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In der Augustnacht lag Bettine schlafend in ihrem Bette, als sie mit einer schnellen, tapferen Bewegung sich aufrichtete, denn eine Hand hatte ihre Wange berührt.
»Wer ist das?« rief sie mit Heftigkeit.
»Sei stille. Ich bin es, Stephan.«
Seufzend und beruhigt sank Bettine auf ihre Kissen zurück.
»Ist es schon Morgen?«
Stephan lachte gedämpft. »Du bist ja eben erst eingeschlafen. Die Gutsuhr hat gerade elf geschlagen.«
Bettine schluckte. Sie dachte mit Anstrengung nach. »Was war denn heute?«
Stephan lachte. »Vor zehn Minuten hast du dich ja noch gewaschen, und nun weißt du nicht, was heute war?«
»Gewaschen?« fragte Bettine mißtrauisch, als wolle man sie auf einer großen Lüge ertappen. »Ich habe mich absolut nicht gewaschen.«
Der Knabe setzte sich auf den Rand des Bettes.
»Was war denn heute?« fragte Bettine noch einmal.
»Ach Gott, Bettine: doch Muttis Geburtstag! Wir haben Knallbonbons in unsern Nachttischen und durften bis halb elf aufbleiben.«
»Warum hast du mich denn also geweckt?« fragte Bettine inquisitorisch.
»Weil ich dir etwas Wichtiges anzuvertrauen habe.«
»Was denn?« fragte das Mädchen, und es war plötzlich ganz wach.
»Es ist wieder ein neues Tier in meinem Zimmer gewesen.«
»Von wem?« fragte Bettine hastig.
»Von Mareile.«
»Was für eines ist es denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne es nicht. Es gibt gewiß in der ganzen Naturgeschichte kein solches Tier. Es kommt in den letzten Tagen oft, während Muttis Wolf ganz starr und fast traurig hinten am Fenster steht, aber heute will es nicht mehr fortgehen. Es ist klein wie meine Hand. Es hat den Kopf einer Antilope und zwei moosweiche Hörnerchen darauf. Aber sein Leib ist gestreift wie von einem Zebra, und anstatt der gespaltenen Hufe hat es Menschenfüße. Mit seinen Antilopenlippen versucht es immer an meiner Brust zu saugen, als wolle es Milch haben. Aber dann, wenn es keine bekommt, sieht es mich traurig an und weint und verkriecht sich unter meiner Brust an meinem Bauche, als suche es Schutz vor etwas Schrecklichem.«
Dem Mädchen schauderte es.
»Komm doch ins Bett«, bat es.
Stephan zögerte. »Wenn es herauskommt, gibt es wieder Schelte.«
»Ach was!« rief Bettine ungehalten.
Der Knabe kroch unter die Bettdecke. Sie lagen Gesicht bei Gesicht, so nahe, daß ihre Nasenspitzen sich berührten.
»Stephan, du bist doch ein kluger Junge, nicht wahr?« begann Bettine, und sie dünkte sich in diesem Augenblick zwanzig Jahre älter als ihr Freund.
»Ja?« fragte Stephan, verwundert über diesen neuen Ton.
»Wenn ein Tier sich so benimmt wie das von Mareile, dann ist das eben ein Beweis dafür, daß Mareile jetzt in Gefahr ist.«
Stephan antwortete ganz, ganz leise: »Ja, Bettine, das habe ich auch schon gedacht …«
»Siehst du … Mareile ist heute hier auf dem Hof. Wir haben sie gesehen. Nun wird sie nach Haus gehen. Der Weg ist dunkel. Die Hündin wird sich wohl schwerlich noch hierher gewagt haben, weil sie immer fortgejagt wird. Kurz und gut: es droht Mareile etwas. Und von wem droht Mareile etwas? Das wissen wir ja beide ganz genau!«
Die Kinder sahen sich in der Dunkelheit mit glühenden Augen ins Gesicht.
»Ja. Das wissen wir beide.«
»Wir wissen auch, von wem der Hund Nitschewo immer so gemein behandelt und fortgejagt wird! Wir wissen ja auch – denn wir haben es belauscht –, wer es gewesen ist, der Mareile einmal im Eidergrunde am Hals gepackt und geküßt hat, so daß sie ohnmächtig werden mußte.«
»Dann muß ich also jetzt aufstehen und zusehen, daß Mareile kein Leides geschieht?« fragte der Knabe entschlossen.
»Du mußt sie suchen, und wenn es erst elf Uhr ist, so wirst du sie gewiß noch finden. Dann mußt du verständig zu ihr reden und ihr sagen, daß sie hier im Hause übernachten soll. Du mußt auch zu deiner Mutter und zu deinem Vater so reden.« Sie fügte hinzu: »Sie kann ja hier in diesem Erwachsenenbette schlafen.«
Stephan sprang auf, wie ein Mann zu seiner Tat. Aber Bettine rief ihn zurück: »Sag' ihr, daß ich ganz mäuschenstill neben ihr liegen und sie nicht in ihrem Schlafe stören werde.«
»Ja, Bettine«, antwortete der Knabe, fast behutsam vor Ehrfurcht, denn er hatte zum ersten Male Achtung vor dem Mädchen bekommen. Und dann, mit der liebenswürdigen Betonung, die er seiner Mutter abgelauscht hatte: » Gute Nacht, Bettine!«
Er ging in sein Zimmer zurück, wo er sich ankleidete. Auf allen Gängen drehte er später das elektrische Licht aus, um nicht gesehen zu werden. Unten im Speisesaal räumten die Diener und die Mädchen hurtig mit Lärm und Gelächter die Tische ab, um schnell ins Freie gelangen zu können. Ungesehen erreichte Stephan den Wiesenplan vor dem Schloß.
