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Im hinschwebenden Lichte eines warmen Vorfrühlingstages begegnete Frau Julius von Hanka auf der Treppe ihres Wannsee-Hauses unversehens Nikola Keyserling, dem Verwalter ihres Landgutes. Sie hielt die Zwillinge, die mit dem Eifer des Anfängertums zur Schule hasteten, nur mit Mühe und mit lachenden Ermahnungen zurück, indem sie diese kleinen, kaum geformten Menschenpfötchen mit ihren gereiften Händen fest umschloß. Hierbei mußte sie den Kopf im Nacken zurückbiegen, denn der fest in die Stirn gedrückte Reithut warf einen Schatten auf ihr Gesicht und behinderte ihren Blick. Sobald sie Nikola Keyserling erkannt hatte, streckte sie die Hände der Kinder in die Luft, um sie dort beifallklatschend zusammenklingen zu lassen. So winkte sie ihm ihr Willkommen zu, mit einem froh überraschten Blick ihrer negerhaft dunklen Augen und mit jener spielerischen, heiteren und schmeichelnden Demut, mit der Frau von Hanka bisweilen ihre Freunde zu begrüßen pflegte.
Nikola Keyserling küßte die Fingerspitzen der Zwillinge in diesen mütterlich schützenden Händen. Das überschmale Gesicht schief zur Schulter hingeneigt, so sprach er mit der lächelnden Wehmut eines einsam alternden Mannes zu den Kindern dieser Mutter, an die unmittelbar das Wort zu richten er jetzt zu schüchtern und zu befangen war. Nun wollte Frau von Hanka den Eifer der Zwillinge auch nicht länger dämpfen, und sie entließ die Kinder mit schnellen Küssen, wobei sie ihnen allerhand Vorsichtsmaßregeln für die Straßenübergänge anempfahl.
»Guten Tag, Nikola«, sagte sie dann noch einmal. »Ich freue mich, daß Sie hier sind! Was gibt es Neues?«
»Erbarmen, Kathrin«, entgegnete Keyserling mit dem baltischen Wortklang, mit dem er Deutsch sprach. »Es gibt natürlich Arger.«
»Ärger, guter Nikola? Bitte, da drüben die dritte Tür links! Julius sitzt noch beim Tee. Er wird entzückt sein, wenn Sie ihm etwas Ärger bringen. Er hat so wenig davon in seinem Kontor, der Arme!«
Keyserling betrachtete lächelnd und forschend dieses Gesicht, das er in tausend Stunden seiner Landeinsamkeit gesucht hatte, aber das Gesicht einer jungen Frau ist täglich neu, und so kämpfte in ihm die Freude mit der Enttäuschung, daß es hier wirklicher, veränderlicher und körperlicher war als in seiner Phantasie.
»Also bitte!« rief Frau von Hanka. »Nehmen Sie sich doch dergleichen nicht so zu Herzen! Sie sehen ja aus wie etwas ganz Armes und Elendes!«
Keyserling lächelte sein baltisches Lächeln, das mokante und zärtliche.
»Das macht die Landluft, Kathrin. Die Landluft läßt die Gesundheit dahinschmelzen. Haben Sie das noch nicht beobachtet? Nur die Menschen in der Großstadt verfügen über eine frische Gesichtsfarbe. Wir Todeskandidaten auf dem Lande in unsern schlecht gelüfteten Winterstuben und mit unsern überheizten Gedanken, wir siechen dahin. Aber das Schaukelpferdchen draußen klopft vorwurfsvoll mit dem Hufe, und Julius wird mich erwarten. Darf ich zum Frühstück bei Ihnen sein?«
»Sie müssen mit mir Besorgungen machen, Nikola, und so lange bei uns bleiben, bis Sie sich vom Landleben erholt haben.«
Lächelnd drückten sie sich die Hände.
Frau von Hanka trat auf die Straße, wo sie den Stallburschen begrüßte und dem Pferde ermunternd über den Nacken strich.
Bald ritt sie im Schritt gegen die nach Potsdam sich hinziehenden Waldungen zu.
Sie stellte eine in diesen Zonen fremdartige und fast überraschende Erscheinung dar: Sie hatte den Teint einer hellen Polynesierin, dem jedes Rot oder Rosenrot fehlt. Ihre Hände mit den langgestreckten Fingern, deren Schönheit berühmt geworden war, zeigten den grau-weißen Perlmutterschimmer einer uns fernen Welt. Der breite und große Mund, dessen Oberlippe wie die Schwinge eines im Fluge ausgebreiteten Vogels gebogen war, enthüllte das funkelnde Gebiß eines Raubtieres, während ihre südseehaft milden Augen den zart und scheu spähenden Ausdruck einer vierzehnjährigen Wilden hatten. Antik in der Hochgestalt, zeigte sie die europäische Haltung einer sportlich trainierten Dame des zwanzigsten Jahrhunderts.
Frau von Hanka und der Stallbursche ritten Seite an Seite, während sie sich jetzt über allerlei Dinge des Lebens unterhielten. Wenn der junge Berliner seine Ansichten äußerte: was er vom Winter und seiner Preisbildung erwartete; wie es mit dem Gedeihen des zukünftigen Rennsportes bestellt sein werde; was von der französischen Politik zu befürchten und was von der englischen zu erhoffen wäre – so hörte dies alles Frau von Hanka mit ihrem liebenswürdigen Lächeln aufmerksam an, wobei sie zuweilen den Blick ermunternd und anerkennend, fast ein wenig schmeichelnd, wie es ihre Gewohnheit war, auf den Reitkameraden richtete. Sie zögerte nicht, auch ihrerseits ihr Urteil zum besten zu geben, und sie zitierte ihren Mann, den gewichtigen und kenntnisreichen Industriellen: »Mein Mann ist sogar der Überzeugung –«, sagte sie dann.
