimnisvolle. Da überdies zwischen den Leuten aus Jastrzemb und Rzenslewo eine alte Fehde seit der Zeit der Streitigkeiten um den Bach herrschte, verschwand nicht nur bei den Jastrzembern, als sich im Dorfe das Gerücht vom Überfall auf ihren Herrn verbreitete, die Furcht, sondern es flammte in ihnen ein Rachegefühl auf.
Die Knechte begannen sich jetzt zu schämen, daß sie den Arzt nicht hatten holen wollen. Andere, als sie erfuhren, daß die Rzenslewoer das Herrschaftshaus anfallen wollten, griffen nach Mistgabeln und rissen Latten von den Zäunen.
Gronski, der von dem Todesurteil gegen Wladislaw wußte, hatte über diese Angelegenheit eine andere Meinung, die er aber für sich behielt, da er einsah, daß der Bauer, obwohl er anfangs eine gewisse Ängstlichkeit zeigt, sich vor nichts mehr fürchtet, wenn er sich einmal entschließt, Latten aus dem Zaun zu reißen.
Also zufrieden mit dieser Sachlage, nahm er einen starken Stallburschen mit sich, der es auf sich nahm, ihn in die Stadt zu fahren.
Aber im Herrenhause erwartete ihn schon eine Überraschung, da keine Spur von einer Britschke zu finden war; an der Veranda stand der alte Lakai Anton ganz ratlos und neben ihm das blasse, verweinte Fräulein Marie, das bei seinem Anblick ausrief:
»Wie konnten Sie ihr gestatten, allein in die Stadt zu fahren? Wie konnten Sie das erlauben?«
»Fräulein Anney ist allein in die Stadt gefahren?« schrie Gronski auf, und auf seinem Gesichte malte sich ein solches Staunen, daß man leicht erriet, es sei nicht mit seinem Wissen und Wollen geschehen.
»Herr Gott!« rief er, »sie sandte mich auf den Meierhof, um eine Verteidigung zu organisieren, und es fiel mir nicht im Traume ein, zu denken, daß sie mittlerweile auf die Britschke springen und fortfahren werde.«
Aber Marie hörte nicht auf zu wehklagen:
»Man wird sie im Walde töten, man wird sie ermorden!« wiederholte sie, die Hände ringend.
Gronski versprach zwar, um sie zu beruhigen, sogleich Hilfe nachzusenden aber, als er auf den Meierhof zurückkehrte, begann er zu klügeln: selbst wenn er zu Pferde nacheilte, würde er nichts ausrichten, und das Haus wäre dann ohne männlichen Arm und Marie ohne Schutz; wenn er Knechte nachsenden würde, könnten diese den Wald erst dann erreichen, wenn Fräulein Anney denselben schon passiert haben würde. Man konnte ihr so ziemlich die Rückkehr sichern, aber um Leute auszusenden, welche die Aufgabe hätten, sie während des Durchfahrens des Waldes in der Richtung gegen die Stadt zu schützen, dazu war es absolut zu spät.
Das sah auch Dolhonski ein, der nichtsahnend zufällig eine halbe Stunde darauf von Gorki nach Jastrzemb zurückkehrte. Nachdem er Kunde von dem Vorfall und von der Expedition des Fräulein Anney erhalten hatte, konnte er sich nicht enthalten, auszurufen:
»Ist das ein mutiges Mädchen! Ich wollte, daß ich Krzycki wäre.«
Dann, als er mit Gronski ging, um den Verwundeten zu sehen, fügte er hinzu:
»Man muß ihr entgegenkommen, und das werde ich besorgen.«
Wladislaw war schon wieder bei Besinnung und wollte aufstehen, er unterließ es jedoch infolge der flehentlichen Bitte seiner Mutter. Die zwei Freunde sagten ihm selbstverständlich nicht, wer den Arzt rufe, sie benachrichtigten ihn nur, daß er in kurzer Zeit erscheinen werde.
