George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Herr Kaudel macht ein Bankett mit.

Herr Kaudel hatte eine Einladung zu einem Bankett angenommen. Die Festlichkeit wurde vom Aufsichtsrat einer Gesellschaft gegeben, die in unmittelbarer Beziehung zur geschäftlichen Seite der Presse stand. Unter den Journalisten, die daran teilnahmen, hatte Kaudel verschiedene alte Freunde, und der Herausgeber einer vielgelesenen Wochenschrift, die häufig Beiträge von ihm brachte, sollte den Vorsitz führen. Erst als der bestimmte Tag herannahte und das allezeit heimtückische Verhängnis der jungen Frau Kaudel den Wunsch eingab, an eben diesem Abend ein Konzert zu besuchen, kam es Kaudel zum Bewußtsein, daß er seiner Frau noch kein Wort von der etwas übereilt eingegangenen Verpflichtung gesagt hatte.

Das erste warnende Gewitterwölkchen stieg Tags vorher am ehelichen Himmel auf, als die junge Frau Kaudel, vor dem Kaminfeuer knieend, ihren Liebling, den langhaarigen Terrier Pin-Pin kämmte und Kaudel, auf ihre Versunkenheit bauend, ein neues Buch aufzuschneiden begann, das er noch in dieser Woche rezensieren sollte.

»Sieht Pin-Pin nicht bezaubernd aus, nun er gewaschen ist?« fragte die junge Frau Kaudel, von ihrer Tätigkeit aufblickend.

»Gewiß,« stimmte Kaudel bei, indem er einen raschen Blick auf das Tierchen warf, das Kamm und Bürste mit schmerzlicher Ergebung duldete. »Sein Äußeres hat entschieden gewonnen durch das Bad. Neulich fragte mich jemand, der ihn in meinem Zimmer am Feuer liegen sah, ob das unser Fensterschwamm sei.«

»Und wessen Schuld ist’s, daß er immer schmutzig wird?« gab die junge Frau Kaudel zurück. »Du läßt ihn ein dutzendmal im Tag hinaus; dabei muß er immer mit einem andern Hund anbinden und wird im Schmutz gewälzt.«

»Wie soll ich’s angreifen, ihn nicht hinauszulassen? Er tanzt um mich herum, bellt dazu und läßt mir keine Ruhe bis er seinen Willen durchsetzt. Kaum ist er aber drei Minuten draußen, so heult und kratzt er an der vorderen Haustür, und ich muß abermals die Feder weglegen und ihn hereinlassen.«

»Geschieht dir ganz recht, Liebster! Laß ihn heulen oder klingle dem Mädchen.«

»Ich kann ihn nicht heulen lassen, weil ich dabei nicht arbeiten kann, und ich kann dem Mädchen nicht alle paar Minuten klingeln, damit sie dem Hund die Tür aufmache, da tu’ ich’s schneller selbst.«

»Dann darfst du dich auch nicht darüber beklagen.«

»Tue ich auch nicht. Ich stelle einfach Tatsachen fest. Aber widme dich nur seiner Verschönerung und laß mich mein Buch lesen.«

Die junge Frau Kaudel setzte ein paar Minuten lang, schweigend ihre Beschäftigung fort, dann sagte sie plötzlich: »O Wilfrid, ich wußte doch, daß ich dir etwas zu sagen habe! Morgen abend gibt Liebling ein Konzert, und da mußt du mich hinführen — ich hab’s dem Künstler persönlich versprochen, daß wir dasein werden. Morgen ist, wie du weißt, keiner von deinen Arbeitstagen!«

Kaudel war nahe daran, auf den Vorschlag einzugehen, obwohl er sich nicht viel aus Instrumentalkonzerten macht, wo man eine halbe Stunde lang irgend jemands »Opus« auf dem Klavier hören muß und zwanzig Minuten lang eines andern »Konzertstück« auf dem nämlichen liebenswürdigen Instrument. Aber als er drauf und dran war, zu erklären, daß es ihm das größte Vergnügen machen werde, seine Frau zu Opus so und so zu begleiten, durchzuckte ihn die Erinnerung, daß er ja versprochen hatte, seinen Freund, den Verleger, beim Bankett der Handelsgesellschaft beim Präsidieren zu unterstützen.

Kaudel hatte von früher Jugend an die Gewohnheit, rot zu werden, wenn er jemand etwas abschlagen sollte, und so mußte er jetzt das Buch vors Gesicht halten, um seine Verlegenheit und die Röte seiner Wangen zu verbergen.

»Es tut mir wirklich … furchtbar leid,« stammelte er, »aber ich … ich habe versprochen, meinen Freund Tomkins morgen abend bei einem Bankett zu unterstützen.«

Die junge Frau Kaudel gab ihre Tätigkeit sofort auf, und der von ihrem Griff befreite Hund stürmte mit dem fest in seinen Seidenhaaren haftenden Kamm in die Halle hinaus, und da das Mädchen gerade die Haustür aufmachte, um dem Postmann ein Paket abzunehmen, schlüpfte er auch mitsamt seinem Marterwerkzeug auf die Straße hinaus.