Später sah sie summend und singend an den hohen Fichtenstämmen vorbei in die Waldestiefe hinein. Leicht trabend verließen sie bald den breiten Weg, um schließlich in der Gegend von Glienicke regellos durch den Wald dahinzureiten. Wie Frau von Hanka sich später umblickte, bemerkte sie, daß der Stallbursche abgestiegen war, um irgend etwas am Zaumzeug seines Tieres zu ordnen. Die schnellere Gangart ihres Pferdes bereitete ihr Vergnügen, sie dachte nicht daran, auf ihren Begleiter zu warten, bald war sie, kreuz und quer über die Waldesspreu dahintrabend, allein und ohne Schutz.
Tiefatmend zügelte sie endlich den Fuchs, wie sie nun unter der Wirrnis der Stämme einen schmalen Waldweg erreicht hatte. In weitausholendem Schritt ritt sie ihn entlang. Sie dehnte die Nüstern, sie sog den Duft des feindampfenden Pferdes ein, mit ihren Schenkeln spürte sie die Körperform des Tieres, seine freudige Schwellung und Buchtung. In den Baumwipfeln sang ein Vogel eine schmächtige Melodie, verstummte, flog angescheucht zu einem der nächsten Wipfel, sang und verstummte abermals.
»Schön! Wie schön!«
Frau von Hanka war sich der Gunst dieses wie aller vorangegangenen Tage ihres Daseins nicht bewußt. Wie alle wahrhaft glücklichen Menschen kannte sie das Glück als Schicksalsbedeutung nicht. Wer dieses kennt, kennt noch viel mehr das Leid und die Entsagung. Wer seines Glückes sich bewußt wird, dem werden bald die Tränen der Rührung fließen. Der Mensch, der seines schönen Schicksales inne wird, beweint zu gleicher Zeit die Vergangenheit und den Tod. Die Reiterin hier aber lächelte, den mütterlich holden und geräumigen Leib lässig gebogen, die langen Schenkel einer Diana über dem Sattelgefüge reibend, die Wange gegen den Wind geschmiegt. Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr geweint. Schicksal, das war kein Wort im Bereich ihrer Sprache. Es gab nur hinfließende Stunden, deren jede sanfte Pflichten und Genüsse mit sich führte, und hinter der erfüllten Pflicht stand wie ein goldener Abendschatten der erquickende Genuß des Erlaubten. Die Reiterin lächelte und sang.
Jetzt aber tat das Pferd einen Sprung. Zitternd stand es gegen den Stamm einer Fichte gepreßt, in der Haltung eines respektvoll erschrockenen Einhorns, das dem Priap der Fluren begegnet ist.
Ein Mann hatte die Zweige auseinandergebogen. Ein Vogel, der von den eingeschrumpften Beeren des längst gestorbenen Herbstes genascht hatte, entfloh wie vor dem Hauche des Unreinen mit Flügelschlägen und kleinen Pfiffen der Furcht.
Der Mann trat hervor. Die dornigen Zweige des Hagebuttenstrauches hafteten an seinen Kleidern, er entfernte sie gemächlich. Währenddessen warf er unter dem steifen und zerbeulten Großstadthut einen Blick auf die Reiterin, wie jemand, der seiner Sache gewiß ist.
In der Tat, Frau von Hanka verblieb in ihrer Haltung stummen Entsetzens, sie sowohl wie ihr Pferd. Sie sah jetzt ein orangegelbes und schwarzes Mannesgesicht, dessen pockennarbige Haut von Dornen oder von Fingernägeln zerkratzt war. Ein violetter Mund über blitzenden Zähnen erweckte die Vorstellung von beizender Droge, Tabakrauch, stichartigem Biß und Kuß. Die Gestalt, in einer zerwühlten Kleidung von krimineller Eleganz, war schön und wohlgebildet, sie hatte die Anmut eines gedehnten glatthäutigen Jagdhundes, der das Wild anzugreifen im Begriff steht.
Der Mann lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm, er war gewillt, sich Zeit zu lassen. Sein Blick, der voll von einem fast sinnlosen Hohn war, begann die Beute, die ihm in die Hände gefallen war, vom Boden aufwärts prüfend abzuschätzen. Er betrachtete das Pferd mit einem überraschten Blick, der eine entfernte Beziehung zu dem Wert des Vollblutes verriet. Dann wanderten seine Augen zu dem Menschenkörper auf diesem Tier, zu Frau von Hankas Schenkeln, zu ihren Reithandschuhen, Hüften, Gelenken, ihrer Brust, bis sie endlich an ihrem Gesicht und ihren Augen haften blieben. Nichts von alledem, ausgenommen die Rasse des Pferdes, schien eine sonderliche Beachtung bei ihm gefunden zu haben. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes, dem das Weib verächtlich und lächerlich geworden ist.
Frau Julius von Hanka war nicht eigentlich in Gefahr, nur durch ihr Entsetzen war sie es, mit dem sie die Erscheinung des Mannes erfüllt hatte. Ein Schenkeldruck hätte sie der magischen Bezauberung entführt, der sie verfallen war. Der Mann würde kaum Lasso oder Waffe zur Hand haben, sie zurückzufangen. Doch, sie zu bannen, hatte er seinen Blick, seinen Hohn und diese besondere Art großstädtischer Kälte eines vom Gesetze Losgelösten.