Dolhonski übernahm jetzt das Kommando über die Besatzung, die das Herrschaftshaus verteidigen sollte. Gronski hatte nicht so viel Energie, Kaltblütigkeit und Selbstbewußtsein von ihm erwartet. Die Organisation der Verteidigung ging leicht vonstatten; zwei Waldhüter von Jastrzemb und einer von Rzenslewo, der später hinzukam, hatten einige Gewehre, und im Hause befanden sich sechs Stück Jagdflinten von Wladislaw, darunter zwei Stutzbüchsen. Dolhonski verteilte das ganze Arsenal an Leute, die mit Waffen umzugehen wußten.
Es meldeten sich noch einige Leute des Wirtschaftsgesindes, die den japanischen Krieg mitgemacht hatten; auf diese Weise brauchte man einen Überfall nicht zu fürchten, zumal er nicht unverhofft erfolgen konnte. Die national aufgeklärten Arbeiter aus dem Sägewerk wünschten sogar sehr, daß sich etwas ereigne, um zu zeigen, wie man ungebetenen Gästen den Weg weise.
Nachdem dies alles erledigt war, übergab Dolhonski die Verteidigung des Hauses und der Frauen an Gronski. Er beruhigte jedoch vorher dieselben bezüglich des Fräulein Anney, denn er war ja von Gorki durch denselben Wald zurückgekehrt und hatte ihn unbehelligt passiert. Dies war zwar ganz richtig, aber er war der Engländerin gar nicht begegnet, das mutige aber auch kluge Fräulein mußte daher einen anderen, sicheren Seitenweg gewählt haben.
Da es jedoch zur Stadt nicht weit war, und man ihre Rückkehr jeden Augenblick erwarten konnte, nahm Dolhonski zwei schwer bewaffnete Waldhüter mit sich und ging ihr entgegen. Gronski bewunderte wieder seine Kaltblütigkeit und seinen Einfall, nämlich den Bauern im Namen des »Zentralkomitees« zu befehlen, daß sie, im Falle sie Schüsse im Walde hören würden, in ganzen Haufen zu Hilfe eilen sollten. Die Bauern wußten nicht, was das »Zentralkomitee« eigentlich zu bedeuten habe, Dolhonski wußte es ebenfalls nicht. Er wußte nur, daß schon der bloße Name Eindruck machen und die Vermutung, es sei dies eine politische Behörde, ihm desto eher Gehör verschaffen müsse.
Es war jedoch eine überflüssige Vorsicht, denn es zeigte sich, daß weder im Jastrzember noch im Rzenslewoer Walde, der parallel mit dem Straßenrand sich hinzog, irgend ein Verdächtiger war. Diejenigen, die auf Krzycki gefeuert, hatten sich wahrscheinlich aus Furcht vor Verfolgung mit entsprechender Schnelligkeit entfernt oder hatten sich in entlegenes Gebüsch versteckt, um den Einbruch der Nacht abzuwarten. Einer von den Waldhütern, der vorher den Kutscher genau nach der Stelle ausfragte, wo das Verbrechen geschehen war, fand jedoch, als er das benachbarte Dickicht genau untersuchte, leere Browningpatronen, wodurch die Vermutung, die Rzenslewoer Kleinhäusler seien die Angreifer gewesen, sich als falsch erwies.
Dolhonski zweifelte nicht mehr, daß der Überfall die Folge des Todesurteils war, von dem ihm Gronski erzählt hatte. Aber das eben erschien sehr bedeutungsvoll. Es kam ihm vor, als ob das Zusammentreffen mit den Angreifern und ein mit ihnen auszufechtender Strauß ein Hasardspiel wäre. Man fand auch bald noch weitere leere Browningpatronen, doch weitere Nachforschungen blieben resultatlos. Dann lenkte Dolhonski auf die nach der Stadt führende Straße ab und traf eine halbe Stunde später das in vollem Galopp zurückkehrende Fräulein Anney, hinter der im Fond der Britschke der Arzt saß.
