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Es war September geworden. Längst hatte der Sommer den Kranz aus der Stirn verloren. Seiner eigenen Schönheit überdrüssig und ekel, so ging er, singend wie ein Irrer, davon und ließ seinen Schritt in den Wäldern verklingen.
Nun regnete es Tag um Tag. Von Westen aus trieben die Oberwinde die Wolken her, die sich fauchend über das Land ergossen. Aus dem Angesicht der Bäume sank die blühende Farbe, ihre Stämme waren trunken von dem unaufhaltsam über sie hinrinnenden Naß, und die schnell wachsenden Pilze moderten in den Moosen, einen Leichengeruch durch das Land entsendend. Zuweilen in der Abendzeit traten die Wolken zur Seite, schnell wurde ein Himmelsblau mit rauchenden Sternen sichtbar, doch schon begannen die feuchten Bodenwinde aufs neue ihre sausenden Stütze zu führen, bis durch die öde Nacht der Regen einem fahlen Tag entgegenrauschten.
Im Schlosse zündete man die Ofen und Kamme an, und das elektrische Licht brannte in manchen Zimmern bis spät in den Vormittag hinein und schon früh zur Vesperzeit.
Es war still geworden auf Herbstfelde. Julius von Hanka war am Tage nach Mareiles Beisetzung davongefahren, eine Woche später folgte mit ihrer kleinen Schwester Marie Ursel, deren Mann ungestüm ihre Rückkehr erfleht hatte. Vergebens waren alle Bemühungen und Beschwörungen gewesen, Frau von Hanka zu bewegen, jetzt diesen Ort so peinvoller Erinnerungen und so großer Unsicherheit zu verlassen. Sie weigerte sich dessen fast mit Hohn. Sie versprach, unbewacht keinerlei Spaziergänge unternehmen zu wollen. Für ihre Sicherheit verbürgte sich Keyserling.
Schweren Gemütes zumal trennte sich Marie Ursel von ihr, denn Kathrin Hanka hatte sich in den noch verbliebenen Tagen ihr sowohl wie aller Welt als entfremdet gezeigt.
Sie war zu keiner Äußerung ihrer Seele zu bewegen gewesen. Nichts von dem, was in ihr vorging, wurde durch eine vertrauliche Unterredung deutlich gemacht, und alles an ihrem Wesen blieb zu erraten. Es war aber jedem offenbar, daß eine Veränderung in ihrem Innern sich vollzogen hatte. Zuweilen hatte es den Anschein, als lausche und warte sie, nicht eigentlich mit der früheren Unruhe, sondern im ganzen erschien sie gereifter, gesammelter und ihres Wesens gewisser als zuvor. Gegenüber allen, die sie liebten, zeigte sie eine fast verletzende Abgeschlossenheit. Nur selten verließ sie ihr Boudoir, wo sie jetzt auch die Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Allein die Zwillinge durften immer zu ihr hingelangen, dem ältesten Knaben wich sie aus, so viel es anging, mit Marie Ursel war ihr Umgang zu einem Tone kühler Freundlichkeit herabgesunken. Und so fuhr denn Marie Ursel mit beschwertem, angsterfülltem Gemüte aus Herbstfelde fort.
Erst nach dem Fortgang der Freundin begann Frau von Hanka gelegentlich das Zimmer zu verlassen. Den dunklen Regenmantel hochgeknöpft, die Kapuze auf dem Kopf, die Hände in den Taschen, so ging sie nun täglich eine Zeitlang in Begleitung der Hunde spazieren. Hierbei pflegte sie unruhige Blicke gegen den Himmel zu richten, als leide sie aus irgendeinem Grunde unter dieser Witterung, als sei ihr viel daran gelegen, daß der Regen aufhöre und daß ein milder Nachsommer mit blauer Himmelsstrahlung das Land erwärme. So legte sie wohl auch mit beunruhigter Miene ihre Hand an die nassen Stämme der Bäume oder sie prüfte den Erdboden, wieviel quellende Feuchtigkeit aus ihm hervordringe. Und auch der Überströmung der Quellen und Bäche schenkte sie eine sorgende Beachtung.
