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Zehntes Kapitel

1

Am folgenden Tag, Sonntag abend, saß Frau von Hanka in ihrem Boudoir, wo sie mit Stephan Schach spielte. Da trat Keyserling schnell in das Zimmer.

»Hier vor der Tür steht der Gärtner Thomas, der Ihnen etwas Wichtiges berichten will, liebe Kathrin.«

»Soll ich hinausgehen, Niko?« fragte Stephan höflich.

»Ja, Stephan, ich bitte dich darum. Und verzeih mir, daß ich dein Schachspiel störe.«

»Ist etwas geschehen?« fragte Frau von Hanka.

»Ich weiß es nicht. Der Gärtner selber will es Ihnen berichten.«

Der Gärtner trat ein, indem er noch einmal die Sohlen seiner Stiefel auf der Schwelle reinigte und an der geöffneten Tür pochte.

»Guten Abend, Thomas.«

»Guten Abend, gnä-di-ge Frau.«

»Bitte, setzen Sie sich, Thomas.«

»Ich danke Ihnen, gnä-di-ge Frau, und ich bitte Sie, es mir zu verzeihen, daß ich hier einzutreten wage, aber der Herr Graf haben es so gewünscht.«

»Ich danke Ihnen, Thomas, daß Sie keine Mühe gescheut haben, um die hohe Treppe hier heraufzusteigen, weil Sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen wünschen.«

»Ja, es ist etwas Wichtiges, das ich mitzuteilen wünsche. Ich bin ein alter Mann und oft blöden Sinnes, gnädige Frau, aber doch offenbart sich mir zu manchen Stunden das Menschenherz, und das hat seinen Grund darin, daß ich während meines ganzen achtzigjährigen Lebens tagtäglich in der Bibel gelesen habe und nie etwas anderes Geschriebenes als eben diese Schrift, und so geht mir vieles durch den Sinn, gnädige Frau, wenn ich an eine so gütige und höfliche Dame denke, wie Sie es sind. Es ist sehr unbescheiden für einen alten Handwerksmann, so zu sprechen, aber warum soll die Zunge noch schweigen oder in einem künstlichen Geflechte daherreden, wenn der Sinn danach strebt, die Worte geradeswegs auszusprechen?«

»Ich habe Sie nie als unbescheiden kennengelernt, Thomas, und will alles, was Sie mir sagen, mit großer Aufmerksamkeit anhören. Nun beginnen Sie.«

»So beginne ich und berichte Ihnen, gnädige Frau, daß man soeben vor diesen meinen eigenen Augen den Übeltäter getötet hat.«

»Ist das der Hirt, Nikola?« fragte Frau von Hanka.

»Ja, Kathrin. Es ist der Hirt!« entgegnete Keyserling, und er sah Frau von Hanka mit einer stummen, inbrünstigen Warnung an.

»Einen Augenblick, Thomas, – ich will nur gehen und dafür Sorge tragen, daß man Ihnen etwas Warmes zu trinken –«

Rasch verließ sie das Zimmer, mit ihren Händen in der Luft tastend. Nach geraumer Zeit kehrte sie zurück, nachdem man dem Gärtner eine Tasse Kaffee dargeboten hatte.

»Dieses Licht hier blendet mich«, sagte Frau von Hanka, und sie schaltete es aus.

»Nun berichten Sie mir, bitte, was Sie gesehen haben.«

Frau von Hanka lehnte sich in einer steifen Haltung auf dem Sofa zurück. Sie schloß die Augen. Und der Gärtner begann zu sprechen, ohne daß Frau von Hanka oder Nikola Keyserling ihn auch nur ein einziges Mal unterbrochen hätten.