In der Stadt war Jahrmarkt, deshalb war der Weg voll von Wagen aus Jastrzemb und Rzenslewo, und eine Menge von nach Hause zurückkehrender Leute belebte die Straße. Aus diesem Grunde erschrak Fräulein Anney beim Anblick der ihr entgegenkommenden drei Bewaffneten auch nicht, und nach einer Weile, als sie Dolhonski erkannte, hielt sie das Pferd an und fragte:
»Was macht der Verwundete?«
»Er ist bei Besinnung; es geht ihm gut.«
»Was hört man zu Hause?«
»Nichts Neues.«
»Gott sei Dank!«
Das Wägelchen fuhr eilends weiter und verschwand nach einiger Zeit in Staubwolken, und da Dolhonski hier nichts weiter zu tun hatte, kehrte auch er nach Jastrzemb zurück.
Die ihm folgenden Waldhüter plauderten miteinander und machten Bemerkungen über das Fräulein, das »wie der beste Fuhrmann kutschiere«. Dolhonski behielt ebenfalls ein junges hübsches Mädchen mit Zügeln in den Händen, flammenden Antlitzes und zerzausten Haaren im Gedächtnis. Wie viel Mut und Schwung war doch in diesem Wesen!
Noch nie erschien ihm Fräulein Anney so reizend wie jetzt. Er wußte von Gronski, auf welche Weise sie in die Stadt gelangt war, und er bewunderte sie aufrichtig.
»Das sind nicht unsere durchsichtigen, vor jedem Windhauch erzitternden Gallertchen«, sprach er zu sich selbst, »das ist Leben, Kühnheit, das ist Rasse!«
Er bewunderte immer alles Englische vom Hause der Lords angefangen bis zu den Gegenständen aus gelbem englischen Leder; doch jetzt wuchs seine Bewunderung noch viel mehr: »Wenn ihre Mitgift nicht nach polnischen Gulden, sondern nach Guineen zählt«, monologisierte er weiter, »so ist Wladislaw ein Glückspilz.«
Und da er zwar mutig, dabei aber auch ein Egoist war, entschwand sowohl Krzycki als auch die Gefahr, die sie alle bedrohte, bald aus seinem Sinn und er dachte über seine eigene Lage nach.
Er erinnerte sich, daß er sich einmal im Leben für eine reiche Mitgift habe verkaufen können, aber mit einer Zugabe, die ihn lieber auf alles verzichten ließ. Wenn man nur eine dem Fräulein Anney ähnliche Beigaben finden könnte! Und plötzlich tat es ihm gewissermaßen leid, daß er, nachdem er sie kennen gelernt, sich nicht angelegentlicher um sie bemüht habe. Wer weiß, dachte er, ob das nicht möglich gewesen wäre. Aber in diesem Falle hätte er sich ihr mehr romantisch und ritterlich, und nicht so klubmäßig und spöttisch vorstellen sollen. Das war gewiß nicht ihr »Genre«. Vor allem hätte er sich keinen eitlen Hoffnungen in bezug auf Frau Otocka hingeben sollen. Dolhonski hatte seit einiger Zeit seine Cousine im Verdacht, daß sie eine geheime Neigung für Gronski hege, und gleichzeitig konnte er nicht begreifen, wodurch Gronski die Gunst der Frauen sich erwarb.
Jetzt aber hatte er nur wenig Vertrauen zu sich selbst, weil er trotz der eigenen guten Meinung von sich empfand, daß etwas in ihm verfehlt sei, daß in seinem inneren Mechanismus ein Rädchen fehle, ohne welches der ganze Apparat nicht richtig funktioniere.
»Wenn ich«, so kalkulierte er, »mich nur durch eine reiche Heirat auf der Oberfläche erhalten kann und mein ›Genre‹ entspricht weder dem Geschmacke der Frau Otocka, noch dem des Fräulein Anney, noch den Weibern überhaupt, so bin ich ein großer Narr.« Und er fühlte, daß er nicht imstande sei, sich zu ändern, aus Faulheit sowohl als auch aus Furcht vor Lächerlichkeit. »Und deswegen wird man höchstens sich bis ans Ende mit Kajetana samt Zubehör begnügen müssen?«
Mißvergnügt kehrte er nach Jastrzemb zurück, ordnete die Nachtwachen an und ging dann ins Herrenhaus, wo er erfreulichere Nachrichten hörte. Der Arzt konstatierte bei Wladislaw eine Verwundung der linken Schulter; da aber der Schuß von unten nach oben gedrungen war, hatte er die Lunge nicht berührt. Der zweite Schuß riß ein ziemlich großes Stück Haut weg, der dritte zerschmetterte die Spitze des kleinen Fingers. Die Wunden waren zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich.