In der ersten Woche ging sie nur über die Rasenflächen des Schlosses einher, aber nur über jene, die auf der anderen, ihrem Schlafzimmer abgewandten Seite sich erstreckten; später betrat sie auch den hier gelegenen Park. Sowie sie sich aber unter den Bäumen verlor, bemerkte sie, daß man ihr folgte. Sie wurde wie eine Gefangene behütet, aber sie gab nicht sonderlich acht darauf.
Da sie mit Keyserling sowohl wie mit allen Leuten des Hauses nur das Geringste und Notwendigste besprach, so war sie ohne Kenntnis von der Meinung, die der Gutshof und die Dörfer von den Ereignissen der Geburtstagsnacht gefaßt hatten.
Es ging die Rede, der Hirt habe, überdrüssig des gemeinen Weibervolkes, es gewagt, sein Auge zu der Frau selber zu erheben. Vergebens habe sich Mareile bestrebt, seine Gesinnungsart zu bessern, ja ihn durch die Hingabe ihrer Hand aus seinem Stande und rohen Gemüte emporzuziehen. Wohl habe der Hirt auch sie zu verführen getrachtet, aber seiner Begierde habe sie völlig widerstanden. (Einen ungeheuren Eindruck machte in dieser Hinsicht die Bekundung des Arztes von Mareiles unversehrter Mädchenschaft.) Wollte er bei Frau von Hanka zu seinem Ziele gelangen, so war eine »Verführung« natürlich lächerlich. Er mußte versuchen, ihr eine schändliche Gewalt anzutun. Zu diesem Vorsatz habe er ihr in jener Nacht aufgelauert. Von böser Ahnung getrieben, sei Mareile ihm rasch bis zur Wiese gefolgt. Wie er nun im Begriffe gestanden habe, die Frau anzufallen, sei das Mädchen aus dem Nebel hervorgetreten und habe ihn beschworen, von seinem verbrecherischen Vorhaben abzustehen. Hierdurch in Wut versetzt, habe der Hirt Mareile mit seinen Fäusten erdrosselt. Nun aber sei er durch Morast und Nebel der Frau von Hanka nachgestürzt. Wie ein wildes Tier habe er sie im Walde gehetzt, und nur ihrer großen Geschicklichkeit und der Schnelligkeit ihrer Füße sei ihre Rettung zu danken gewesen.
Es sei begreiflich, daß eine Dame wie Frau von Hanka in verwirrter Scham über einen so niedrigen Angriff auf ihre Ehre und ihr Leben nicht sogleich die Sprache gefunden habe, um Alarm zu schlagen.
»Schließlich«, so äußerte sich einer am Sonntag nach Mareiles Beerdigung im Dorfwirtshause, »ist solch eine Dame auch nicht so erzogen worden, daß sie gleich eine Geistesgegenwart zeigt wie unsereins. Man muß sich schon wundern, wie die sich im Birkenschlage aus der Schlinge gezogen hat!«
Dieser Ausspruch fand Beifall. Diejenigen Männer und Frauen, die Frau von Hanka damals vor der Auffahrt begegnet waren, bestätigten auch, daß sie sich keuchend über den Rasen dahingeschleppt habe. Nun sind sie hierüber nicht sonderlich verwundert gewesen, denn sie haben sich gedacht, Frau von Hanka habe wieder einmal wild getanzt oder sie sei wie ein Schuljunge von irgendwoher gelaufen gekommen, wie das ja bekanntlich so ihre Art sei.
Man bejammerte Mareile, von welcher der Geistliche am Grabe gesprochen hatte: »Niemand hat größere Liebe wie sie gehabt, denn sie hat ihr Leben dahingegeben für ihre edelste Schwester.« Man begann die Tote zu verehren wie eine Heilige. Die Mütter und Töchter beteten zu ihrem Geiste. Die Katholiken, deren es zahlreiche in dieser Gegend gab, behaupteten, sie sei keine Ketzerin gewesen, sondern insgeheim der römischen Mutter wieder anheimgefallen. Schon zeigte ein Kind, dessen Körper mit Geschwüren bedeckt gewesen war, einige Tage, nachdem es Rumpf und Arme mit der geweihten Erde des Grabes eingerieben hatte, eine blütenweiße Haut.