»Gnädige Frau, Sie wissen es, und der Herr Graf weiß es ebenfalls, daß der Jagdmeister und seine Gattin im Forsthaus am Schrillensee eine Wirtschaft betreiben. Um dieses Ehepaar in seinem Schmerze um die hingewürgte Tochter zu schonen und nicht den Verdacht einer Neugier zu erwecken, auch weil die Witterung der letzten Wochen den Weg dorthin beschwerlich machte, deshalb hatte die Dorfbevölkerung und das Hofgesinde es bisher unterlassen, dort wie gewöhnlich an den Sonntagnachmittagen einzukehren. Nun aber war von dem Jagdmeister selber und seiner Gattin die Aufforderung und Bitte ergangen, sie doch wieder wie früher mit der Einkehr in ihrem Hause zu beehren und ihnen nicht noch zu ihrem Ungemach ein neues dadurch hinzuzufügen, daß man die Försterei wie eine fluchbeladene Stätte des Unheils meide. So erging denn allenthalben für den heutigen Tag die Losung, dem Herrn Jagdmeister und seiner Familie durch einen allgemeinen Aufbruch dorthin die Ehre zu zollen. So habe ich mich denn denen angeschlossen, die gutmütig genug waren, sich meinem stockenden und humpelnden Gange anzubequemen, – nicht deshalb habe ich mich aufgemacht, gnädige Frau, weil ich ein Wirtshausgänger bin, sondern weil es mich verlangte, die Stätte zu besuchen, wo das verehrte Mädchen Mareile gewandelt ist, ihre Kindheit und die Tage ihrer Jungfrauenschaft zugebracht hat und von wo aus sie aufgebrochen ist, um sich dem Verbrechen und dem Opfertode zu überliefern. Sie kennen, gnädige Frau, und der Herr Graf kennt die große Gaststube. Dort nämlich hängt an der Wand als einzige Zierde das Bildnis unserer Herrschaft. Nachdem ich die Erlaubnis erhalten hatte, mir das geweihte Gemach der Toten anzusehen, ihr Tisch und ihr Bette und ihr Spiegelein und die Gardine an ihrem Fenster, das eine schöne Fernsicht über den See und Wald bis zu dem Dorfe Hochzeit darbietet, bin ich hinabgestiegen und habe mich den andern zugestellt. Dort aber in der Gaststube war mittlerweile eine große Erregung unter den Männern ausgebrochen, und wilde, unziemliche Worte flogen von Tisch zu Tisch, denn mancher dachte wohl dem Jagdmeister und seiner Gattin eine größere Zuvorkommenheit damit zu erweisen, je vermessener die Worte wären. Denn sie galten alle dem Übeltäter, der in den Wäldern haust. Ich will jetzt berichten, weshalb diese unziemliche Gesinnung unter den Männern an den Tischen ausgebrochen war. Es haben sich nämlich Gerüchte erhoben von mancherlei verschiedenen und, wie man später sehen wird, glaubwürdigen Personen, daß der Hirt an diesem Sonntag gegen Sonnenaufgang und später am Mittag an manchen Stellen des Landes, ja sogar unseres Gutes Herbstfelde angetroffen worden ist. Unbekümmert ist er dahergewandert, mit einem weißen Lammpelze angetan, und so entsetzenerregend ist seine Erscheinung gewesen, daß niemand gewagt hat, das Wort an ihn zu richten oder gar Hand an ihn anzulegen, zumal er auf seinem Gang einen überirdischen Schimmer und einen Dunst ausgestrahlt haben soll, als sei er geradeswegs aus der Grabkammer entfahren.«

Der Gärtner nahm einen Schluck Kaffee, hielt die Tasse mit beiden Händen umklammert, um sich an ihr die Finger zu erwärmen, und begann weiterhin zu berichten:

»Einige von den zuchtlosesten der Männer, gnädige Frau und Herr Graf, stürmten, nachdem sie diese Kunde vernommen hatten, die Treppen zu der Dachwaffenkammer des Jagdmeisters hinauf, um an Mordgeräten herbeizuschaffen, was ihnen nur in die Hände fiel. Und sie fanden sich mit Flinten ein, mit Pistolen, altertümlichen Hellebarden und Morgensternen, die meisten aber mit Dolchen und Messern, und unten angelangt, haben sie alle insgesamt untereinander die Waffen verteilt und mancherlei Verabredungen getroffen, wie sie sich nun zu kleineren Trupps zusammenschließen und nicht eher rasten noch ruhen, ja wenn es geboten wäre, auch nicht einmal zu ihrer Arbeit am nächsten Tage zurückkehren würden, bis sie jetzt endlich die Hand auf den Mann gelegt und ihn herbeigeschafft hätten. Vergebens mahnten der Jagdmeister und seine Schwiegersöhne zur Besonnenheit, vergebens erhob auch ich meine brüchige Stimme, die mir schnell den Dienst aufsagte, da sie sich ja wie zu einer Donnerstimme hätte verstärken müssen, – so wurde ich verlacht und mit Verhöhnungen nachgeahmt, ja es gab nur grimmige Antworten und Spottreden gegen die Besonnenen, und sogar Drohungen wurden gegen sie laut, und der Tumult wuchs wie eine Kanonade in der Schlacht oder wie ein Erdgetöse, – da, gnädige Frau, drang von irgendeiner Frauensperson aus dem Garten her ein Schrei zu uns in die Gaststube herein und noch einer von einem anderen Weibe und wieder einer, und siehe da: es ging gleich danach die große Glastür auf, die Gardinen und Vorhänge vor der Tür wehrten ein wenig, und es trat in unser Gemach der Hirt ein.«

Der Gärtner senkte das Haupt, und er verstummte, als verbiete ihm eine große Scham, weiterhin zu sprechen.

Frau von Hankas dunkle Augen aber suchten mit einem Ausdruck unaussprechlicher Furcht und Qual Keyserlings Augen, die von den Lidern ganz bedeckt waren.

»Gnädige Frau, wenn man einundachtzig Jahre alt geworden ist, so hat man vieles auf der Welt gesehen. Soldat war ich in drei Kriegen, die unser König geführt hat das wissen Sie ja, gnädige Frau, – bei Düppel bin ich gewesen, bei Königgrätz und vor Paris bin ich gestanden, und in meiner Jugend, das war Anno 1849, da haben mein Vater und meine Brüder und ich einen Rudel verhungerter Wölfe von unserem Schlitten aus bekämpfen müssen, und noch viel Gewaltiges ist geschehen, was ich jetzt nicht aufzuzählen vermag. Aber niemals hat sich vor meinem Auge etwas zugetragen, gnädige Frau, das so gewesen ist wie dieses hier. Denn es trat ein allgemeines Schweigen und Starren ein, wie nun dieser übermächtige Bösewicht wie ein stolzer, wiedererstandener Gott mitten unter uns stand, und, denken Sie es, gnädige Herrin, denken Sie es, Herr Graf: die Tobsüchtigsten, gerade die ließen die Augen zu Boden fallen! Denn der Bösewicht stand da wie der Herr der Gebirge, in einem kurzgeschürzten Weiberrock und in einem schneeweißen Rauchwerk des Lammes. Und er hielt einen Stecken in der Hand, und an seinen Füßen waren Sandalen, und wahrhaftig, gnädige Frau, es traf uns alle von seiner Gestalt ein Dunst der Vernichtung. Und wer es wagte, die Augen zu seinem Gesichte zu erheben, der sah ein bleiches und gar fast edles Gesicht, aber freilich mit einem grimmigen und wüsten Blicke in den Augen. Und da der gewaltige Bösewicht nun um sich sah und inne wurde, wie alle schwiegen, öffnete er über dem Herzen sein Gewand und deutete auf sein Herz und auf eine der Waffen und wiederum auf sein Herz, und dann breitete er, beinahe wie der Pfarrer beim Segen, die Arme aus, nur weiter, und so verharrte er eine Zeitlang in dieser Einladung zu seiner Überwältigung. Dann aber erhob sich die erste Stimme, und das war die des kranken Jagdmeisters, dessen Gesicht will ich nicht vergessen bis zu der Stunde, die kommen wird. Und dann erhob eine zweite Stimme sich und dann eine dritte und vierte und fünfte, und dann war es mit einem Male ein Orkan, gnädige Frau, ein heulender Höllenchor, Herr Graf, und es wäre unziemlich von mir, wenn ich in diesem ehrwürdigen Raume, in dem die Herrin und die Herrschaft lebt, auch nur einen dieser Rufe oder Schreie oder Worte wiederzugeben mich unterfangen wollte. Aber dann war noch eine Stimme, die einen Augenblick alles übertönte, das war die von dem Kutscher, und der fragte:

»Hast du Mareile erwürgt?«

Da entstand noch einmal ein fast heiliges Schweigen in der Menge, und darin antwortete der übermächtige Mann:

»Ja.«

Und noch einmal:

»Hast du die Frau im Walde gehetzt und wolltest ihr eine Unehre antun?«

Da besann er sich lange und senkte die Stirn. Dann aber sprachen seine Lippen wiederum ein klares:

»Ja.«

Und kaum hatte er dieses andere klare Ja ausgesprochen, da fuhr ihm eine Faust mit einem Dolch von hinten her in den Nacken. Aber so hoch her kam der Stoß, daß er abglitt an seinem Nacken und nur ein Bogen feinen Blutes aufsprühte. Der aber, der gestoßen hatte, rief: › Mareile!‹ Da traf ein zweiter Stich mit dem Messer seine Hüfte, und der da stach, tief ebenfalls: ›Mareile!‹ Da kamen Fäuste von vielen Richtungen und rissen ihm den Pelz vom Leibe, und einen dritten Stich führte jetzt der Kutscher zu seiner Brust hin und rief: ›Die Frau!‹ Und ein vierter und fünfter und ein sechster und dann unzählige Stiche und Stöße folgten sich jetzt, und jedermann, der in diesen Leib hineinstieß oder stach, rief: ›Mareile!‹, oder er rief: ›Die Frau!‹ Aber es waren mehr, die ›Mareile!‹ riefen als: ›Die Frau!‹ Und ich höre bis an meine Todesstunde diesen Ruf: ›Mareile!‹ und ›Die Frau!‹ Und wer einen stumpfen Gegenstand in der Faust hatte, der hieb damit auf sein Haupt oder auf seinen Rumpf oder auf seine Schulter oder auf eines seiner Glieder, und jedermann rief: ›Mareile!‹ oder ›Die Frau!‹ Der Hirt aber vollführte keinerlei Abwehr mit der gewaltigen Kraft seiner Glieder, die ihm doch gegeben war, sondern er taumelte nur hierhin oder dorthin, und so blühend war in diesem Leibe die Gesundheit aller Eingeweide und Glieder, daß der Kern seines Lebens nur erzitterte, nicht aber wankte und wich. Nur sein Gesicht verbarg er unaufhaltsam, bald gegen die Wand hin, bald tief über einen Tisch geneigt, bald mit den Händen beschirmt, als schäme er sich, daß es wohl von der Qual dieser mannigfachen Hinrichtungen so verzerrt oder untapfer erscheinen mußte. Doch auch das üppigste Leben muß dem Ansturm so zahlreicher Morde weichen, – und endlich stürzte auch er auf den Boden nieder, und sein Haupt lag unbedeckt, mit fast gebrochenem Auge, gegen einen Stuhl gelehnt, und der ganze Bau erzitterte und verkrümmte sich. Da haben ihn wohl die schweren Stiefel von dreißig Männern mit dem Absatz in das Antlitz getreten, das uns doch als eines Sterbenden und Entsühnten Angesicht heilig und verehrungswürdig sein sollte, und viele freche und gottlose Münder haben ihn bespien, und einer ist zu ihm hingetreten, hat in sein Haar gegriffen, wie David in des Riesen Goliath Haar, und hat sein brechendes Auge so gegen das Bild der Herrschaft gerichtet:

›Wolltest du nicht deinen Blick zu der Frau erheben? Da, schau hin, Schindmähre! Da, heb deine Augen!‹