Stephan wußte sogleich, wo er Mareile suchen wollte.
Vom Hofgesinde war zu Ehren des Geburtstages ein Feuer entzündet worden, an dessen erstem Aufflammen die Kinder noch teilgenommen hatten. Daneben spielte eine Kapelle aus dem Dorfe Tanzweisen, die das Musikgefühl des Knaben mit Ekel peinigten; jene Operettenleichname der letzten zehn Jahre geisterten aus den Blechinstrumenten hervor, deren doppelt verwester Hauch noch den unreinen Lebensodem ihrer Blütejahre bezeugte. In großem Bogen umkreiste der Knabe diese blitzende und knisternde Lichtstätte wie ein edles Raubtier das lärmende Nachtfeuer der Pygmäen.
Mareile fand er nirgends, und er wollte schon die Hoffnung aufgeben, sie anzutreffen, als er ihr auf einem Parkwege in Gesellschaft ihrer Schwestern und deren Männern und Freunden begegnete, denen sie zögernd, widerstrebend und im Abstande folgte, als warte sie nur auf eine Gelegenheit, ihnen zu entweichen. Leise rief Stephan sie an, und er verneigte sich vor ihr. Mareile zeigte ein großes Erstaunen, als sie ihn erkannte.
»Ich habe eben an dich gedacht!« rief sie, und sie streckte ihm die Hand hin.
Stephan sah ihr ehrerbietig fragend ins Gesicht.
Mareile schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann dir nicht sagen, in welcher Hinsicht ich eben an dich und an deine Geschwister gedacht habe, aber es war eine sehr gewichtige und schöne Beziehung!«
»Dann müssen Sie mir erlauben, Fräulein Mareile, Ihnen eine Bestellung auszurichten, die ich übernommen habe. Sie ergeht von Bettine und auch von mir an Sie, geehrtes Fräulein.«
»Von Bettine?« fragte Mareile verwundert. »Ist das die kleine Schwester der Frau von Jaeger?«
»Ja, von dieser. Sie läßt Sie doch bitten, sich sogleich' jetzt meinem Geleite anzuvertrauen und in ihr Zimmer zu kommen, damit Sie heute hier im Schlosse übernachten können.« Er fügte stammelnd hinzu: »Auch Mutti und Vati werden sehr erfreut und einverstanden sein, wenn Sie heute nicht den Weg ins Forsthaus zurückkehren werden.«
»Wissen denn deine Eltern etwas von dieser Einladung?« fragte Mareile mit äußerstem Erstaunen.
Stephan, der noch niemals gelogen hatte, zögerte. Dann entschloß er sich, zu antworten: »Wir hatten leider keine Zeit mehr, die Eltern zu bitten, daß sie es erlauben.« Er fügte lebhaft hinzu: »Aber ich werde sie jetzt gleich aufsuchen –«
Mareile ergriff Stephans Hand. »Was ängstigt euch denn für mich?«
Stephan antwortete nicht, aber er sah Mareile mit einem beinahe fürchterlichen Ernst in das Gesicht.
»Lieber Junge!« rief Mareile, und sie küßte die Lippen und Augen des Knaben. »Du mußt jetzt zurückkehren und das Mädchen von mir grüßen und ihm für seine Fürsorge danken, so wie ich dir danke! Aber ich habe ja meine Geschwister zum Schutze mit mir, und den Weg bin ich vielmals in meinem Leben in der Dunkelheit gegangen.«
»Fräulein Mareile!« rief der Knabe, den Mareiles Küsse stolz und verwegen gemacht hatten, »jetzt will ich die Wahrheit sprechen! Es ist nicht der Heimweg, den wir für Sie fürchten, sondern die Gefahr hier im Park, Wiese und Wald!«
»Du weißt nicht, was du redest!« rief Mareile fast mit Wildheit. »Siehst du denn nicht das Geburtstagsfeuer für deine liebe Mutter, das die Wiesen und Bäume tageshell erleuchtet, und hörst du nicht, wie alle Wege von der Musik erfüllt sind?«
»Fräulein Mareile,« rief Stephan beschwörend, »ich denke, solange die Menschen mit ihren Blechinstrumenten eine so niedrige und gemeine Musik in die Luft hineinblasen, werden sie auch niedrige und gemeine Handlungen begehen! Deshalb müssen Sie zu uns kommen!«
»Und als du einmal hier auf der Wiese auf deiner Okarina gespielt hast – war das nicht ganz vergeblich? Wurdest du nicht fortgewiesen?«
Verwirrt schlug Stephan die Augen nieder. Dann lächelte er mit sanfter Überredung. »Fräulein Mareile, wenn ich Sie also nicht wie ein fahrender Ritter mit meiner Musik beschützen kann, so möchte ich es denn mit meinem Degen versuchen und mit meinem Leibe!«
»Ich will mich immer deiner Liebe erinnern, Stephan! Nun aber mußt du mich nicht mehr aufhalten, denn nun muß ich gehen! Jede Minute ist verloren, die ich noch verweile! Lebe wohl! Vergiß mich nicht!«
Der Knabe griff heftig nach ihrer Hand. »Sie sind jetzt ganz allein! Nicht einmal Ihre werte Hündin ist bei Ihnen geblieben! Wo ist sie denn hingeraten?«
»Fortgejagt!« rief Mareile, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen.