Dem Grafen Keyserling jedoch zollte man Unmut und Tadel. Im Hause des Jagdmeisters bildete sich eine Partei des Widerstrebens gegen ihn. Der Graf habe einen Narren an dem Manne gefressen gehabt. An Warnungen habe man es nicht fehlen lassen. So möge er denn auch verantwortlich sein für die geschehene Tat! Sie wollten Ordnung hier im Lande, sie wollten keine »Berliner Wirtschaft«, wo Jude, Italiener, Pole und Deutscher gleiches Recht und Achtung genössen. Es sei schade um den Grafen, aber der Herr täte besser daran, ihn fortzuschicken.
Ungeheuerlich war die Erbitterung gegen den Mörder. Es gab keine menschliche Qual, die man ihm nicht zufügen wollte, wenn man je seiner habhaft werden würde. Man bebte, vor Zorn in dem Gedanken, es könne dem Hirten gelungen sein, zu entweichen und jenseits der polnischen Grenze zu gelangen, oder er könne eines Tages irgendwo im Walde erhängt aufgefunden werden.
Sie wollten ihn lebend in ihre Gewalt.
Niemals hatte Frau von Hanka Mareiles Grab im Gutsfriedhof besucht. Eines Tages aber, als der Regen nur fein über die Erde sprühte, ging sie dorthin. Eine Absicht leitete sie: sie hatte beobachtet, wie häufig der alte Gärtner sich mit dem Grabe zu schaffen machte. Ihn wollte sie besuchen.
Vor der Kirchhofsmauer zögerte sie einzutreten. Sie pflückte sich feuchte, unschmackhaft gewordene Brombeeren.
Schon von weitem entblößte der Gärtner sein biblisch gesträhltes Haar, seine beiden Fäuste hielten mit einer frommen Gebärde der Ergebenheit die Kappe über der Brust.
Frau von Hanka nickte ihm zu, mit einem ernsten Blick aus schwarzen Augen, und der Gärtner seinerseits wiederholte mehrmals ihr Nicken, als wollte er sagen: Siehst du, so geht es im Leben der Menschen zu! Dann kehrte er sich ab, um Frau von Hanka ihrer Andacht zu überlassen.
Frau von Hanka betrachtete das Grab. Vergebens hatte sich der Gärtner bemüht, die verehrte Stätte mit immer frisch verbleibenden Blumen zu bedecken, der Regen übersättigte sie, nahm ihnen den Geruch und die Farbe und ließ sie modern, Tag um Tag. Frau von Hanka erinnerte sich, was im Frühling der Gärtner zu ihr von den Blumen gesprochen hatte: »Im September, da wird es eine Pracht geben. Alles für den Tod, gnädige Frau, der dann kommt.«
Sie legte feuerrote Lilien, die sie mitgebracht hatte, auf das Grab. Von den verdorrten Kränzen und von den unlieblichen Blumen sah sie das Naß herniederrieseln. Inmitten brannte der Lilienstrauß wie ein Herz. Frau Julius von Hanka senkte die Augen – einem Tier ähnlich, das einem Gegenblicke ausweicht.
Der Gärtner glaubte näher treten zu dürfen.
Wie zuvor hielt er die Kappe mit beiden Händen gegen die Brust gedrückt.
»Guten Tag, Thomas.«
»Guten Tag, gnädige Frau.«
Diese Anrede »gnädige Frau« wandte er immer auf die ihm eigene Art an, buchstabenweise, als habe er diese Worte erst gestern zu sprechen gelernt.
Frau von Hanka leitete mit der Hand die seine zum Haar hin, daß er es bedecke, aber dem widerstrebte der Gärtner. Nun blickten sie beide eine Zeitlang zum Grab hernieder.