Und es war, als habe der Geist des Hirten diese Beschimpfung noch einmal als das letzte aller irdischen Worte in sich aufgenommen, denn er warf sich jetzt mit einem machtvollen Schwunge seiner blutig gestochenen Lende zur Seite, und unversehens fiel sein Leib vor dem Bildnis unserer Herrschaft danieder, und dort ist er dann, mit dem Gesichte auf dem Erdboden, verstorben, und die Seele hat den Körper von sich getan. Wie aber die Männer dies gesehen haben, da haben sie in ihre Hände geklatscht und ›Bravo!‹ geschrien und ›Hurra!‹ Dann aber hat sich abermals und zum letzten Male ein großes Schweigen unter den Tätern dieser gottlosen Rachemorde ausgebreitet, und alle haben wir um den Leichnam des Hirten im Kreise gestanden, wir, denen er die Frauen und Töchter und Mütter verwildert hat, und auch ich war darunter, dem er die einzige Enkeltochter ehrlos gemacht hat. Da aber haben wir gesehen, daß es ein herrlicher Mannesleib war, der da verblutete aus seinen unzähligen Wunden, mit unschätzbaren und blühenden und edel geformten Gliedern, und ich erkannte, gnädige Frau, daß Gott eine große Absicht leitete, als er diesem Manne solch einen Leib erschuf. Ja, da ist etwas, worüber ich nachdenken will: ob er vielleicht in seinem Leben Gottes Absicht gar nicht mißverstanden hat, sondern ob er so angefüllt war mit einem Geiste, der nicht böse und nicht gut war, daß er immer ganz göttlich war, was er auch immer im Leben vollbracht hat.

Zu Ihnen aber, gnädige Frau, bin ich gekommen, diesen Bericht sogleich hier abzulegen, bevor noch die blöde Dämmerstunde meines Greisenverstandes anheben könnte. Denn als Sie an jenem Tage auf dem Friedhof vor Mareiles Grab hingetreten sind und sich sodann mit mir seitwärts von diesem Grabe vor einem anderen Grabe beredet haben, da sah ich, daß auch in Ihrem Herzen sich wohl solch eine Frage aufgetan hat, wie diese, die ich eben stellte: ob nicht ein höheres Ding als Gut und Böse in diesem Hirten war. Und so danke ich Ihnen, gnädige Frau, und Ihnen, hochzuverehrender Herr Graf, daß Sie diesen Bericht mit einer so bedeutenden Aufmerksamkeit angehört haben.«

Der Gärtner stand von seinem Stuhle auf, stellte behutsam die Tasse auf den Tisch zurück, verneigte sich und verließ das Zimmer.

2

Um die letzten Tage in Herbstfelde mit seiner Frau zu verleben und sie sodann nach Berlin zu geleiten, war in der Wochenmitte Julius von Hanka hier eingetroffen, und. er hatte, weil er Kathrin und Stephan eine Freude bereiten wollte, Marie Ursel und Bettine mitgebracht.

Frau von Hanka hatte sich, wie sie es jetzt immer tat, bereits am Nachmittag in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, und so begrüßte sie die Ankommenden an ihrem Bett, wo sie alle gemeinsam das Nachtmahl einnahmen.

Frau von Hanka war bemüht, ihre Freude über die Anwesenheit ihres Mannes und ihrer Freundin zu zeigen. Nachdem aber die Kinder zum Schlafen geschickt worden waren, trat alsbald ein bedrückendes Schweigen ein. Marie Ursel und Julius waren entsetzt, wie sie diesen geliebten Menschen hier im Bett vor sich sahen, denn Kathrin glich einer Frau von fünfzig Jahren, die müde ist und sterben will.

Nach dem Abendessen blieben diese drei zusammen. Marie Ursel saß rechts von Kathrin auf dem Bette, und sie hielt ihre Hand, Julius hatte sich mit allen Zeichen einer tiefen Verstörung in einen Sessel geworfen.

Hier war es, wo Frau von Hanka ihm in Gegenwart ihrer Freundin mit der größten Wahrhaftigkeit alles berichtete, was sich im Sommer und im Herbste mit ihr zugetragen hatte. Zum Schluß ihres Berichtes bot sie ihrem Mann die Scheidung an. Sie sei bereit, in dem Gerichtsverfahren die Schuld auf sich zu nehmen und ihm die Kinder zu überlassen, da sie sich nicht mehr für würdig halte, sie weiterhin zu erziehen.