»Macht wohl Spaß, so auf dem Hottehüh durch die Holzauktion?« fragte der Wegelagerer lässig, und er zündete sich zwischen seinen gekrümmten Handflächen eine Zigarette an.
Frau von Hanka hatte nicht verstanden, was er gesprochen hatte. Sie lächelte vag und fahl.
»Was meinen Sie?«
Der Mann fand es unter seiner Würde, seine Worte zu wiederholen.
Frau von Hanka hatte eine alles überflutende Empfindung von ihm: dieser Mensch mußte irgendeinen urweltlich wilden und verbissenen Kampf ausgefochten haben.
Der Mann stieß den Rauch seiner Zigarette verächtlich durch die Zähne. Frau von Hanka sah diese Zähne, und Mut kämpfte mit Ohnmacht.
Sie gab ihrem Pferd einen leichten Druck, sie ritt herzu. Ihr Pferd stellte sich mit der Flanke vor das Gesicht des Vagabunden, doch bog es vorsichtig den Hals zurück, als wolle es den Wegelagerer im Auge behalten. Frau von Hanka lächelte, wie sie nie zuvor in ihrem Leben gelächelt hatte, mit schmaler Nüster, mit gedehnter Lippe, bebend, weich und leichthin.
Sie sagte: »Geben Sie mir, bitte, auch eine Zigarette!«
Der Mann dachte über diese sonderbare Zumutung einen Augenblick nach. Eine Doppelfalte des Ärgers bildete sich zwischen seinen Brauen. Dann griff er in seine Rocktasche. Er reichte Frau von Hanka eine Zigarette. Frau von Hanka sah seine Hand, eine von Nikotin dunkel und unregelmäßig gefärbte, von Dornen oder von Fingernägeln blutig gerissene Hand, mit langen, schmalen Nägeln.
»Geben Sie mir, bitte, Feuer.«
Der Mann streckte den Arm seitwärts aus. Ohne hinzublicken, reichte er dorthin seine brennende Zigarette, wo Frau von Hanka sich tief in ihrem Sattel bückte. Sie zog das betäubende Feuer dieser Zigarette zu sich herüber, während sie unausgesetzt mit einem würgenden Ekel die Hand dieses Mannes betrachten mußte.
»Danke«, sagte sie, und sie rauchte, fast zum ersten Male in ihrem Leben. Dann sagte sie: »Danke vielmals für Ihre Zigarette!« Und sie grüßte, als nähme sie von einem ihrer Bekannten Abschied, und sie ritt davon, die Farbe des Gesichtes graugrün, eine bitterliche Krümmung in den Mundwinkeln, in den schönen Augen Angst und Ratlosigkeit.
Der Mann hatte ihren Gruß nicht beantwortet. Der Wegelagerer, er gab der Beute, die ihm entging, nicht einmal einen flüchtigen Blick. Er blinzelte zum Wipfel eines Baumes empor. Er pfiff einem Vogel zu. Er ahmte ihn nach, erbost, daß etwas so weibisch Gefiedertes und Erbärmliches Flügel schlug, fraß und sang. Dann vollführte er eine Schulterbewegung nach jener Richtung, in der Frau von Hanka davongeritten war: Pah! Geh!
Aber Frau von Hanka, nachdem sie sich einige Schritte entfernt hatte, kehrte um, mit einer langsamen, halbkreisförmigen Wendung. Der Rauch des schlecht riechenden Zigarettentabaks verschleierte beizend ihr Auge.
»Ich kehre um«, dachte sie.
Sie ritt jetzt an dem Mann vorbei, die spähenden Augen schnell auf ihn hingerichtet, das Gesicht leicht geneigt. Wie sie jetzt aufs neue ihm begegnete, stutzte der Mann: Dann stieß er, zwei Finger an den Lippen, einen Pfiff aus, den schrillen und provokatorischen des Apachen –
Frau von Hanka peitschte ihr Pferd, das mit einer schmerzlichen Erregung in den schönen Zügen jetzt zu galoppieren begann.
Frau von Hanka hatte noch ein wenig von ihrem geistesabwesenden und bitterlichen Lächeln auf den Lippen, als sie daheim sich umkleidete.
Die Zwillinge waren von ihrem anstrengenden Vormittagsunterricht bereits zurückgekehrt. Um diese Zeit pflegte sich Katharina, die junge, mit Tinte, Federhalter und Heften im Toilettenzimmer der Mutter einzufinden. Sie saß bereits bei ihrem Rechenheft, um die Ziffer Zwei nach dem klassischen Vorbilde zu kopieren, das ihr die Lehrerin gegeben hatte. Es war ohne Zweifel eine so schwierige Ziffer, daß ihre vollkommene Wiedergabe einen Raffael erfordert hätte. Katharina krümmte die schmierigen kleinen Finger und malte. Was sie zustande gebracht hatte, betrachtete sie argwöhnisch, mit schiefem Kopf, wobei sie zuweilen in der Nase hochzog oder mit dem Zünglein die Oberlippe beleckte, wenn sie allzu feucht geworden war.
»Also du bist abscheulich geworden!« sprach das Kind verwundert einige ihrer Ziffern an. »So! Du bist jetzt schon viel schöner geraten.« Sie korrigierte mißtrauisch ihr günstiges Urteil. »Wie ein Rettich mit einem Ringelschwänzchen! – Also das ist ein Engel!« rief sie plötzlich begeistert, und sie schwenkte den Federhalter wie ein gottentflammter Künstler auf dem Parnaß. »Du Goldengelchen du!« stöhnte sie tiefbefriedigt, mit Augen, die vor Rührung verschmitzt erschienen, und sie zog in der Nase hoch.