»Solch ein freundwillig gefälliges Wesen!« sagte der Gärtner. »Man sollte nicht denken, daß es da unten verdirbt.«
»Sie haben so schöne Georginen und Astern um das Grab gepflanzt, Thomas.«
»Ich freue mich, wenn sie zuschanden werden, gnä–di–ge Frau.«
»Weshalb denn, Thomas? Ihre eigenen Blumen lieben Sie nicht?«
»Ich liebe die Blumen, gnädige Frau – das muß ein Rechtschaffener Gärtner wohl! Und dieses Grab hier möchte ich so schmücken und seinethalben keine Mühen scheuen, daß die Menschen von weither gewandert kämen, die Pflanzenpracht zu bestaunen, und bei sich zu Hause müßten sie davon erzählen, und ihre Kinder sollten hier spielen die Sonntag- und Feiertagnachmittage lang. Aber gepriesen sei der Regen, der die Blumen zuschanden macht!«
Frau von Hanka glaubte, der alte Mann sei wohl blöden Sinnes geworden, und so lächelte sie nur freundlich und entgegnete etwas, das klang wie: Ja, ja – freilich. Aber der alte Gärtner sah ihr mit seinen vergilbten Augen zwar ehrerbietig, aber doch eigensinnig und fast streng ins Gesicht.
»Sie haben mich nicht verstanden, gnädige Frau«, sagte er.
»Nein, Thomas!« gestand Frau von Hanka mit einem leichten Rot auf den Wangen.
»Sehen Sie, gnädige Frau, hier vor diesem geweihten Orte, wo die Jungfrau modert – ich nenne sie eine ›Jungfrau‹, gnädige Frau, denn so nannte man hierzulande ein Mädchen, als ich ein Kind war –, hier darf man nicht davon sprechen, aber wenn die gnädige Frau mit mir zur Seite treten wollte –«
Ein wenig befangen ging Frau von Hanka mit dem Gärtner zu einem der nächsten Gräber.
Der Gärtner erhob die Hand mit der Kappe. »Blicken Sie in den Himmel, gnädige Frau – er sendet Regen um Regen! Das aber ist schlimm für den Übeltäter, der in den Wäldern haust!«
Er machte eine bedeutende Pause.
»Aber, Thomas – glauben Sie denn nicht, daß er längst über die Grenze ist?«
»Geben Sie acht, was ich Ihnen jetzt erzähle, gnädige Frau: – In früheren Jahren brannten sich die Menschen da, wo es weite Forsten gab, aus dem Harze der Nadelhölzer in großen, schwelenden Meilern allerlei Geist, um daraus den wohltätigen Teer zu gewinnen. Sie wissen, gnädige Frau, weshalb ich den Teer wohltätig nenne?«
»Nein, Thomas.«
»Nun, man benötigte ihn, um die Fugen der Schiffe zu verdichten, um die Taue damit zu bestreichen, um die Dächer der Hütten, die man mit Pappe bedeckt hat, gegen die Witterungsunbilden zu schützen oder um Pech daraus für den Schuhmacher oder für den Fuhrmann zu gewinnen.«
»Dann ist er also ein sehr wichtiges Erzeugnis, Thomas.«
»Das ist er, gnädige Frau. Die Pechsieder aber, das war ein finsteres Volk, das in seinem Munde nicht leicht die Worte zusammenfand, weil es so viel in den Wäldern geschwiegen hatte, und das Gesicht dieser Menschen war dunkel wie die Waldestiefe, in der sie brannten und siedeten. Nun, diese lebten in den Hütten im rückwärtigen Walde, dort, wo keines Menschen Fuß je hingelangt, nur Getier, das ungewohnt der Menschengesichter sein Leben fristet. Und solcher Hütten gibt es noch viele hierzulande. Wohl sind sie zerfallen und verbrannt, aber ihre Reste bestehen und bieten noch mancherlei Wohnlichkeit dar.«
»Und in einer solchen Hütte, meinen Sie, verbirgt sich der Täter?«
Das Gesicht des Mannes wurde gelb. »Ja, das tut er wohl! Aber vor diesem Regen hier, da schützt ihn keine Hütte! Dem brennt kein Holz, dem mundet kein Kraut oder Pilz, dem fault das rohe Tierfleisch zwischen den Zähnen.«
Er brach ab. Er verfiel in Zittern. Er sprach kein werteres Wort mehr.