Das Mädchen brachte das Paket herein, legte es auf den Tisch und meldete dabei, daß Prinz mit dem Kamm im Haar draußen herumspringe. Prinz hieß er nämlich eigentlich und Pin-Pin war nur ein ziemlich abgeschmackter Kosename, den ihm die junge Herrin beilegte, wie sie auch den Gatten zu dessen großem Verdruß in Gesellschaft »Kaudelchen« zu nennen liebte.

Zu jeder andern Zeit wäre Frau Kaudel an die Haustür gestürzt, um den frischgewaschenen, halbgekämmten Ausreißer zurückzurufen, in diesem Fall aber behielt sie ihre knieende Stellung vor dem Kamin bei, in stummem Staunen zu Kaudel emporstarrend. Der wurde, von diesem unheilschwangeren Schweigen bedrückt, noch röter als zuvor und schielte ängstlich über den Rand seines Buchs hinweg.

»Ich konnte es wirklich nicht abschlagen, Mabel,« sagte er, mit verzweifelter Anstrengung einen unbefangenen Ton erzwingend, »ich habe dir’s längst sagen wollen … ja … soviel ich mich erinnere — hab’ ich dir’s auch schon gesagt, nicht?«

»Wann hast du diese Verschwörung angezettelt?« fragte die junge Frau Kaudel im Ton einer Lady Macbeth.

»Es ist keine Verschwörung, und ich bitte dich, nicht in so lächerlich tragischem Ton von der Geschichte zu sprechen! Man bat mich, Tomkins beim Präsidieren zu unterstützen, und ich habe zugesagt. Das ist doch nicht etwa ein Verbrechen?«

»Ich weiß nicht. Weshalb bedarf dieses Individuum, dieser Tomkins, einer Unterstützung beim Essen? Betrinkt er sich?«

Kaudel versuchte zu lachen, aber es klang unheimlich.

»Der arme Tomkins!« rief er. »Trinkt ja bei allen festlichen Gelegenheiten nur Apollinaris.«

»Wahrscheinlich weil ihm der Wirt nichts andres gibt. Hat er Schulden?«

Dieses Mal lachte Kaudel wirklich.

»Das ist gut — wirklich originell, Mabel! Ein vortrefflicher Witz!«

»Ich mache keine Witze,« entgegnete die junge Frau Kaudel feierlich. »Spaßhaft ist es wahrhaftig nicht für mich, daß mein Mann ein sündiges Geheimnis hat, dem ich durch den reinsten Zufall auf die Spur komme. Wo findet denn das Essen statt?«

»In der Londoner Taverne.«

Frau Kaudel stand jetzt auf, ging auf ihren Mann zu und nahm ihm den schützend vorgehaltenen Band aus der Hand.

»Verstecke dich nicht hinter deinem Buch, sondern steh mir Rede und sieh mir ins Gesicht wie ein Mann! Hast du ernstlich im Sinn, mir deine Begleitung zu Lieblings Konzert zu versagen, weil du den Abend lieber mit deinen Spießgesellen in einer Kneipe zubringst?«

»Sei doch nicht so furchtbar kindisch, Mabel, und mache dich nicht lächerlich! Die Londoner Taverne ist keine Kneipe, sondern das Lokal, wo bekanntermaßen die meisten Bankette und Zweckessen stattfinden.«

»Das ist mir ganz schnuppe. Ich frage nur: weigerst du dich, mich ins Konzert zu führen?«

»So sprich doch nicht von weigern, Liebchen. Ich habe dir ja die Sache auseinandergesetzt. Wie du weißt, speise ich sehr selten auswärts, Zweckessen sind mir geradezu verhaßt, aber ich habe nun einmal die Einladung zu diesem angenommen, habe Tomkins, der mein Verleger und mein persönlicher Freund ist, mein Wort gegeben.«

»So, das ist er! Und was bin ich?«

»Vermutlich meine Frau!«

»Das vermutest du!« kreischte die junge Frau Kaudel.

»Verdreh mir die Worte nicht! Du weißt ganz genau, was ich meine,« sagte Kaudel ärgerlich, indem er aufstand und Miene machte, das Zimmer zu verlassen.

»Jawohl — ich weiß, was du meinst, wie du’s meinst,« versicherte Frau Kaudel, ihr Taschentuch an die Augen pressend. »Zum ersten Male seit vollen vierzehn Tagen bitte ich dich, abends mit mir auszugehen, und du schlägst mir’s ab, weil du etwas andres vorhast. Ich werde meinem Vater telegraphieren, daß er nach London kommt und mit mir ins Konzert geht — er soll dann auch wissen, warum ich ihn brauche!«

Kaudel drehte sich um und sah seine Frau entrüstet an.