Dem Kutscher wurde nur die Kopfhaut gestreift. Am ärgsten zugerichtet war das linke Deichselpferd, das jedoch dank dem kleinen Kaliber der Kugeln imstande gewesen war, noch mit dem anderen Pferde nach Hause zu galoppieren, und es verendete erst eine Stunde später.
Dies alles bewies jedoch, daß der Überfall kein Standgericht der Rzenslewoer zur Verteidigung des Waldes, sondern ein wohlgeplanter Angriff war. Deshalb war Gronski der Ansicht, Frau Otocka müsse mit Marie den nächsten Tag bestimmt abreisen. Er selbst wollte sie zur Bahn begleiten und dann nach Jastrzemb zurückkehren. Aber beide erklärten, jetzt so lange bleiben zu wollen, bis alle imstande seien, mitzureisen. Fräulein Marie stritt bei dieser Gelegenheit das erstemal in ihrem Leben mit Gronski, und es blieb selbstverständlich dabei, daß er nachgab.
Übrigens wurde die Abreise nicht lange hinausgeschoben, zumal der Arzt in Aussicht gestellt hatte, daß man in etwa einer Woche bei Beobachtung aller gebotenen Vorsichtsmaßregeln imstande sein werde, den Verwundeten nach Warschau zu überführen. Niemand kam es in den Sinn, dem Fräulein Anney die Abreise vorzuschlagen.
So verging der Rest des Abends. Gegen zehn Uhr wollte Doktor Szremski, der alles getan, was in seinen Kräften stand, in die Stadt zurückkehren, aber mit Rücksicht auf Frau Krzycka blieb er für die Nacht, und da er sich sehr müde fühlte, begab er sich in Gronskis Zimmer zur Ruhe und schlief sofort ein.
Es wurde vereinbart, daß die beiden Schwestern bei Frau Krzycka wachen sollten, da diese infolge der Erregung Herzbeklemmungen bekommen hatte; Anney dagegen und Gronski sollten die Nacht beim Verwundeten zubringen.
Der neue Tag begann zu dämmern; Wladislaw erwachte aus einem ziemlich unruhigen Schlaf. Er fühlte sich etwas wohler und da er sehr durstig war, sah er sich nach jemand um, der ihm einen Trunk reichen möchte, und er bemerkte das beim Fenster sitzende Fräulein Anney. Sie mußte wohl schon lange dort gesessen haben, da sie mit unbeweglich auf den Knien ruhenden Händen und mit so tief gesenktem Kopfe schlummerte, daß Wladislaw im ersten Augenblick nur ihre vom Licht der grünen Lampe bestrahlten Haare sah. Sie zuckte jedoch bald zusammen, wie wenn sie ahnte, daß der Kranke erwacht sei. Sie schien seine Gedanken zu erraten, indem sie, auf den Zehen sich nähernd, ihn fragte:
»Wünschen Sie etwas zu trinken?«
Krzycki antwortete nicht, lächelte nur und bejahte, leise mit dem Kopfe nickend. Er trank von dem ihm gereichten Wasser, ergriff dann mit seiner gesunden Hand diejenige des Fräulein Anney und preßte sie an seine Lippen.
»Meine Teuerste – mein Schutzengel!« flüsterte er.
Wieder preßte er die Lippen an ihre Handfläche.