Frau von Hanka wußte allzuwohl, daß er der dort draußen in den Wäldern! – es gewesen war, der diesem Manne die blühende Enkelin zerstört und sie dem ehrlosen Treiben der Straße überliefert hatte. So scheute sie sich, in den Gärtner zu dringen, weiteres zu berichten. Sie verabschiedete sich mit Dankesworten von ihm. Er begleitete sie zur Kirchhofstür. Dort zeigte er über die Gräber. Als wolle er Frau von Hanka einen Trost zum Geleite mitgeben, so sagte er: »Wenn wir alt werden, gnä–di–ge Frau, tut es nicht mehr so weh.«
Frau von Hanka ging davon, ohne noch einen Blick auf Mareiles Grab zu werfen. Sie wandte sich nicht dem Schlosse zu, sie begann zwischen den Gewächshäusern einherzuwandern. Zuweilen blieb sie stehen. Dann atmete sie kräftig in der regensprühenden Luft.
Die Gutsglocke rief die Menschen zum Mittag auf. Frau von Hanka ging langsam auf das Schloß zu. Aber nach einigen Schritten kehrte sie um. An einem türlosen Holzschuppen, in dem die Gärtner ihre Geräte verwahrten, hatte irgend etwas ihre Neugier erregt. Sie betrachtete jetzt die Hütte längere Zeit mit aufmerksamer Scheu, sowohl das regenfeuchte, mit Teerpappe überdeckte Dach wie auch das Gebälk im Innern. Sie faßte sich ein Herz, trat hinein und berührte mit zwei Fingerspitzen das faserige Holz der Balken: es war ganz trocken und warm.
Am Nachmittag hatte Frau von Hanka Nikola Keyserling zu sich zum Tee gebeten. Anfänglich führten sie eine Unterhaltung wie Freunde, die sich lange nicht gesehen haben und einander entfremdet worden sind. Aber die behagliche Atmosphäre des Boudoirs mit seinen bizarren Schönheiten voll chinesischen Kleinkrams, Negerspielzeugs, totemistischen Südseeholzwerkes und Liliputkunst des französischen Barock – diese geschmackvolle, spielerische Welt der Drolerie und des bric-à-brac, in die der singende Teekessel seinen fröhlichen Dampf entsendete und die kleinen Kuchen ihren Duft – dieses köstliche Boudoir der Frau von Hanka ließ sie beide schnell wieder den alten Ton der guten Kameradschaft anschlagen, mit dem sie sich gegenseitig Spötteleien wie die petits fours auf ihren Tellern anboten, ironische Wahrheiten über ihre Mitmenschen zum besten gaben und einander zum Lachen brachten.
Frau von Hanka hatte diese gute Gewohnheit des Orientalen, einem Besucher mitten in der Unterhaltung oder bei der Verabschiedung ein Geschenk zu machen: mit weit vorgestrecktem Arm pflegte sie irgendeinen dieser entzückenden Gegenstände der Kleinkunst hinzugeben.
»Ich will dir ausnahmsweise wieder einmal gut sein, Nikola«, sagte sie, und sie drückte ihm ein Porzellanpantöffelchen in die Hand.
»Erbarmen, Kathrin, was soll ich denn mit diesem Kunstgegenstand aus dem Warenhaus von J. C. Kahn in Insterburg?«
»Bitte sehr! Das ist bekanntlich ganz frühes Saxe! Aber jetzt muß ich ernsthaft mit dir reden.«
Keyserling steckte das Pantöffelchen seufzend in die Rocktasche, während er doch in seinem Innern ganz aufgebracht vor Vergnügen war.
»Nun höre genau zu, Nikola. Ich habe mich nämlich heute mit dem alten Thomas unterhalten.«
Und Frau von Hanka, immer rauchend, wie es seit jener Nacht ihre Gewohnheit geworden war, gab Wort für Wort ihr Gespräch mit dem Gärtner wieder. Sie endigte, indem sie, auf einen bestimmten Punkt der Wand hinstarrend, sagte: »Sie können sich denken, Nikola, daß die Ereignisse meiner Geburtstagsnacht mich etwas nachdenklich gemacht haben. Sie haben mir jedes Vergnügen an – nun an jenen Abenteuern geraubt, von denen ich Ihnen damals erzählte, als wir im Automobil nach Berlin fuhren.«
»Haben sie das wirklich?« fragte Keyserling, heiß vor Glückseligkeit.