Stephan wollte sie zurückhalten, aber schon war sie seinen Blicken entschwunden.
»Lebe wohl! Vergiß mich nicht!«
Ratlos ließ der Knabe die Arme sinken.
»Leben Sie wohl!«
Mareile war schnell davongeschritten, nicht in der Richtung ihrer Schwestern, sondern in jener, von der sie gekommen war. Noch einmal erklangen zwischen den Büschen ihre Rufe wie die irrenden Töne eines klagenden Vogels:
»Lebe wohl! Vergiß mich nicht!«
Und noch einmal rief der Knabe ihr nach:
»Leben Sie wohl!«
Fern von den Feuern, die das Hofgesinde entzündet hatte, lag der Hirt in den Wiesen, die Glieder weit ausgestreckt, die gefalteten Hände unter dem Kopf, auf jüngst geschnittenem Grase weich gebettet. Ihn lockte es nicht, an ihren Freuden dort drüben teilzunehmen. Dort waren Mädchen, die gezwungen wurden, ihm einen Tanz zu verweigern, obwohl ihre Leiber insgeheim zu ihm hindrängten. Dort waren Weiber, die ihren Männern seine Kinder geboren hatten und die ihm die Schulter zeigen mußten, trat er herzu. Dort waren Männer, die ihn hinterrücks mit Rache bedrohten und vor seinem Gesicht von seinem Wein tranken und ihm mit Schmeichelreden dankten. Nicht, daß dies alles sein Ehrgefühl, seine Scham oder seine Furcht erregt hätte – nein, er wollte sie nicht mehr, nicht ihre Achtung, nicht ihre Weiber, nicht ihre Angst!
Der Hirt hatte sich niedergeworfen, diese Nacht in den Feldern zu durchwachen, wie er es in den Sommernächten der Sabiner Berge getan hatte. Die Nacht war lau, fast tropisch feucht, dennoch lagen zuweilen Nebelschleier über den Wiesen. Der Südwind hatte die Atmosphäre erwärmt, und alle Pflanzen strahlten die Windeswärme des Tages aus. Kein Lufthauch ging, die Bewölkung des Himmels zeigte ein kaum spürbares Gleiten und Fließen. Sehr zag und sacht wallten die Wolken über die Nachtgestirne dahin. Zuweilen blitzte ein Planet in den Wolkenrissen auf. Immer blieb der Mond unsichtbar, doch sein Licht entsandte er durch mannigfaltige Stufungen bis zu den äußersten Rändern des Firmamentes. Unter schwarzen Lämmerwolken zogen, ein wenig schneller als diese, gegen Mitternacht kleine, goldfarbene Wölkchen dahin, gegen Aufgang rosenblasse und gelbe. Eine unsägliche Mannigfaltigkeit der Wolkenbildungen und -farben herrschte unter dem großen Himmelsbogen, der sich von Waldeswipfeln zu Waldeswipfeln spannte. Die Abendröte aber blieb, von dem Strahl der westindischen Sonne getroffen, während der ganzen Nacht im Westen hangen als eine Erinnerung an den Tag des Glanzes und der Leuchte.
Wenn die Musik schwieg und die Tanzenden zu ihren Plätzen oder Spaziergängen zurückgekehrt waren, so konnte der Hirt das Quaken der Frösche im Gutsteich hören und nahe vor ihm das Murmeln der Quelle, aus der zuweilen ein Fisch aufsprang – mit einem kleinen Laut, als schnappe das Maul eines Tieres nach einem Insekt. Aus den nahen Weiden schnarrte die Wachtel. Verstummte sie, so begann aus dem Forst der Kuckuck den Menschen, die seine Rufe gläubig zählten, die Lebensdauer anzusagen. »Noch einmal!« flehten, die da auf ihren Betten oder in den Fenstern zählten, die Alten und die Kranken, die dem Feste ferngeblieben waren, »und immer noch eines!« Und die kleine Kehle spendete freigebig, was dem Menschen das Liebste auf Erden ist: eben jenes Leben, in dem er die Erde leidend genießt.
Qualbeschwert lag der Hirt im Grase. Seine nackten Füße stampften ungebärdig die Erde. Die Nacht war ihm zu heiß, er drückte seine unerfrischte Brust in das kaum betaute Gras. Seine gewaltigen Glieder bebten.
Der Tag, der vergangen war, erfüllte ihn mit Grimm, mit Haß, mit einer kaum bezwungenen Raserei. Er war genötigt, gewesen, allenthalben die Zurüstungen zur Geburtstagsfeier mit anzusehen: wie die fröhlich pfeifenden Gärtnerburschen am frühen Morgen Körbe über Körbe voll Blumen aus den Treibhäusern ins Schloß getragen hatten, wie die Jagdwagen, die die Post holten, mit Paketen aufgefüllt waren, wie alle auf dem Gutshofe sich zur Gratulation im Hause eingefunden hatten und mit ehrbar-zufriedenem Lächeln zurückgekehrt waren, wie kein anderer Name heute erklang als der ihre und wie der Tag dahinging mit Besuchenden, mit feiertäglich gekleideten Menschen, mit Festesfreude, bis in der Nacht das wahre Fest begann.