»Ich habe dies alles in Gegenwart von Marie Ursel mit dir besprechen wollen, weil es mein Wunsch ist, daß ihr euch später heiraten möget. Denn ich fühle, daß ihr euch liebt.«

»Ich will,« entgegnete sogleich Marie Ursel mit großer Ruhe, »bevor hier noch irgendein anderes Wort gesprochen wird, jetzt sagen, daß ich mich niemals von meinem Mann scheiden lassen werde. Denn ich habe bemerkt, daß er sich in den Tagen meiner Abwesenheit um mich gehärmt hat, daß er, um mich zu erfreuen, ruhiger und besonnener geworden ist und schon sein Augenmerk darauf zu richten beginnt, nicht mehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft zu schauen und sich eine Tätigkeit zu suchen, die seiner großen Begabung angemessen ist, und Julius hat mir versprochen, ihm hierin behilflich zu sein. So halte ich es denn für meine Pflicht, in dieser Zeit, in der die Ehen sich bilden und auflösen wie Rauch und Dunst, ein Beispiel dafür zu geben, daß der Mensch ein Wesen ist und nicht ein Schein!«

Julius legte die guten Hände auf Kathrins Hand.

»Kathrin, in alledem, was du uns soeben mitgeteilt hast, vermag ich nicht Richter zu sein, weil es mir allzu fern und fremd ist. Ich habe dich immer für würdig und für fähig befunden, unsere Kinder zu erziehen, und niemals wird der Gedanke in den Kreis meiner Vorstellungen treten, daß irgendein anderer Mensch auf der Welt unsere Kinder erziehen soll als eben du. Alles aber, was dir begegnet ist, will ich für mich durchdenken und mich bemühen, daß es mir einmal verständlich werde.«

Nachdem die beiden dieses ausgesprochen hatten, winkte Kathrin ihren Mann nahe zu sich heran, da sie sich nicht mehr aufzurichten vermochte; sie küßte seinen Mund und seine Hände, und auch Marie Ursels Hand küßte sie, und Marie Ursel wiederum küßte ihr die Augen und die Stirn.

Darauf begannen Marie Ursel und Julius mit dem milden Ton, mit dem man in einem Krankenzimmer gewöhnlich zu sprechen pflegt, allerlei Dinge zu berichten, die sich in Berlin zugetragen hatten, und sie erzählten nur solche Begebenheiten, die Kathrin zu erheitern vermochten.

Als sie sich von Kathrin verabschiedeten und ihr mit zärtlichen Abschiedsküssen eine gute Nacht wünschten, sagte Marie Ursel:

»Als wir hereinkamen, da war Kathrin fünfzig Jahre alt! Wie sie uns ihre große Räubergeschichte erzählte, da war sie fünfzehn! Und jetzt, da wir vergnügt sind und alle herrlich schlafen werden, ist sie wieder dreißig! Gute Nacht – femme de trente ans!«

Da lachten sie alle drei, wie in den guten alten Tagen. –

Währenddessen lagen oben in der Dachkammer wieder einmal Bettine und Stephan in demselben Bett, obwohl es ihnen doch streng verboten worden war, – so nahe, daß ihre Nasenspitzen sich berührten und ihre glühenden Augen sich gegenseitig fast versengt hätten.

»Nun?« fragte Bettine gebieterisch.

»Die Sache ist jetzt folgendermaßen: Die Antilope ist niemals zurückgekehrt und seit einigen Tagen auch der Würgefalke und Muttis Wolf und Rappe nicht mehr. Aber stolz geht der Hirsch in meinem Zimmer vor dem Fenster auf und ab, und auf den beiden höchsten Spitzen seines Geweihes sitzen Tauben, die gurren die ganze Nacht.«

»So ist es gut«, erklärte Bettine befriedigt.