»Natürlich! Und es ist mir ein ent–setz–licher Gedanke, Nikola, daß dieser Mensch noch irgendwo hier im Lande, womöglich gar in der Nähe, sich ungestraft aufhalten könnte! Wenn das möglich erscheint, so würde ich doch vorziehen, nach Berlin oder irgendwoandershin zu gehen, als hier noch einen Tag länger zu bleiben – und du weißt, Niko, wie gern ich hier in Herbstfelde bin! Deshalb möchte ich nun deine Meinung über die Mutmaßungen des Gärtners hören.«
»Der alte Thomas ist ein Dummkopf, Kathrin,« entgegnete Keyserling grollend, »und er sollte Besseres tun, als Sie kopfscheu zu machen! Natürlich gibt es in eurem ganzen Deutschland keine besseren Schlupfwinkel für Verbrecher als hier dieses Land der Wälder und Seen. Aber er wäre doch ein Narr, wenn er sich im Regen dieser letzten Wochen in einer zerborstenen Hütte aufhalten wollte, wo er trotz aller Undurchdringlichkeit der Forsten nur in Gefahr wäre, sich durch einen Schuß auf das Wild zu verraten oder irgendeinem Holzfäller oder Hegemeister zu begegnen – anstatt ganz einfach schnurstracks nach dorthin zu entweichen, wo Freiheit und Straflosigkeit winken. Denn sich über die Grenze zu schmuggeln, ist für einen geschickten Menschen keine Schwierigkeit.«
Frau von Hanka nahm einen Schluck Tee. »Schön, Nikola. Nun eine Frage. Glaubst du nicht, daß er ein sehr leidenschaftlicher Mensch war?«
»Natürlich war er eine leidenschaftliche Bestie«, erwiderte Keyserling verwundert.
»Und auch eine beharrliche vielleicht? Eine, die ihr Ziel nicht so schnell aus dem Auge verliert, und wenn es auch über Leichen ginge?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Kathrin! … Oh, jetzt begreife ich! Das Ziel sind Sie, liebe Kathrin! Ich sehe, auch Sie haben sich die Theorie der Leute hier zu eigen gemacht, daß ›der Knecht die Augen zu der Herrin erhob‹ – diese volksliedhafte Auslegung der Tat.«
Jetzt war es an Frau von Hanka, mit Verwunderung zu fragen: »Ja, Nikola, was für eine Theorie über die Tat haben denn Sie?«
»Ja … da muß ich zuvor um eine Erläuterung bitten, Kathrin. Sind Sie mit diesem Menschen je zusammengetroffen? Ich meine: haben Sie je irgendeine Unterhaltung mit ihm geführt?«
Frau von Hanka stieß den Rauch senkrecht in die Luft.
»Nein! Nie! ›Guten Tag‹ einmal oder dergleichen. Sonst nichts.«
»Also! Ich glaube nicht daran, daß dieser Mensch ›die Augen erhob‹ oder daß Mareile Ihretwegen sterben mußte – an all das glaube ich nicht. Sie sind es, die sich mit diesem Manne während des Sommers beschäftigt hat, spielerisch, wie Ihre Natur nun einmal ist – Sie, aber nicht dieser Mann mit Ihnen!«
»Das ist sehr gut möglich«, entgegnete Frau von Hanka sachlich und interessiert. »Aber glauben Sie nicht, daß er von dieser spielerischen Beschäftigung eine Art geheimnisvolle Ausstrahlung empfangen haben könnte?«
»Ach, Kathrin, das ist ja Literatur, was Sie da äußern! Ich kenne doch Sie und die Disziplin Ihres Betragens, ich kenne doch Ihre Tenue und die Gewohnheiten Ihres Flirts! Ich kann mir sehr gut vorstellen – allzu gut, Kathrin! –, wie Sie vielleicht zuweilen Ihre Augen zu diesem Manne hindrehten – aber was begreift solch ein Mensch von Ihrer Art zu sein und zu flirten? Nichts!«
»Nun? Weshalb hat er denn also seine Untat begangen?«
»Weil er Mareile haben wollte und weil Mareile ihm widerstrebte!«
»Und weshalb verfolgte er mich im Walde?«