Und all die Tage zuvor: nichts mehr von diesem unterwürfigen Suchen seines Blickes, nichts von der geheimen Sprache des Auges! Nur heute am Spätnachmittag war sie ihm begegnet, umgeben von ihren Freunden und Kindern, wie in einer blauen Wolke von Schwalben, und Mareile schritt hinter ihr, deren Augen mit Begeisterung an ihr hingen. Immerfort mußte er daran denken, auf welche Art Frau von Hanka ihn angesehen hatte. In der Unterhaltung mit Mareile hatte sie nach rückwärts über irgend etwas kopfschüttelnd gelächelt, und danach war ihr Blick mit der vollkommensten Zerstreutheit eine Sekunde lang auf seiner Gestalt haften geblieben, bis dieser Blick zu irgend etwas Wesentlicherem, Werterem und Würdigerem abgeirrt war.
Der Hirt stöhnte. Sein weicher Mund glühte. Er fühlte den Schmerz bis zu den Lenden hinabziehen – die Krankheit eines starken Mannes, der zum ersten Male erschüttert wird.
Jetzt hörte er leichte Schritte über dem Steg und einen, zarten Anruf, der ihn an den Anruf der sabinischen Mädchen gemahnte, wenn sie ängstlich zu fragen schienen: Bin. ich willkommen? Zagend stand eine feine, helle Gestalt im matten Nachtlichte.
»Komm näher!« befahl der Hirt, ohne hinzublicken.
Mareile war schnell zu seiner Seite hingekauert.
»Bist du schon wieder da?«
Mareile senkte das Gesicht.
»Wo kommst du her?«
»Ich ging mit meinen Schwestern im Park spazieren.'«
Der Hirt blinzelte zu einem Planeten hin. Sein Gesicht schimmerte gelblich.
»Deine Schwestern sind Dirnen!«
»Nicht!« rief Mareile ängstlich bittend.
»Sollen sie nicht acht auf dich geben? – Dirnen!«
Mareile zupfte an einer Blume. Ein Fisch sprang.
»Eine Forelle«, murmelte der Hirt. Höhnisch ahmte er den schnappenden Klang nach, mit dem der Fisch gesprungen war: »Pa! Pa!«
Wurde selbst der Fisch verhöhnt, er, der edel war, wie die Stummheit ist? Mareile spürte die Weltangst eines Menschen, der die Mondeskrater betritt und das liebeleere Licht dieser ungöttlichen Landschaft auf seiner Stirne brennen fühlt. Unwillkürlich rückte sie näher zu dem Hirten hinan, wie man in der Winterkälte Schulter an Schulter drängt.
Sie bat: »Komm doch an das Feuer! Ich möchte tanzen …«
»So tanze doch!«
»Nein! Mit dir! Dann wirst du besänftigt sein!«
»Da sind genug Männer – da drüben! Tanze mit denen!«
»Mit dir! Mit dir! Du wirst sehen, alle sind gut zu dir, wenn du gut zu ihnen bist.«
Der Hirt lachte. »Was ist das: gut?«
»Wenn du freundlich bist. Wenn du schön bist.«
Der Hirt stutzte. Dann dehnte er die Glieder.
»Ich bin schön«, sagte er, mit einem düsteren Ernst im Gesichte.
»Du bist häßlich, Marko!« flüsterte Mareile ungestüm. »Nur wenn du freundlich bist, bist du schön!«
Der Hirt dachte hierüber nach. Dann lehnte er sich mit einem Lachen der Verachtung zurück.
»Geh!« rief er streng. »Du bist albern! Was störst du mich? Ich will dich nicht! Nicht einmal verführen will ich dich! Geh!«
Mareile krümmte sich, als habe man sie geschlagen. Sie preßte die Hände.
»Nein, verführen wirst du mich nicht. Aber du wirst mich töten!«
Sie begann mit ihrer schönen Hand das Knie des Mannes zu streicheln, mit heißen Tränen legte sie ihren Mund auf das Knie des Hirten und küßte es behutsam wie ein bronzenes Salbgefäß im Tabernakel.
Dann richtete sie sich auf. Ihr Gesicht mit den durchdringenden Augen war das eines lieben, getreuen Schulkindes, das ein unnützes und schmerzenvolles Werk zu vollbringen aufbekam und das mit Eifer bedacht ist, es zu vollbringen – koste es so viel Qual, wie immer es mag, die Erbsen in der Asche zu sondern. Ihre schmalen, bebenden Gethsemane-Schultern hier in der Dunkelheit bezeugten die Pflichttreue der Geopferten, die im nächtlichen Garten unter schlafenden Steinen und stumpfen Schläfern beten und wachen.
Der Hirt verschmähte es, ihr Antwort zu erteilen. Er hatte ihre Nähe vergessen – kaum, daß ihr hingehauchtes Wort sein Ohr traf.
Drüben begann jetzt aufs neue die Musik ihre Tanzweisen. Dorthin horchte der Hirt. Ein Gedanke arbeitete in seinem Hirn.