Frau von Hanka ließ sich aus den Reitstiefeln helfen. Sie gab ihren mütterlichen Rat: »Katharinchen, versuch' es doch einmal mit dem Taschentuch!«
»Da seh' ich schwarz, Mutti«, sagte das Kind, und es leckte an der Lippe.
Frau von Hanka und die Jungfer lachten.
Die Türen waren unaufhörlich in Bewegung. Die Dienstmädchen, die Köchin, der Diener, die alte Schweizer Erzieherin der Zwillinge, alle wirbelten durcheinander, alle fragten etwas, alle lachten, holten sich Aufträge oder sie antworteten etwas im Telephon. Die Mädchen zumal amüsierten sich wunderbar im Hankaschen Hause. Es gab immer unvorhergesehene Entschlüsse, plötzliche Reiseaufbrüche, kleine komische Zwischenfälle, Beratungen und Dispute. Frau von Hanka mußte sich oft Rat holen von den Mädchen. Die Mädchen ihrerseits berieten untereinander, abends in den Wirtschaftsräumen hatten sie zuweilen ernsthafte Gespräche, die sich bis tief nach Mitternacht hinzogen. Es ging immer um das Wohl und Wehe der Frau. Der Mann und die Kinder hatten nur insofern Bedeutung, als sie untrennbar damit verknüpft waren. Zuweilen liefen die Mädchen mit roten Köpfen und glucksenden kleinen Tönen in der Kehle aus dem Zimmer, die Schürze voller Sachen, die sie in ihren Stuben bewundernd auf den Betten ausbreiteten, die Fingerspitzen an der Backe. Dann hatte Frau von Hanka »gekramt«. Frau von Hanka pflegte durchschnittlich jeden Monat einmal zu kramen.
Sie war ein wenig unordentlich, eigentlich mehr hastig, dennoch war sie diszipliniert. Sie wußte durchaus und in jedem Augenblicke, was ihr frommte, doch fand sie es diplomatisch, einen Rat einzuholen, den sie unmerklich nach ihren Wünschen gelenkt hatte. So glaubte jedes Wesen im Hause, seine Autorität und seine Bedeutung zu haben.
»Wie war die Ernte, Nikola?« fragte Frau von Hanka, als sie mit Keyserling im Automobil nach Berlin fuhr, um Besorgungen zu machen.
Keyserlings verwittertes Gesicht zuckte.
»Es gibt verschiedene Ernten, Kathrin. Welche meinen Sie?«
»Die Rübenernte.«
»Die Rübenernte« wiederholte Keyserling. »Werden Sie sehr deprimiert sein, Kathrin, wenn ich Ihnen verrate, daß der Herbst allzu trocken war?«
Frau von Hanka lächelte zerstreut.
»Hören Sie, was für einen Arger hatten Sie eigentlich?« Sie setzte beteuernd hinzu, mit ihrem sanftesten Wildenblick: »Also das interessiert mich nun aber wirklich!«
Keyserling sah etwas mißmutig zur Seite.
»Das ist eine Sache, die mir zu schaffen macht. Wir haben da für den gesamten Viehbestand einen sogenannten ›Schweizer‹. Da er von Geburt ein Italiener ist, so nennen sie ihn bei uns nicht ›Schweizer‹, sondern den Hirten. Sie kennen ihn noch nicht. Sie waren ja jetzt fast drei Jahre nicht bei uns.« Keyserling hüstelte ein wenig.
Frau von Hanka berührte seine Hand. »Nun?«
»Ja. Er ist ein prachtvoller Mensch für das Vieh. Es gedeiht unter seiner Pflege wie nie zuvor. Er versteht mehr davon als ich.«
Frau von Hanka erwiderte einen Gruß.
»Ja?« fragte sie etwas zerstreut.
»Aber er ist nicht so prachtvoll gegen die Menschen. Das eben ist es.«
»Was tut er denn Böses?«
»Er tut nichts anderes als Böses«, entgegnete Keyserling, und er drängte seine schmale Gestalt fröstelnd in die Ecke des Wagens. »Er ist männlich schön wie der Farnesische Herakles und gewalttätig nun, es gibt keine zivilisierte Mythologie, die einen Vergleich darböte.«
Frau von Hanka hörte aufmerksam zu.
»Er hat Streit mit den Männern?«
»Ja. Denn er hat Liebe mit den Frauen. Die Frauen kommen zu ihm, jeden Alters kommen sie zu ihm. Alle Bande lösen sich. Er gibt ihnen Kinder. Er verhöhnt und mißhandelt sie und schenkt ihnen die Fortpflanzung seiner Art. Er wird eine Naturgottheit für die Bewohner von Herbstfelde. Er reißt die Frauen und Mädchen aus den Hütten, beinahe in Gegenwart ihrer Männer und Väter, die seine herakleische Stärke fürchten. Es gibt ein lateinisches Sprichwort: Man erkennt den Herakles an seinem Fuße. Nun, wo der Löwenfuß dieses Hirten hintritt, da entsteht Jammer und Klage und –«
Keyserling seufzte.
»Und?« fragte Frau von Hanka, den Wind im Gesicht.
»Und Liebe.«
Wieder zeigte sich auf Frau von Hankas Gesicht dieses bitterliche, fahle Lächeln.