Fräulein Anney versuchte nicht, dieselbe zu befreien; sie nahm nur mit der linken Hand das Glas und stellte es aufs Nachttischchen, beugte sich über Wladislaw und sagte freundlich:
»Sie brauchen Ruhe … ich bleibe bis zu Ihrer Genesung hier, aber jetzt muß man nur an die Gesundheit denken, nur an die Gesundheit.«
In ihrer Stimme klang eine stille sanfte Mahnung. Krzycki ließ ihre Hand los. Eine Zeitlang bewegte er die Lippen, aber man, konnte kein Wort verstehen, die Aufregung hatte ihn geschwächt; er erblaßte, und seine Stirn bedeckte sich mit Schweißtropfen.
Fräulein Anney kühlte ihm das Gesicht. »Beruhigen Sie sich: wenn ich bemerke, daß meine Gegenwart Sie aufregt, werde ich mich entfernen, so gern ich jetzt bei Ihnen bleiben möchte. Kein Wort mehr davon, bis Ihre Wunden geheilt sind, kein Wort. Versprechen Sie es mir?«
Es trat eine Pause ein.
»Ruhen Sie sich aus!« bat Krzycki flehentlich.
»Ich werde gehen, ich werde gehen, obgleich ich gar nicht müde bin. Während der ersten Hälfte der Nacht saß Herr Gronski bei Ihnen und ich schlief. Ich bin wirklich gar nicht müde und werde mich bei Tage ausruhen. Trachten Sie einzuschlafen. Sie dürfen mich nicht anschauen, nur die Augen müssen Sie schließen, dann wird der Schlaf von selbst kommen. Gute Nacht! – oder eigentlich guten Tag! weil es doch draußen schon tagt.«
Der Himmel färbte schon rosig und golden das Morgenrot, und die Sonne war im Begriff aufzugehen. Das Licht der grünen Lampe verschwand allmählich und vermischte sich mit dem Tageslicht. Wladislaw, der beweisen wollte, daß er auf die Worte seiner Vormünderin gehorcht, schloß nun die Augen, sich den Anschein eines Schlafenden gebend. Nach einer Weile vernahm man Schritte auf dem Korridor und der Arzt trat ein mit dem Dienstmädchen des Fräulein Anney, das nun die Wache beim Kranken übernehmen sollte. Der noch ziemlich verschlafen dreinblickende Arzt war lustig und lärmend wie immer. Er besah die Bandagen, fand die Verbände gut, untersuchte den Puls des Kranken, erklärte, alles sei in Ordnung und öffnete hierauf die Fenster, um die von Jodoform geschwängerte Luft aufzufrischen.
»Ein herrlicher Morgen« sprach er, »was? Die Gesundheit fliegt vom Himmel herab. Die Fenster sollen den ganzen Tag geöffnet bleiben. Sobald man nur angespannt hat, fahre ich sofort in die Stadt, da ich Patienten habe, die nicht warten können. Aber abends komme ich wieder und bringe einen Krankenwärter für den Verwundeten …«
Daraufhin wandte er sich an Fräulein Anney:
»Der Verwundete befindet sich ausgezeichnet und von Fieber kaum eine Spur! Frau Krzycka werde ich noch vor meiner Abreise besuchen. Man muß sie den ganzen Tag im Bette halten, und die Cousinen sollen sie pflegen. Ihnen verordne ich auch das Bett. Atmen darf man, seufzen nicht. Ha! ich werde hierher gegen fünf Uhr nachmittags zurückkehren, wenn man mir nicht vorher auf dem Wege ein paar Pillen aus der sozialistischen Apotheke eingibt. Das ist eine moderne Arznei, und daß sie schnell wirkt, muß man schon zugeben.«
»Was macht denn die Mutter?« fragte Wladislaw beunruhigt.