»Am Geburtstag der Frau – tanzen die da nicht mit den Leuten?«
Mareile stammelte, glühend in einer neuen Freude, die einem trügerischen Hauch des Nachsommers mitten im Anbruch früher Fröste glich: »Ja! Tanze doch mit mir!«
Der Hirt packte ihre Schultern: »Tanzt die Herrschaft heute nacht mit den Leuten ums Feuer?«
Das zarte Haupt sank gegen die Schultern des Hirten hin.
»Ja, Lieber …« flüsterte das Mädchen fast besinnungslos. »Sie tanzen heute alle um das Feuer.«
Sie fühlte sich noch einmal angepackt, härter als zuvor. »Hat die Frau mit dem Kutscher getanzt?«
Sie antwortete, mit einer letzten Anstrengung: »Alle tanzen sie miteinander, der Herr mit den Mägden, die Dame mit den Knechten.«
Der Hirt sah, wie der Kutscher, der ärgste seiner Feinde, den Arm über dieser schwebenden Hüfte halten durfte! Ein Blutgeschmack war in seinem Munde, der beißen wollte wie das Maul eines Tieres, das von der Kette allzulang gemeistert wurde.
Er sprang auf.
»Komm mit!«
Mit jenem Gehorsam, der die Herzen reiner Menschen gegen ihr Schicksal beseelt, versuchte Mareile aufzustehen. Doch sank sie zurück.
Eine rauhe Stimme erklang:
»Steh auf!«
Dieses Mal gelang es ihr. Mareile folgte dem Hirten. Schweigend schritten sie über den Steg des Baches, durch die Wiesen, an den Stallungen vorüber. Mareile hörte, wie der Hirt die Zähne aneinander rieb, als zermalme er ein Schicksal in seinem Rachen.
»Was tust du?« fragte sie. Aber er antwortete ihr nicht.
Bald standen sie im Flammenscheine. Man hatte Reisig und Holzscheite aufeinandergetürmt, und eine große Flamme war entstanden. Um diesen Feuerhaufen tanzten die Menschen, wie sie es vor Jahrtausenden getan hatten, um ihre nackten Beine der Wärme zuzuschieben, und auch heute hielten sie sich, wie dazumal, zum Ringelreigen an den Händen. Die Männer schwenkten die Frauen neben sich nahe an das Feuer, und dann ertönten Schreie und Gelächter. Erhitzte Gesichter traten ins grelle Licht und entschwanden geisterhaft wie die Masken tanz-hockender Neger in der Dunkelheit. Man sah aufblitzend die groben Sohlen der zum Schwung erhobenen Schuhe, hier ein offener Mund mit den starken Zähnen eines Viehs, dort ein Tuch, das über einem Busen flatterte, eine Haarsträhne, die das Gesicht bedeckte und fortgepustet wurde. Und dann Hände, die sich umschlungen hielten, die sich feuerbeschwörend der Hitze entgegenreckten, die geballt zu drohen schienen, die sich streichelten und drückten und in Stummheit viel zu sprechen versuchten und schüchtern-unbeholfen waren, und andere, die roh Besitz nahmen, männliche und jünglingshafte, jungfräuliche und gealterte Hände, blühende und verwelkte – diese alle in einem Takte sich schwenkend, im Lichte leuchtend, ungewiß im Halbschatten, in der Finsternis verlöschend.
Der Hirt suchte in der Kette dieser Hände. Er stand im Schatten, und so groß war seine Furcht, ihm werde dieses Gesicht unter den Tanzenden begegnen, daß er nicht wagte, das Auge zu erheben. Nur unter den Händen suchte er ihre Hände, die er betrachtet hatte, während sie ihn schlafend glaubte im Schilf. Aber er fand nicht, was er suchte. Da wagte er es, sich umzusehen, und über die Tanzenden hinweg traf sein Blick einen andern, Frau von Hankas, die am Arm ihres Mannes und ihrer Freundin dem Reigen zusah.
Von Dunkelheit zu Dunkelheit gingen jetzt ihre Blicke dahin, ein unverhülltes, wildes und schamloses Grüßen.
Du wirst nicht tanzen! sprach das starre Gesicht.
Und das andere, das fließende, antwortete:
Ich wartete nur auf dich. Nun bist du gekommen. Und ich gehorche.
Marie Ursel hatte den Blick bemerkt, den Frau von Hanka mit dem Manne jenseits des Feuers getauscht hatte. Sie erzitterte unter der Gewalt dieser enträtselten Zwiesprache. Zum ersten Male fühlte sie sich von dem Bösen dieser Erde berührt, und die es in ihre Nähe getragen hatte, war die geliebte Freundin selber.
Wie sie sich umwandte, sah sie Julius von Hanka in ihrem eigenen Schatten stehen. Bedeutungsvoll nahm sie seine Hand, um ihn in das Dunkel zu ziehen. Verwundert betrachte Hanka die warnenden Züge ihres Gesichtes. Sie bogen in die große Platanenallee ein, die von der Auffahrt eine Viertelstunde Weges bis zur Landstraße hinüberführte.