»Weil er bemerkte, daß er beobachtet wurde! Ja, ob der Mann auch in diesem Augenblick der wildesten Erregung ohne böses Vorhaben in Hinsicht auf Sie war, liebe Kathrin, das will ich nicht ausdenken und will es dahingestellt sein lassen! Aber daß er es vorher war, in all den Monaten, daran glaube ich nicht.«
»Nikola, jetzt will ich dir noch ein Porzellanpantöffelchen aus dem Warenhaus in Insterburg schenken, denn deine Theorie macht mich natürlich sehr glücklich – wenn du mir eine heikle Frage beantwortest, die ich nur sehr ungern stelle: Wenn er sie ›haben‹ wollte, wie du dich ausdrücktest, weshalb hatte er sie dann nicht?«
»Ja, gehen denn die Dinge in der Welt so einfach zu – zumal in der Welt des Verbrechens, Kathrin? Ein Brigant erwürgt einen Menschen, er hat die Hand an seiner Kehle, in seinem Hirn ist keine Erwägung mehr, keine menschliche Vernunft noch menschliche Sittlichkeit, nur die rote Flamme der unerschaffenen Welt züngelt in ihm, nur jenes Chaos, das nach dem antiken Menschen im Tiere oder im tierischen Menschen waltet und das da ›Maßlosigkeit‹ heißt. Nun aber trifft auf die Netzhaut seines Auges das Bild eines dritten Menschen, der zugegen ist. Allmählich begreift er seinen Zustand und den Zustand jener Welt, die er verlassen hat – ist da nicht vielerlei, ist da nicht alles möglich in der Seele des Verbrechers? Vielleicht, daß nun, da er Sie erblickte und Sie begriff, seine Begierde sich verwirrte und seine Begierde wechselte – vielleicht –«
»Gut! Glissons, Nikola! Das alles begreife ich … Aber er ging doch nun, nachdem er hier vor dem Schloß von seiner Verfolgung abstehen mußte, zu jenem Mädchen zurück. Nun also steht er wiederum vor der armen Mareile. Was meinst du nun: war er jetzt wohl voller Scheu und Ehrerbietung vor dem menschlichen Leichnam? War die allgemeine Begierde ihm entsunken? Überkam ihn jetzt das Grauen und die Reue?«
Keyserling schüttelte wiederholt den Kopf, mit allen Zeichen der Verwunderung. »Aber, liebe Kathrin, wissen Sie denn das nicht? Die Fußspuren auf der morastigen Wiese bezeugten doch einwandfrei, daß er gar nicht zu dem Ort seiner Untat zurückgekehrt ist!«
»Wie? Er ist nicht zu Mareile zurückgekehrt? Aber wohin ist er denn gegangen?«
»Ja, wissen Sie denn das nicht?« fragte Keyserling mit äußerstem Erstaunen. »Hat man Ihnen denn gar nichts erzählt?«
»Nichts,« entgegnete Kathrin, »denn ich habe mir nichts erzählen lassen. Was also?«
»Daß er einige Zeit später mitten durch alle Menschen, die ums Feuer tanzten, hindurchgegangen ist, ganz langsam und ohne eine Spur von Erregung? Daß er so zu seinem Hause gelangte, wo er in aller Ruhe die ihm notwendigen Dinge in sein Bündel schnürte, seine Jagdflinte schulterte und den Ranzen umschnallte und wiederum in aller Gemächlichkeit den Umkreis der Feuerstelle passierte, worauf er in der Richtung nach dem Eidegrunde hin entschwand?«
Diese Nachricht machte einen ganz ungeheuren Eindruck auf Frau von Hanka, und sie war nicht imstande, die Erregung zu verbergen, die sich ihrer bemächtigt hatte.
»Was bringt Sie denn so außer Fassung, liebe Kathrin?« fragte Keyserling, ganz überrascht von der Wirkung seiner Mitteilung. »Erschüttert Sie seine Kühnheit? Oder vielmehr seine Sorglosigkeit – denn wie konnte er annehmen, daß Sie zwei Stunden lang Ihr Bewußtsein verlieren würden?«
Frau von Hanka antwortete nicht. Sie versank in Grübeleien. Nervös nagte sie an ihrer Lippe. Ihre Augen schweiften unstet umher.
Dann lenkte sie das Gespräch auf andere Dinge. Als Keyserling sich bald darauf erhob, trennte sie sich von ihm mit einem freundschaftlichen Händedruck, doch mit gänzlich zerstreuter Miene.