Daraufhin wandte sich Szremski wieder an Fräulein Anney:
»Befehlen Sie ihm, still zu liegen, da er mir nicht gehorcht. Ihre Frau Mutter ist keine Fünfzehnjährige mehr. Gestern hat sie sich, ihres Rheumatismus und des geschwächten Herzmuskels nicht achtend, erhoben, Sie ins Bett gelegt und meine Ankunft erwartet. Beim Verbandanlegen war sie anwesend, und erst, als sie erfahren, daß Ihnen keine Gefahr mehr drohe – auf einmal: bah! man mußte sie ins Bett legen. Mit unseren Frauen ist das immer so. Das sind ja Fliegen und keine Weiber! Aber der Mutter fehlt nichts. Die gewöhnliche Reaktion nach momentaner Nervenerregung. Als sie zur Besinnung kam, hieß ich sie sich niederlegen und unter Todesstrafe … für Sie, mein Herr, verbot ich ihr, sich hier zu zeigen. Damit habe ich sie ferngehalten, denn sonst würde sie hier die ganze Nacht gesessen haben. Jetzt wird sie von Ihren filigranenen Cousinen bewacht, die auch beinahe einen Purzelbaum geschlagen hätten. Ich würde dann vier Patienten in einem Hause haben. Das wäre eine Ernte – was? Glücklicherweise fand ich wenigstens eine Seele mit anderen Nerven, die nicht romantisch ohnmächtig wurde. Ha!«
»Der kann aber reden«, dachte Krzycki.
Aber der Arzt betrachtete mit großem Wohlwollen Fräulein Anney und sprach weiter:
»Rule Britannia! Bei Gott, es ist ein Vergnügen, Sie anzuschauen! Was für Gesundheit, was für Nerven! Sie saßen von Mitternacht bis gegen Morgen! Ich wiederhole: es ist eine Freude so etwas anzuschauen! – Ich gehe jetzt ins Speisezimmer, um nachzusehen, ob ich vor der Abreise etwas Kaffee bekommen kann, da ich sehr hungrig bin.«
Aber vor dem Weggehen sagte er noch, sich an Fräulein Anney wendend:
»Sie gehen mit mir und trinken vor dem Niederlegen etwas Warmes, und Jungfer Paulinchen wird bei Herrn Krzycki bleiben. Man muß die Temperatur messen und aufschreiben. Im Bedarfsfall rufen Sie Herrn Gronski, dem ich sagen werde, daß er hier nachschaue. Auf Wiedersehen!«
Und Fräulein Anney lächelte beim Weggehen dem Verwundeten zu: »Auf Wiedersehen!« worauf beide sich entfernten.
Im Speisezimmer fanden sie nicht nur den ersehnten Kaffee, sondern auch die beiden Schwestern mit Gronski und Dolhonski, da niemand im ganzen Hause sich niedergelegt hatte.
Frau Otocka und Marie hatten die Nacht bei Frau Krzycka verbracht, die leidender war, als der Arzt dem Sohne mitteilte.
Die beiden »Filigranschwestern« waren sehr erschöpft, und Fräulein Marie hatte ganz veilchenfarbene Augenlider. Gronski bestand darauf, der Arzt solle sie untersuchen und ihr etwas Stärkendes verschreiben. Aber Szremski sagte, nachdem er ihr eine Weile den Puls gefühlt:
»Ich werde Ihnen zur Stärkung die Maxime des Konfuzius verschreiben, welcher sagt: Wenn ihr die Wahrheit wissen wollt, so ist es besser zu sitzen als zu stehen, besser zu liegen als zu sitzen, und statt zu liegen ist es besser zu schlafen.«
»Gut«, erwiderte sie, »aber nach allem was vorfiel, weiß ich nicht, ob ich imstande sein werde, einzuschlummern.«
»So soll Ihnen jemand das Lied vorsingen: ›Ah! ah! die zwei Kätzchen? – das eine grau, das andere dunkel!‹ Nur nicht die Schwester, weil ich ihr, bis die erhoffte Wirkung eintritt, dasselbe verschreibe.«
Das Gerassel der Britschke unterbrach das weitere Gespräch. Der Arzt schluckte den heißen Kaffee und verabschiedete sich dann. Dolhonski ging ihm nach, bestieg ein Pferd, das ein Stallknecht hielt, und erklärte dem Arzt, daß er ihn durch den Wald begleiten wolle.
»Wenn das zu meiner Sicherheit geschehen soll, so ist es ganz unnütz«, meinte der Arzt.