»Haben Sie heute morgen mit Julius darüber gesprochen?«
»Ja.«
»Was sagte er?«
»Wir müssen ihn entlassen.«
Frau von Hanka nickte zustimmend. »Das glaube ich auch.«
Keyserling seufzte bekümmert. »Natürlich müssen wir ihn entlassen! Aber ich habe noch nie einen solchen Menschen für das Vieh gehabt. Auch zu dem Vieh ist er roh und gewalttätig. Aber das Vieh liebt ihn, wie die Weiber ihn lieben.«
Frau von Hanka nahm lächelnd Keyserlings Hand. »Sie sind auch ein wenig verliebt in diesen sonderbaren Vieh-Menschen?«
»Wahrhaftig, das bin ich … Solch eine prachtvolle Bestie …«
»Warten Sie einen Augenblick!« rief Frau von Hanka, und sie stieg Unter den Linden aus. Sie ging in einen Laden, von wo sie nach einer Minute zurückkehrte. Ungestüm ließ sie sich neben Keyserling nieder, während sie auf ihrem Besorgungstäfelchen einen Namen durchstrich.
»Hören Sie, Nikola, ich muß Sie etwas fragen«, rief sie heftig, während sie nun die Linden hinabfuhren. »Halten Sie es für möglich, daß auch unsereins eine Empfindung für dergleichen hat?«
»Für was, Kathrin?« fragte Keyserling verwundert.
»Für dergleichen Mannes-Tiere wie Ihr gewalttätiger Herakles!«
Keyserling sah erstaunt von der Seite auf diese vollkommen keusche Frau von neunundzwanzig Jahren, die niemals eine ähnliche Frage gestellt, niemals auch nur ein ähnliches Thema in ihren mannigfachen Gesprächen berührt hatte. »Wie kommen Sie denn auf eine so sonderbare Vermutung?«
Frau von Hanka glättete mit dem Handschuh ihr Schläfenhaar, das der Wind bewegt hatte.
»Ich muß Ihnen etwas erzählen, Nikola. Ich bin nämlich heute morgen beim Reiten in der Gegend von Potsdam überfallen worden.«
»Überfallen?« fragte Keyserling erschrocken.
»Ja. Bitte, sagen Sie Julius nichts davon. Aber nun hören Sie zu, Nikola, es war nämlich eine ganz sonderbare Art von Überfall. Der Verbrecher wollte gar nichts von mir, wohl aber wollte ich etwas von ihm.«
»Erbarmen mit einem alten Mann! Wollen Sie sich erklären?«
»Ja. Gleich. Warten Sie.«
Frau von Hanka entschwand für zehn Minuten in einem großen Geschäftshause auf dem Werderschen Markt. Sie hatte eine Art, auf ihren hohen Beinen einherzuschreiten, wie ein schönes Raubtier der Wildnis.
Als sie mit zwei langen Schritten zurückgekehrt war, öffnete sie ihre Tasche, in der sie kramte.
»Schau einmal her, Nikola!« sagte sie. Von einem gewissen Zeitpunkt der Konversation an pflegte sie stets ihre Freunde zu duzen. »Was ich da habe!« Und sie zeigte mit Stolz das papierne Mundstück einer Zigarette, die bis zum Rand ausgeraucht worden war.
Keyserling betrachtete die Reliquie mit ironisch zuckender Miene.
»Das ist vermutlich der Rest einer Zigarette, die Ihnen der ›Räuber‹ heute morgen angeboten hat.«
» Keyserling, ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist – also, Nikola, bei der Gesundheit von Stephan, Katharinchen und Wolf –, es war der größte Verbrecher, den ich in meinem Leben gesehen habe! Er kam –« Frau von Hanka schauderte, es war, als wollten ihre Schultern gegeneinander zusammenschlagen, so verengte sich ihre Gestalt. Sie flüsterte: »Er kam von irgendeinem Verbrechen her … er hatte noch Kratzwunden und Bisse … Ich sah es deutlich!«
Keyserling schwieg jetzt. Er sah seitwärts auf die vormittäglich belebte Menge in den Straßen.
»Nun? Und Sie, Kathrin?«
»Ich – ich zündete mir diese Zigarette an seiner an. Ich sah seine Hand. Nie in meinem Leben empfand ich solch einen Ekel und Grauen, denn es war ja die Hand, mit der er vor kurzem noch irgendein Verbrechen begangen hatte. Aber – siehst du, jetzt kommt das große Aber.«
Keyserling machte eine Bewegung, als sei es ihm nicht mehr vonnöten, den Fortgang zu erfahren.
»Aber Sie, Kathrin, fühlten dennoch eine Schwäche für diesen Mann, nicht wahr?« fragte er, in seinen hellen Augen unter den weißen, buschigen, nervös zuckenden Brauen einen Blick, der von weither zu kommen schien.
»Ja – eine Schwäche«, gestand Frau von Hanka tonlos, fassungslos und schaudernd, den bitterlichen Schnitt in den Mundwinkeln.
Keyserling lächelte plötzlich.
»Darf ich als Ihr und Julius' Freund eine Frage stellen: Are you in the family way?«
»Was?« fragte Frau von Hanka mit kindlich hochgezogener Stirn.
»Erwarten Sie vielleicht ein Kindchen, Kathrin?« fragte Keyserling mit spöttisch zuckendem Munde.