Man fand sie am nächsten Morgen Arm in Arm, beide mit selig lächelnden Stirnen und Lippen und mit rosigen Lidern, wie Säuglinge in der Wiege. –

Julius von Hanka, Marie Ursel und Keyserling verlebten freilich noch quälende Tage auf Herbstfelde; denn sie alle erwarteten, daß man in der Hütte des Hirten, die alsbald nach seinem Tode entdeckt worden war, den Ranzen mit dem Proviant und den Wollsachen sowie die javanische Holzplastik auffinden werde, und mit noch größerer Unruhe sahen sie der Stunde entgegen, zu der das Mädchen sich auf Herbstfelde einfinden und dort seinen Lohn beanspruchen werde. Aber bald wurde es ihnen zur Gewißheit, daß der Hirt jeden von Kathrin herrührenden Gegenstand verbrannt oder in einen See versenkt oder vergraben hatte. Und so geheimnisvoll, wie das Mädchen einst in den Wäldern aufgetaucht war, so hielten die Wälder es auch zurück, und niemand hat es jemals wieder gesehen.

Freilich begann sich im Lande eine Legende zu bilden: Frau von Hanka habe mit der ihr eigenen Extravaganz und Lust an Gefahren in der Tat auf eine Botschaft hin, die sie unerklärlicherweise von dem Hirten empfangen hätte, diesen in den Wäldern aufgesucht und dort mit einem Revolver in der Faust ihm die Aussichtslosigkeit seiner Leidenschaft vor Augen gehalten, und so sei der Mann dann am nächsten Morgen gleichsam freiwillig zu seiner Hinrichtung nach dem Forsthause aufgebrochen.

Wenn wir nun einen Augenblick dem gemessenen Gang unserer Handlung um einige Monate vorausgreifen, so ist es hier an der Zeit, zu berichten, daß in dem großen Prozeß gegen die Mörder des Hirten, welches Verfahren vor den Geschworenen übrigens mit einem Freispruch endigt, zuweilen ein Wetterleuchten um Kathrin von Hankas Namen zucken wird. Aber der Präsident des Gerichtshofes in Rüstrow, Herr von Brockdüsing, bändigt die Elemente, und so wird Kathrins Name niemals in irgendeinem ihr abträglichen Sinne erwähnt werden.

3

Es war an einem der ersten Tage des Monats November, als Frau von Hanka Herbstfelde verließ. Julius war mit den Kindern und dem Personal bereits nach Rüstrow vorausgefahren, um den Abgang des Gepäcks zu überwachen.

Gegen Abend standen Frau von Hanka, Marie Ursel und Keyserling allein in der Halle des verödeten Hauses, dessen Möbel zur Seite gerückt oder verhangen waren, während die Gardinen an den geöffneten Fenstern wehten und die Fensterläden im Winde klappten.

Marie Ursel nahm Frau von Hankas Arm.

»Ich weiß es, weshalb du in den letzten Tagen wieder so unruhig wurdest«, flüsterte sie ihr zu, während sie Kathrin Hankas Reiseschleier behutsam zurücklegte und das Gesicht der Freundin streichelte. »Du mußt einmal an diesem Grabe gewesen sein. Komm, wir gehen in das Dorf. Ich habe gehört, er ist im Dorfkirchhofe von Herbstfelde begraben worden.«

Frau von Hanka warf Marie Ursel den Blick eines dankbaren Tieres zu.

»Aber dann wollen wir hierher nicht mehr zurückkehren!« Sie sah schaudernd über die leeren Wände der Halle hin. »Wir bestellen den Wagen vor den Dorfeingang.«

»Das ist gut so. Nun verabschiede du dich von Nikola, währenddessen hole ich Blumen aus dem Treibhaus.«

Frau von Hanka trat mit Nikola vor das Schloß. Vor der Auffahrt gingen sie längere Zeit Arm in Arm einher, leise zueinander sprechend. Dann, als Marie Ursel ihre Blumen brachte, nahm Frau von Hanka einen ganzen Armvoll davon, und sie gab Keyserling von ihren Blumen.

»Ich will dir ausnahmsweise noch einmal wieder gut sein, Nikola«, sagte sie, und ihre schimmernden Augen lächelten ihm zu. »Sei bedankt! Lebe wohl! Und weil du jetzt wieder so ein braves Häschen geworden bist, so will ich dir zur Belohnung mitteilen, daß ich von nun an ganz, ganz schnell eine alte Dame werden will, und wenn du mich wiedersiehst, trage ich ein Häubchen auf meinem Scheitel und Fichus am Halse und sticke Filet.« Sie legte den Schleier über die Schläfe zurück, und sie küßte Keyserling, während sie ihm zum Abschied verstohlen ein Geschenk in die Hand drückte.