»Mabel, willst du Vernunft annehmen? Niemand kann mehr bedauern als ich, daß dieses Essen und dieses Konzert auf denselben Abend fallen. Mit dem größten Vergnügen würde ich dich begleiten, wenn ich nicht zugesagt hätte. — Du mutest mir doch nicht zu, Tomkins mein Wort zu brechen ?«

»O nein, ein Tomkins gegebenes Wort ist heilig, seiner Frau kann man es schon eher brechen. Mir hast du’s vor dem Altar gegeben, bitte, wo hast du dich denn diesem Tomkins zugeschworen ?«

»Wenn dir’s um den Ort zu tun ist — im Criterion.«

»Im Criterion!« rief die junge Frau Kaudel. »Kenne ich! Das ist doch das Lokal an der Ecke von Piccadilli, das die ganze Nacht geöffnet ist? Dort also triffst du deine Freunde?«

»Dort traf ich Tomkins im Restaurant; er aß gerade ein Kotelett und ich auch.«

»Aha!« sagte die junge Frau Kaudel, ihren Mann mit den Blicken eines erfahrenen Untersuchungsrichters durchbohrend. »Erinnerst du dich vielleicht des Couplets, das wir von Vesta Tilly hörten, als du mich das letzte Mal ins Brettltheater führtest?

›Er ist bekannt und wie
Den Huldinnen im Cri.‹

Damals hast du mir erklärt, daß ›Cri‹ das Criterion bedeute, und dort also treffen Tomkins und du ihre Verabredungen für eine Nacht außer dem Hause? Ich weiß, was ›eine Nacht außer dem Hause‹ ist; ich hab’ das Stück mit meinem Vater im Vaudevilletheater gesehen …«

Die junge Frau Kaudel vergrub ihr Gesicht im Taschentuch.

»Mabel, meine liebe Mabel!« rief Kaudel, von ihrem Leid ergriffen. »Du tust mir unrecht, bitter unrecht. Das Essen, das ich mitmachen muß, ist die solideste Sache von der Welt: ein paar gesetzte, friedliche Geschäftsleute, die zusammen speisen, und mein Freund Tomkins präsidiert als Herausgeber einer verbreiteten Wochenschrift. Die Handelsgesellschaft vertreibt nämlich Zeitungen und Journale. Deshalb ist es für mich als Journalist praktisch, dem Fest beizuwohnen, und ich kann dir nur sagen, daß es eine höchst lederne Geschichte sein wird. Ich werde dir die Speisenfolge und das Verzeichnis der Tischreden mitbringen, dann kannst du dich selbst überzeugen.«

»Und mein Konzert?« stieß die junge Frau Kaudel unter Schluchzen heraus. »Allein kann ich ja nicht gehen!«

»Natürlich nicht … laß mich’s nur bedenken, ich treibe gewiß jemand auf, der dich begleiten kann …«

»Oho!« fuhr sie auf, indem sie entrüstet ihre Augen trocken rieb. »Gib dir nur keine Mühe! Jemand auftreiben, der mich gütigst mitnimmt! Willst du’s nicht ausschellen lassen und eine Belohnung aussetzen für den, der sich die Mühe nimmt, deine Frau mitzuschleppen! Es kommt dir ja wahrscheinlich nicht aufs Geld an, wenn du mich nur los wirst, um deine Orgien feiern zu können!«


»Meine Überredungskunst erwies sich als gänzlich machtlos,« lautet Kaudels Nachschrift. »Meine Frau ließ mich in der schönsten Auseinandersetzung einfach stehen und ging ins Wohnzimmer hinauf, wo kein Feuer brannte und wo sie sich, in einen Mantel gehüllt, so trostlos und verzweifelt in eine Sofaecke drückte, daß es rein zum Aus-der-Hautfahren war. Eben stülpte ich mir den Hut auf, um dem Jammer davonzulaufen, als an die Haustür geklopft wurde. Es war unser Straßenkehrer, der mir meldete, er habe Pin-Pin gesehen, wie er von einem Schutzmann mit einem Strick um den Hals — der Hund hatte den Strick um den Hals, nicht der Schutzmann — fortgeschleppt worden sei.

»›Er hat einen Kamm im Haar stecken gehabt,‹ berichtete der Mann, ›und ich hab’ dem Schutzmann gesagt, daß er Ihnen gehöre, aber der hat gesagt: Der Hund hat kein Halsband, und ich muß ihn abliefern. Wenn Herr Kaudel ihn wieder haben will, muß er auf die Polizeistation kommen und seinen Steuerzettel vorweisen, dann wird er gestraft, weil er den Hund ohne Halsband und Marke hat herumlaufen lassen.‹

»Ich stürzte hinaus, um Frau Kaudel die Schreckensnachricht beizubringen. In unserm gemeinsamen Groll und Schmerz wurde altes andre vergessen und wir fuhren einträchtiglich auf die Polizeistation.

»Als wir Pin-Pin nach Hause brachten, waren wir ein Herz und eine Seele, und es gelang, ein friedliches Übereinkommen zu treffen. Ich sollte zu meinem Bankett gehen und mit meiner Schwester, die in der Nähe wohnt, verabreden, daß sie meine Frau ins Konzert begleite. Als diese Lösung gefunden war, konnte ich mich an die Arbeit machen, und am Abend darauf ging ich zu der Festlichkeit. Ach, wenn ich hätte ahnen können, was die Folge davon sein sollte!«


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