»Ein Kindchen?!« rief Frau von Hanka, und ihr olivfarbener Teint hatte eine sanfte Rosenröte angenommen. »Ein Kindchen?« rief sie in einem Tone, als sei das für sie eine ganz fremdartige Gattung Mensch. »Wie kommen Sie denn auf solch eine verrückte Idee?«
»Nun hören Sie, Kathrin«, sagte Keyserling energisch, und er ergriff ihre Hand. »Wenn es also das nicht ist, dann … Wir alle haben zuweilen unterirdische, geheimnisvolle und keineswegs gesittete Wünsche. Aber dazu haben wir den aufrechten Gang bekommen und das Gehirn der wunderschönen Gattung ›Weiser Mensch‹, um dergleichen Dumpfheiten in uns mit allen Kräften zu bekämpfen!«
»Das ist es«, entgegnete Frau von Hanka mit einem schrägen Blick auf Keyserling. »Man muß dergleichen Dinge bekämpfen! Wir wollen also kein Wort mehr darüber verlieren.« Sie fügte mit wichtiger Miene hinzu:
»Aber jetzt fahren wir zu einem Antiquitätenhändler. Ich will irgendein niedliches Kästchen kaufen für mein Zigarettenmundstück.«
»Ich bitte Sie, Kathrin,« entgegnete Keyserling etwas nervös, »kultivieren Sie dieses Erlebnis nicht.«
»Ich kultiviere es wirklich nicht, Nikola!« beteuerte Frau von Hanka mit dem Eifer einer Schülerin, die ableugnet. »Aber jetzt muß ich unbedingt mein Kästchen für dieses Souvenir haben!« Sie holte mit zwei spitzen Fingern das Zigarettenmundstück aus der Tasche. »Sie wissen, ich bin sentimental mit all meinen Erlebnissen«, sagte sie, und sie zog den Grafen Keyserling in einen Antiquitätenladen des Tiergartenviertels.
Herr von Hanka zeigte Nikola Keyserling die neuen Erwerbungen, die Kathrin und er in der Zwischenzeit gemacht hatten: Bilder, Inkunabeln, China- und Frankenthal-Porzellan. Das elektrische Licht in den Glasvitrinen flammte auf und erlosch: Kerzen wurden hochgehalten, Bilder auf verschiedene Art beleuchtet.
Frau von Hanka und ihr Mann waren des Abends nur selten ohne Gäste. Besuche zu machen oder zahlreiche Einladungen anzunehmen, liebten sie nicht. Bis auf die Philharmonischen Konzerte blieben sie fast allen öffentlichen Veranstaltungen fern, denn sie fanden die Gesichter der Nachkriegszeit schwer erträglich. Sie besuchten nur wenige Theater und keines dieser fünf oder sechs Restaurants, die jeweilig als die besten Berlins galten und in denen die neue Gesellschaft sich mit Vorliebe einzufinden pflegte. Ohne sich dessen recht bewußt zu werden, hatten sie die Lebensgewohnheiten einer Pariser Bürgerfamilie angenommen. Sobald sie jedoch auf Reisen waren, fingen sie an, sich herumzutreiben wie zwei gute Vagabunden, die nicht müde werden zu bummeln.
Unaufhörlich war sie bestrebt, ihr Heim am Wannsee zu verschönern. Hier empfingen sie ihre Gäste, mit Auswahl zwar, aber doch ohne allzu ängstliche Sichtung. Julius von Hankas Stellung, seine weithinreichenden Beziehungen machten ihm ein stets geöffnetes Haus zur Pflicht. Wer von den hinzureisenden Bekannten einige Tage in Berlin verblieb, wurde zu Gast geladen. Hierin zeigten sie sich ganz geleitet von den besten Gesellschaftstraditionen des Berliner Bürgertums.
Keyserling hatte das Monokel ins Auge gedrückt, um einen Pissarro betrachten zu können.
»Das ist wirklich erhaben!« rief er, immer leicht gerührt und begeistert, mit seinem weichen, singenden baltischen Akzent.
Es waren die ersten Häuser einer Stadt, die Bannmeile, der Anfang des Ungeheuren, das es zu ahnen galt: die Großstadt! Eine Landstraße, die Stadtstraße zu werden sich anschickt. Es war Landflucht darin, die Größe und das Furchtbare dieser Flucht. Noch war die Natur wirkend und schaffend in den nebeligen, melancholischen Weidenstümpfen zur Seite der Straße. Dann aber, in diesen ersten Vorabendhäusern, flüchtete sie sich klagend und schon überwältigt in die Arme des Menschen, der sie vernichtete. Aber der Mensch selber, der in diesen ersten Häusern der Straße sein spukhaftes Leben der Dämmerung führte, er war nicht der starke Sohn der Zivilisation, sondern der entwurzelte, boshafte und geschwätzige, bäuerisch und städtisch zugleich fühlende Bewohner der Bannmeile aller Städte.
»Ich habe nur wenig Verständnis für Landschaften«, sagte Julius von Hanka, der weitergegangen war. »Aber ich begreife die große Qualität der Malerei.«
Er war ein athletisch gebauter Mann, breitschultrig und beleibt, dennoch beweglich und elegant; das an den Schläfen graue, aber nirgends gelichtete Haar straff zurückgebürstet; darunter die vielfältig gegliederten, energisch aufwärts strebenden Gesichtszüge eines Mannes, der gewohnt ist, folgerichtig zu denken und zu handeln; sein Wesen, seine Art zu sprechen und sein Gang diszipliniert durch ein Preußentum, das die weltstädtische Zivilisation Berlins bis zur Internationalität gemildert hatte; eine reinliche Erscheinung der norddeutschen Oberklasse. Er hatte sich in der Jugend viel mit Mathematik abgegeben, er war Ingenieur geworden, dann hatte er die industriellen Werke seiner Familie übernommen. Im Weltkrieg war er der Führer einer Kompagnie, später der eines Bataillons gewesen. Die erstaunliche Tatsache, daß ein Krieg wie dieser am Menschen abgleitet, ja womöglich ihn noch verjüngt, war auch bei ihm in Erscheinung getreten. Er hatte in den großen Schlachten der Westfront gekämpft, in ihnen hatte er sein Gehirn auf nichts anderes eingestellt als auf exaktes Denken und auf taktische Beobachtungen. Zuweilen in der Ruhestellung hatte er sich eingeschlossen, und dann bekam er seine Weinkrämpfe, während die Kameraden erschöpft schliefen oder nervös feierten. Aber gerade diese Fähigkeit, erschüttert zu sein, hatte ihm Seele und Gesicht jung erhalten. Nur die Haare waren schon früh ergraut, wie in allen Ländern des Krieges eine ganze Generation zu früh ergraut war, Männer und Frauen.