Hanka fragte: »Ist etwas geschehen?«
In ihrer Bestürzung erwiderte Marie Ursel: »Du mußt Kathrin von hier fortnehmen!«
Hanka ließ den Blick nicht von den Locken, die Marie Ursels Schläfe bedeckten. Er wiederholte, fast ein wenig zerstreut: »Bekommt ihr denn das Klima von Herbstfelde nicht gut?«
»Das ist es nicht. Aber sie ist in Gefahr, hier einem finsteren Dämon zu erliegen.«
Hanka lächelte. »Kathrins ganzes Leben ist ein Kampf mit dem Dämon. Ich habe stets auf ihren Sieg vertraut.«
»Ja. Aber nun ist sie in dieses Lebensalter eingetreten, wo sie zu unterliegen wünscht, als Frau, die sie ist. Und ein Dämon, an dem tausend Frauen unserer Art und Klasse vorübergehen – gerade der erfüllt jetzt ihre ganze Seele.«
Hanka betrachtete gerührt ihren hohen, so hold und leicht bewegten Körper und dieses Gesicht, dem der Widerschein der westwärts schwebenden Röte einen Ausdruck von Eifer und Leidenschaft gab.
»Du denkst so viel an andere Menschen, Marie Ursel, und doch hörte ich, wie zerstört dein eigenes, so kostbares Leben wurde.«
Marie Ursel blieb stehen. Heftig nahm sie die Hände des Freundes, und sie vollführte mit ihnen eine andeutungsvolle Bewegung zum Herzen hin.
»Ich beschwöre dich, Julius, – laß mich immer an andere Menschen denken! Aber du – du denke nicht an andere! Nur an dich, an Kathrin und an deine Ehe! Hörtest du mir denn nicht zu? Alles von dieser heiligen Dreiheit ist in Gefahr!«
Auf einem schmalen Feldwege gingen sie dahin, nicht mehr nebeneinander, sondern eines dicht nach dem andern.
»Marie Ursel! Ich sehe Kathrin immer so vor mir, wie das Bild im Forsthaus sie zeigt. Da ging ich mit viel Furcht im Herzen zu meinen Schwiegereltern, um Kathrin zu bekommen. Wie ich dann die Einwilligung hatte und zu Kathrins Mädchenstube hinaufstieg, da trug ich auf meinen Schultern ein ganz leichtes und lichtes Schicksal zu ihr hinauf. Und da war in ihren reinen Zügen wahrhaftig nirgends ein Dämon zu ahnen, dem sie je erliegen könnte! Dann also lebte sie untadelig an meiner Seite, schenkte mir herrliche Kinder, hütete mein Haus, meinen Besitzstand und meine Ehre in den Zeiten des Krieges und erwarb mir Freunde, – jetzt sollte sie irgendeine schmähliche Gefahr nicht von sich abwenden können?«
Ratlos und verstört von soviel männlicher Verblendung, ließ Marie Ursel sich auf einem Grenzstein in der alten Gemarkung vor einem Roggenfelde nieder, während Hanka ihr zu Füßen sich in das zitternde Gras warf.
Schweigend beobachteten sie das kupferfarbene Licht im Niedergang und die entfernten, darunter lagernden Getreidefelder, deren Halmspitzen in einem braunen Feuer loderten.
Nach einer Weile sagte Hanka: »Ich muß dir von den glücklichsten Tagen meines Lebens erzählen! Da war ich ein junger Mensch, der eine blaue Mechanikerbluse voller Flecken trug. Ich hatte immer den guten Geruch des Schmieröls daran. Ich lernte in einer Fabrik. Die Eltern und Schwestern lachten über meine Hände, ich hatte die braven, gestählten Fäuste eines Arbeitsmannes. Ich lebte mit andern Arbeitsmännern tagsüber zusammen, und manchmal auch, wenn wir Dienst hatten, nachtüber. Was wir miteinander sprachen, waren einfache Dinge. Das mundete unsern Jungen gut, zu sagen: ›Jetzt hat das Schwungrad schon einhundertdreißig Umdrehungen in der Minute!‹ – oder: ›Der Kolben will heute nicht so recht an die Arbeit!‹ Oder wir sagten: ›Den Sonntag gehe ich mit Anna spazieren. Das ist ein Mädchen mit schönen Hüften.‹ Wir gingen auch den Sport ansehen, die Traber, Ringer und Rennfahrer. Unseren Lieblingen riefen wir zu: ›Vorwärts doch! Du schaffst es ja!‹ Und wenn wir uns trennten, gaben wir uns nicht die Hände, nicht einmal einen Gruß. Und wenn es für immer war, sagten wir: ›Also dann, mach's gut.‹ Siehst du, so einfach waren die glücklichsten Tage meines Lebens. Und so sachlich waren sie. Ist die Erde und das Leben der Menschen nicht auf solchen Gesetzen aufgebaut? Ich hatte nie gedacht, daß noch andere als diese walten könnten. Warum muß ich, seitdem ich Kathrin liebe, soviel Undeutbares hinnehmen? Sag', wenn du meine Frau geworden wärest, Mario Ursel, sprächen wir nicht so zueinander wie diese Kameraden der Arbeit? Und arbeiteten wir nicht so wie sie?«
Marie Ursel betrachtete eine Roggenähre, die sie, wie im dem Rausche feindliche Demeter, in den ernsten Händen hielt.
Sie sagte: »Noch lange Zeit sind wir nicht weise genug gewesen, um so zu sprechen.«
Sie schwiegen, und die Nacht wurde ihnen vertraut. Am Feuer bei den Tanzenden war sie ihnen fremd und herzbedrückend gewesen wie ein neues Haus, in das man einziehen muß. Nun hatten sie sie mit ihren Worten, Mienen und Gedanken, ja zumeist mit ihren Schmerzen wohnlich gemacht.