Er kehrte sich ab und betrat wie eine dunkle Erdhöhle das ungeheuerlich schweigende Haus, in dem noch Duft ihres Parfüms verblieben war, wie wohl in der beginnenden Nacht zuweilen noch Tageslicht an den Zweigen der Bäume hängenbleibt. Dann trat er ans Fenster, um zu sehen was für ein Geschenk er in der Hand hielt: es war das Kästchen mit dem Souvenir des Überfalls.

Die beiden Freundinnen aber bogen mit raschen Schritte: in die Acker ein, über welche der feuchte Novemberwind das Laub entfernter Wälder dahertrieb. Die Dämmerung war aus einem blinden Himmel über das Land herabgesunken, und das grausame Wort November beherrschte die Natur.

Frau von Hanka zuckte zusammen. Sie glaubte in den Stoppelfeldern ein unaufhaltsames Weinen zu hören.

»Warum erschrickst du so?«

»Nichts. Es ist der Wind –«

Sie gingen im Geschwindschritte dahin, diese beiden Frauen, und der Sturm warf ihnen die Schleier an ihren Wangen über die Schultern zurück.

»Ach, Marie Ursel, so tröstend stehen in unserer Bibliothek all die in schönes Leder gebundenen Erzählungen – die Bücher der Beruhigung. Am Schluß ist immer der Sturm vorübergegangen. Ach, es ist alles wohl nur hübsche Dichtkunst! Was einmal stark in einer Seele war, immer kehrt es auch dorthin zurück! Nur geht es wohl so, wie der Gärtner zu mir gesprochen hat: Wenn wir alt werden, tut es nicht mehr weh.«

»Hilft es dir, das zu wissen, Kathrin? Hast du es nicht so bitterlich erfahren, als du Todesfurcht empfandest: daß du leben mußt, wo die Welt blühen, nicht wo sie zerstört sein will?«

Marie Ursel öffnete die rostige, herbsteskalte Tür des Friedhofes und ging hindurch. Frau von Hanka blieb vor der Mauer stehen. Sie lauschte zurück, zu den Ackern hin, von denen sie gekommen war. Immer weinte ihr dort im Novemberwinde eine Stimme … eine Kinderstimme … War es nicht die weinende Stimme Mareiles? … War es nicht weinende Weibesstimme? …

Ein Mann schleppte sich mit Holzschuhen über die Gräberpfade dahin, er trug eine Schaufel auf der Schulter. Durch den Wind rief Marie Ursel ihm zu:

»Wo liegt hier der Hirt begraben?«

Der Mann deutete auf einen Platz im Winkel der Mauern. Schwerfällig ging er davon. Frau von Hanka folgte schnell, ihr Mantel berührte den raschelnden Efeu der Gräber.

»Ja, bei euch werde ich leben. Dort aber« – und sie deutete mit der Stirn auf den aufgeschütteten, feuchten, blumenlosen Erdhügel, vor dem sie jetzt standen – »mit dem werde ich gestorben sein!«

»Ach, Kathrin, das alles ist ja nur ein Wahn und Spiel deines Geistes gewesen! Denn nur mit den Männern, die in unsern Häusern leben, die unsere Sprache sprechen und unsere Kinder belehren, – nur mit denen sind wir wahrhaft verbunden.«

»Und doch weinen die da drüben so wild über den Feldern –«

»Wen hörst du denn über den Feldern weinen?« fragte Marie Ursel erstaunt.

Frau von Hanka lehnte die Wange gegen Marie Ursels Schulter. Sie ließ die Blumen aus den Armen sinken.

»Nun siehst du es ja, daß ich mit ihm verbunden bin. Denn wie könnte ich dieses Weinen dort drüben über den Feldern hören, wenn seine Stimme mich nicht so übermächtig riefe?«

 


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