In der Tat hatte er keine unmittelbare Beziehung zu den Kunstwerken seines Hauses, ebensowenig wie er sie zu der Seele des Menschen hatte. Seinem geistigen Ursprunge gemäß hatte er über die Seele und über die Kunst Erwägungen angestellt, wie hierüber ein intelligenter Ingenieur und Mathematiker zu denken pflegt: daß diese Dinge Faktoren der Kultur sind, die in Berechnung gestellt und gemäß dem Wert, den andere ihnen beimessen, gewürdigt zu werden verdienen. Aber eine wunderbare und tief begründete Ehe mit dieser Frau hatte ihn nach mancherlei Kämpfen und Mißverständnissen dazu vermocht, der Kunst sowohl wie der Seele und vorzüglich der Seele einer Frau eine sehr ernsthafte und selbstprüfende Beachtung zu schenken. Wenn seine Frau ihm den Sinn und die Schönheit eines Kunstgegenstandes erläuterte oder wenn sie von einem Erlebnis ihrer Seele berichtete, von einem jener Erlebnisse, die kaum noch in Worte zu fassen waren und irrational zu sein schienen, so pflegte er mit einer Art von fast tragischer Aufmerksamkeit und Anstrengung zuzuhören, wie er sie niemals in seinen Geschäften anzuwenden genötigt war.
Keyserling hingegen, älter als Julius von Hanka, nahm alles mit einer unmittelbaren und leidenschaftlichen Begeisterung auf, mit dem zartesten Nerv der Fingerspitze, wobei er die Erklärungen nur wie Stichworte benötigte. Als ein Mann, der seine Frau, seine Kinder, seine Besitzungen, Beziehungen und fast alle seine Agnaten in der Revolution der Randstaaten verloren hatte, fand er seine Tröstung und Heimat in diesen zwei Menschen, in ihren Kindern und in ihrem Hause. Er verwaltete nun Kathrin von Hankas Landgut, den Besitz ihrer väterlichen Familie, die Morgengabe der Eltern zu ihrer Vermählung. Seine tiefe, auch vor Julius unverhehlte Zuneigung zu dieser Frau hatte ihn das bittere Gefühl vergessen lassen, nicht mehr in seinem eigenen Hause und auf seinem eigenen Boden zu wirken.
Während die beiden Herren so von Bild zu Bild gingen, saß oben in einer Dachstube des Hauses Frau von Hanka am Bett ihres ältesten Sohnes, des elfjährigen Stephan. Das blau schimmernde und auf dem Nacken zu einer erhabenen Welle erstarrte Haar bekrönte einen Knabenkopf von marmorheller, drohender und fast ein wenig böser Schönheit. Die blauen Augen, versunken unter den regelmäßigen Schattenschnitten der Wimpern, blickten zur Zimmerdecke, während die leichthin tastenden Finger mit der herabhängenden Perle an Frau von Hankas Ohr spielten.
Mit Ungeduld und mit Besorgnis betrachtete Frau von Hanka den Knaben. Sie sprachen längere Zeit kein Wort zueinander. Dann formten die schönen Lippen des Kindes lautlose Worte, einen mühevoll gebildeten Hauch.
»So sprich doch, Stephan! Was willst du denn?«
Der Knabe flüsterte:
»Öffne doch, bitte, das Fenster!«
Das war seine abendliche Bitte. Immer zeigte er Verlangen nach dem Blick des Mondes und nach dem Duft des Ahornbaumes vor seinem Fenster, in welcher Jahreszeit auch immer dieses Gestirn und dieser Baum sich entfalteten. Zögernd erhob sich Frau von Hanka. Sie fürchtete die feuchte Nachtluft dieses Vorfrühlings und den störenden Schimmer des Mondes. Sie beschloß, wenn der Knabe eingeschlafen wäre, noch einmal das Zimmer zu betreten, um die Fenster gegeneinander zu lehnen und das Licht durch die Vorhänge abzuschließen. Jetzt strich sie, abermals am Bette sitzend, über die schmale, eigenwillig gewölbte Stirn des Sohnes. Sie fühlte, wie peinvoll dem Kinde die Berührung ihrer Hand war, und sie legte die Finger in den Schoß, während eine Zornesschwinge zwischen ihren Augen dahinblitzte.
»Ich werde jetzt sehr böse sein, wenn du mir nicht endlich alles klar und wahrheitsgemäß beantwortest! Hörst du?«
Unruhig und aufgeschreckt kreisten die Augen des Knaben um die Ornamente der Zimmerdecke.
»Warum also warst du heute vormittag so fürchterlich erschrocken?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du mußt es wissen. Man ist nicht ohne Grund so erschrocken, daß man sich vor Angst übergibt.«
»Ich bekam solch einen fürchterlichen Schrecken.«
»Aber weshalb?«
»Ich weiß es nicht.«
Frau von Hankas Augen wanderten nachdenklich zur Seite.
»Kannst du mir genau angeben, zu welcher Stunde das war?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du weißt doch die Unterrichtsstunde, in der dich der Schrecken befallen hat!« rief Frau von Hanka ungeduldig.