Hanka fragte leise: »Willst du nun von dir erzählen, liebe Marie Ursel?«
Marie Ursel schüttelte die Locken wie ein Kind, dem ein Schluchzen in der Kehle steckengeblieben ist und das nicht Rede stehen kann. Sie hatte bei diesem kleinen Wörtchen »liebe«, das Hanka unversehens und mit großer Innigkeit ausgesprochen hatte, die Augen von der Roggenähre fort und auf ihn hin gerichtet.
Voller Ehrerbietung, voller Zweifel und ganz überwältigt von einer Empfindung, die fast eine Begeisterung war, sah Hanka zu dieser kraftvollen und gesunden Frau hinauf. Wie im Traume flüsterte er:
»Meine geliebte Freundin …«
Er nahm Marie Ursels Hand, noch ohne sie zu küssen, ganz versunken in der Betrachtung dieser edlen Gliedmaßen. Marie Ursel aber war es, als verändere sich bei dieser Berührung das Blut in ihrem Leibe, es wurde ihr süß und eigentümlich schwer, als trage sie eine geheimnisvoll sich bildende Form in ihrem Leibe.
Julius küßte nicht Marie Ursels Hand, aber er lehnte zum Zeichen seiner großen Entsagung die Stirn und den Mund daran. Marie Ursel streichelte mit der linken Hand sein Haar. Sie begann zu weinen, die Tränen flossen ihr über die Wangen. Nicht Göttin war sie mehr, sondern ein Kind, das um Schonung bittet.
»Nicht küssen, Lieber!« bat sie warnend, schmeichelnd und heftiger weinend.
Hand in Hand erhoben sie beide sich, eng aneinandergedrängt. Einen warmen Wind im Gesichte, so schritten sie zurück, um das Haus zu erreichen, das Asyl vor der Verfolgung ihrer Leidenschaft.
›Es ist gelungen! Noch diese zwei Schritte bis zu den Holunderbüschen, und ich bin ihren Blicken verborgen! Ich bin allein. Ich bin im Park. Ich bin im Walde.
Ich werde wieder diesen Birkenstreifen durchqueren – wie ich es einst am Mittag tat – und über meine Wiese bis zum Schilf an der Quelle gelangen. Er muß begreifen, wohin ich gehen werde! Wird er mir folgen? Ich bete zu meinen Eltern, Kindern und Freunden, ich bete zu der heiligen Seele meines Mannes, er möge mir nicht folgen!
Ich bete zu meinem Blute, daß er mir auf den Fersen bleibe! Wenn ich dich nicht verachten soll, so mußt du jetzt hinter mir herschleichen mit deinen schönen, gelockerten, panthergleichen Schritten! …
Es kommen Menschen! Ich höre es an ihren Stimmen, es sind Mareiles Geschwister! Hier, hinter diesem Sockel der bacchischen Weiber, verberge ich mich. Mein Cape ist dunkel, es wird mich nicht verraten …
Sie sind vorüber! Sie redeten von uns! Es sind Domestiken im Geist …
Werde ich mich umwenden? Ich habe nicht gelernt, hinter mich zu blicken. Die Dirnen auf den Straßen wenden sich nach den Männern um. Bald werde ich sein wie sie …
Ich gehe nicht weiter! Wie bist du unter diese drohenden Bäume geraten? Wenn du dich wendetest, du sähest noch den Schimmer dieses Feuers, das man du deiner Ehre errichtet hat!
Vorwärts! Ich bin es müde geworden, feige zu sein! Ich will erfahren, wozu ich fähig bin! Lange schlich ich im Bogen um mich selber herum, wie ein Liebender um seine Braut! Ich will mich an der Hand, ich will mich an der Gurgel packen! Ich will mich küssen, wie zum ersten Male der Liebende seine Braut, und ich will wissen, wie meine Küsse schmecken und wie es ist, wenn ich zugrunde gehe an meinen Küssen!
Vielleicht, daß alles vergeblich ist? …
Wie, wenn ich ein einziges Mal den Hals böge, um zu sehen, ob er folgte? Vielleicht verblieb er trotzig am Feuer? …
Sieh da, meine Wiese! Hier steigen Nebelwölkchen aus dem Sumpfe auf, und über ihnen, zwischen Sternenbildern ziehen die größeren Himmelswolken dahin … Noch diese wenigen Schritte vorwärts, bis das Naß meinen Schuh ergreift! … Nun bleibe ich stehen! Ich sehe nicht zurück! So möge er denn meine Schulter packen, jetzt – sogleich wird seine gewaltige Schicksalshand auf meinen Schultern lagern wie ein Gebirge …
Blut? Oh, ich habe meine Hand zerbissen! … Ist es denn möglich, daß dieser schlechte Knecht mich hier sogleich berühren wird? … Gott, zu dem ich niemals betete, erbarme dich meiner!