»Ich reite täglich aus«, erwiderte Dolhonski, »und außerdem will ich nachsehen, ob man in den Jastrzember Wäldern keinen neuen Ausflug arrangiert hat.«
»Nein«, entgegnete lachend der Arzt, »ich glaube, daß solche Ausflüge nicht so bald stattfinden werden. Sie haben in diesen Dingen eine gewisse Methode. Sie wollen lieber Jäger als Wild sein, und sie wissen, daß es jetzt zu einer Treibjagd kommen kann. In etwa einer oder zwei Wochen, wenn sie erfahren werden, daß der Überfall mißlungen, wird man mehr auf der Hut sein müssen.«
»Wann kann Krzycki reisen?«
»Es hängt davon ab, ob er gesundes Blut hat, und ich setze voraus, daß er es hat. Übrigens braucht man ja in Jastrzemb die vollständige Genesung nicht abzuwarten. Wenn ich nicht an demselben Tage gekommen wäre, könnte es vielleicht zu einer Blutvergiftung gekommen sein. Aber so wird die Antiseptik das ihrige tun. – Ach, diese Engländerin, die durch einen blauen Nebel schaut! Das ist ein Weib! – Was? Im ersten Augenblick war ich ganz empört darüber, daß ihr Männer sie allein nach der Stadt fahren ließet. Sie sagte mir jedoch, wie die Sache sich zugetragen. Wenn ich mich nicht in sie verliebe, soll es mich wundernehmen!«
»Ich rate Ihnen nicht dazu«, erwiderte Dolhonski, »weil es mir scheint, daß auf diesem Festland ein Wilhelm der Eroberer bereits vorhanden ist.«
»Meinen Sie? Möglich! Auch ich dachte an so etwas.«
»Vielleicht deshalb, weil die englische Prüderie und das englische ›Shocking‹ außer acht gelassen wurden?«
»Nein, nicht nur deswegen. Das Pflegen Verwundeter ist Weibersache, und dabei muß das ›Shocking‹ beiseite gelegt werden. Ihre gestrige Expedition kann nur von ihrem Mut und ihrer Energie Zeugnis ablegen. Aber durch diesen blauen Nebel dringen zu unserem Kranken solche Strahlen, daß ha! … Das wird mich übrigens gar nicht hindern, mich zu verlieben. Wenn der alte Dzwonkowski sich in die kleine Marie verlieben konnte, warum könnte ich mir so etwas nicht gestatten?«
»Er könnte sich ebenso in die heilige Cäcilie verlieben«, sagte Dolhonski, »die Cousine ist kein Weib, das auf zwei Füßen steht, sie ist ein Symbol.«
Auf einmal unterbrach er das Gespräch, da er im Waldesinnern Stimmen vernahm, und er galoppierte dorthin.
»Dieser Klubmann ist doch kein Hasenfuß«, dachte der Arzt.
Es war ein falscher Alarm, denn es waren nur viehweidende Dorfjungen. Der Doktor, der schon von der Britschke herabgestiegen war, um nötigenfalls Dolhonski zu helfen, gewahrte dieselben bald zwischen den Haselbüschen. Nach einiger Zeit erschien auch Dolhonski, der das Monokel, das ihm ein Zweiglein heruntergestoßen, ins Auge preßte und sagte:
»Das ist nur ein ländliches Idyll: Hirten und Kühe in einem fremden Walde, sonst nichts.«
Darauf verabschiedete er sich vom Arzte und kehrte nach Hause zurück.
Fräulein Anney hatte sich noch nicht zur Ruhe begeben; Dolhonski fand sie mit Gronski plaudernd, wobei sie mit dem Wickeln der Jodoformgaze beschäftigt war. Als sie ihn gewahrte, hob sie die Augen von der Arbeit auf und fragte:
»Nichts Neues im Walde?«
»Jawohl, es passierte dem Doktor etwas. Er ist angeschossen.«
Bei diesen Worten sprangen beide – Gronski und sie – zugleich auf.
»Wie? Wo? Im Walde?«
»Nein! In Jastrzemb«, erwiderte Dolhonski.