Der Knabe hauchte: »Wir hatten Latein.«
»Wie?« fragte Frau von Hanka, die ihn nicht verstanden hatte.
»Wir hatten Latein«, flüsterte Stephan.
»Wann also war das? Von acht bis neun?«
Der Knabe dachte nach. »Von neun bis zehn«, erwiderte er nach einiger Zeit.
»Gleich zu Anfang der Stunde?«
Der Knabe dachte nach. »Ja –«
»Gleich zu Anfang«, wiederholte Frau von Hanka erstaunt, ratlos und mit einem bitterlichen Lächeln.
»Wie war denn das, Stephan? War das so, als zuckte dein Herz plötzlich zusammen?«
Zum ersten Male an diesem Abend richtete der Knabe den glänzenden, tieferfüllten Blick auf die Mutter.
»Nun, Stephan?«
Er antwortete nicht.
Frau von Hanka stand auf, enerviert und verletzt.
»Ich sage dir heute nicht gute Nacht. Ich mag keine ungezogenen Jungens leiden.«
Sie ging zur Tür, sie schaltete dort das Licht aus. Horchend und sinnend verblieb sie noch in der Dunkelheit. Dann kehrte sie schnell, mit einem feinknisternden Schritte an das Bett des Knaben zurück. Der Knabe, wie er sie im feuchten Mondlichte sah, streckte verlangend die Arme nach ihr hin. Er preßte seine festgeschlossenen Lippen an ihren Mund. Dann fühlte sie an ihren Händen die quellende Feuchte seiner fast kühlen Tränen. Abermals ließ sie sich nieder, dicht neben seinem Gesicht, das sie mit der Wange an ihre Hüfte zog. In dieser Stellung verblieb sie lange Zeit. Der Knabe starrte hinaus auf die unbelaubten Zweige des Baumes, die ihre Schatten in den Dunst der Atmosphäre warfen. Dann, ganz unvermittelt, sanken die Augen ihm zu. Er begann hörbar und regelmäßig zu atmen.
Er täuschte die Mutter. Er wußte, daß sie jetzt unten erwartet wurde.
Zögernd und ein wenig zweifelnd lauschte Frau von Hanka dem Zug seines Atems, dann erhob sie sich, lehnte die Fenster gegeneinander, zog sorgsam die Vorhänge zusammen und verließ lautlos die Kammer.
Gleich danach stand Stephan auf. Auf gebogener Sohle schritt er zum Fenster hin, das er mit Vorsicht öffnete. Er trat in die Mitte der Kammer zurück. Jagend verblieb er vor der soeben erstandenen Sichel des Mondes. Im Nachtgewölk erblickte er das kaum gebildete Gesicht eines Mannes mit narbenvoller Haut. Vor ihm kniete Stephan nieder mit frommer und flehender Faltung der Hände. Dann netzte er die Haut seines Leibes mit Wasser aus dem Napfe, und mit hastigem Schlucken trank er aus dem Glase. Doch noch im Trinken vergaß er es nicht, auf das hohnvolle, feuchtblinkende Angesicht draußen in den Wolken schnelle, schmeichelnde Blicke zu werfen.
»Was meinst du, wenn ich Stephan eine Zeitlang aus der Schule nehme?« fragte Frau von Hanka ihren Mann bei Tisch. »Ich möchte mit den Kindern auf das Gut.«
Keyserling errötete wie ein Knabe.
»Sie wollen nach Herbstfelde?« fragte er überrascht.
»Ja. Eine Zeitlang – vielleicht bis zum Herbst. Ich muß einmal meine Kinder ganz dicht bei mir haben, sonst versteht man sie nicht mehr. Im letzten Sommer waren wir in Südamerika und im Sommer zuvor in der Türkei. Das geht nicht mehr so weiter. Ich mag nicht mehr reisen.«
»Ich verstehe schon seit langem nichts mehr von alledem, was Stephan angeht«, sagte nach einer Pause des Nachdenkens Julius von Hanka. »Dieses Kind mit seinen vernunftwidrigen Gefühlen und seinen fast mystischen Empfindungen wird mir von Jahr zu Jahr fremder.«
Frau von Hanka sah in den Schein der Kerze.
»Er braucht Landluft – Landschaft – Musik und Natur. Er soll dort draußen bei uns mit den Hirten auf die Weide gehen. – Ach, bei dem Hirten fällt mir ein, Nikola: Lassen Sie doch Ihren bösartigen Herakles noch so lange im Dienst, bis wir hinkommen. Ich möchte ihn mir selbst einmal ansehen.«
»Wann werden Sie kommen, Kathrin?« fragte Keyserling, der sich bemühte, seine Ungeduld zu verbergen.
»Was meinst du, Julius?«
»Sobald du magst, Liebe.«
»Ich denke, ich kann in vierzehn Tagen mit meinen Besorgungen fertig sein. Und du, Nikola, wie lange brauchst du, um alles instand zu setzen?«
Keyserling lächelte. »Kaum einen Tag, liebe Kathrin – kaum einen Tag. Denn dieses Haus steht jahraus, jahrein für Sie bereit.«
Frau von Hanka legte ihre Malaienhand dankbar auf Keyserlings Arm.
»Das ist schön,« sagte sie, »dann sind wir in vierzehn Tagen draußen, und ich freue mich.« Sie nahm die Hand ihres Mannes. »Aber du Armer – du wirst sehr oft herauskommen, nicht wahr?«
»So oft ich nur kann, komme ich, euch zu besuchen.«
, Sie verbrachten diesen Abend in frohen Gesprächen.