Gott, zu dem ich niemals betete, erbarme dich meiner und stelle mir jetzt diesen Mann im Nacken auf, daß er mich packe und niederbeuge! Denn ich vermag nicht mehr zu leben, wenn du mich nicht in die Missetat hüllest wie in deinen göttlichsten Mantel! Morde mich, du mein Gott, und schleife mein Gesicht am Stein des Bösen ab! Vernichte mich, damit ich einmal lebe! …
… Dort! … Im Nebel! … An der Quelle vor dem Steg – was für Gestalten? … Sind es Liebende, die küssen? Sind es Ringer, die kämpfen? … O wehe, mein Herz! Meine schändliche Qual! Wenn er vorausgelaufen wäre, im Bogen, Hand in Hand mit seiner schönen Freundin, mir das Schauspiel ihrer Liebe zu bieten? …
Stille doch, stille! Es ist ja nichts als Schilf, das sich im Winde wiegt und klirrt … Rohr, wo er lauernd lagert wie der Tiger im Schilf …
… Aber ich höre doch immer das Flüstern drüben im Nebel … Stimme des Mädchens, das ihn beschwört, umschmeichelt und warnt … Jetzt seine grollenden Worte aus tiefer Brust …
Blicken denn die nicht her zu mir? Deuten sie nicht mit ihren wolkigen Händen auf mein Gesicht? O Scham! Sie haben mich längst erkannt! …
Wach' auf, wach' auf, träumte ich denn? War mir denn nicht, als riefe die Stimme: »Du willst sie töten! So töte jetzt mich für sie!« …
… Törin, o Törin! Es ist ja nichts als Weide und Rohr und das weinende Murmeln der Quelle – – –
Nun aber weiß ich es, daß etwas Entsetzliches drüben am Stege geschieht! Sie ruft: »Töte sie nicht!« Oh, welch ein Schrei, Mareile! Dein letzter! …
… Sei stille! … Wenn ein Fisch springt und Nebel von allen Zweigen tropft, dann klingt es ja immer wie wimmernde, irrende Rufe …
Jetzt aber würgt er die Kehle! Es röchelt im Rohr.
Stirbt denn dort drüben ein Mensch für mich? Für mich? Kathrin Hanka?
So lange braucht ein Mensch zum Sterben? Solch Leiden gibt es auf Erden? So lange stirbt ein Mensch? So lange röchelt er? …«
Kathrin von Hanka wendet sich! Wie ein Hindumädchen stürmt sie zurück durch den feingeästeten Wald!
Mit dem Schwung ihrer angstbeflügelten Füße springt sie steilrecht über Wurzeln und Moos dahin! Wie eine Muschel bauscht sich auf ihren Schultern das Cape!
Schon bricht das Verfolgende in ihr Gehege ein! Es knarren und knacken die Äste, gedämpft brausendes Atmen ertönt und der dumpfe Laut der Füße! Auf ihren Lippen tanzt ihr Herz, es pocht in der Höhle ihrer Augen, es hämmert gegen die zarten Wände an. Zweimal schlägt sie den Haken … Zweimal verliert sie das Cape und fängt es im Fluge auf … Aber das Ungeheure bricht sich näher und näher zu ihr die Bahn! Nun ist sie verloren, die schöne, gehetzte Läuferin! Da – als habe ihr in den listenumsponnenen Palmenhainen des Indischen Ozeans die Jugend geblüht – wirft sie sich mitten im schwirrenden Lauf auf die Knie ins Moos, bewegt kein Glied ihres Leibes, atmet nicht mehr, erstarrt – und im Augenblick wird ihre schwierig gewölbte Menschengestalt zur Pflanze, zum Busch und Ast … Vorüber stürmt an der täuschenden Form das Verfolgende, schnaubend und röhrend wie ein Bär in der Brunst, stockt, und wild blickt es zurück … Jetzt kehrt sie sich um, wirft sie sich seitwärts auf neuen Pfad, flieht sie ins Ungewisse hinein … Ein Kinderspiel beginnt vom Haschen und Sichverstecken … Aber der Feind brüllt in der Wut dieses Spieles! … In der Verzweiflung schreit auch sie, und sie stürmt noch einmal dahin, mit rauschendem Rocke, jetzt ohne abzuirren, pfeilrecht auf dem Wege, geradeaus und vorwärts – vorwärts und geradeaus! Sie hört Musik und in der Musik das Keuchen ihrer Brust … Zwischen den Zweigen peitschen ihr Flammen entgegen … Sie jagt dorthin, wo der Wiesenplan vor dem Schloß halbdunkel ist und menschenleer …
Nun berührt ihr Fuß die freie Fläche des Rasens. Sie steht.
Schnell wirft sie den Kopf zurück. In ihrem weißen Auge blitzt und sprüht das lauernde Licht einer Wilden.
Niemand!
Mit rasselnden Atemzügen schleppt sie sich über den Rasen dahin.
Hofgesinde begegnet ihr. Sie wird erkannt. Man ruft ihr zu:
»Gute Nacht, gnädige Frau! Und viele, viele Jahre noch in Glück und Gesundheit!«
Sie tritt in das Haus.
Eine alte Dienerin, die Wäsche auf den Armen trägt, steigt die Treppe herab.
»Gute Nacht, gnädige Frau! Und schlafen Sie schön in Ihr neues Lebensjahr hinüber!«
Ihr ist, als schwebe diese alte Frau vor ihr her und stürze plötzlich, mit wehendem Haarschopf, fußlos wie die Geister der Ostasiaten, den klaffenden Mund auf der Stirn, kopfüber in einen Abgrund.
In ihrem Schlafzimmer angelangt, riegelt Kathrin von Hanka die Türen ab. Sie entkleidet sich, das Lächeln einer Irren auf den Lippen.
Wie sie die Arme hebt, das Haar zu lösen, bricht sie zusammen.