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Verdrossen, dumpf und schläfrig hatte der Hirt seine Jugend am Abhang der Sabinerberge verbracht. Wachte er am Mittag auf, so war sein Kopf schwer geworden vom Summen der unermüdlichen Bienen und vom Duft der Minze, den die Campagna entsandte. In der Ferne zeigte schwebend der Dom der Christenheit seine gewitterträchtige Kuppel, während ihm zu Füßen die Aquädukte im Verlangen nach jenem Naß erzitterten, das sie dereinst in rauschenden Röhren zur Stadt hinübergeleitet hatten. Die Via Appia ihm zur Seite warf ihre schlaffen Staubwolken gleichmäßig gegen die Grabmäler hin, aus deren Steinritzen verblassende Schafe rupfend sich ihre Nahrung holten, wie die Geister längst entschwundener Toten zum Mahle der Vergessenheit. In der Mittagsstille und Mittagsschwüle am Abhang des Gebirges erschrak der Knabe. Es war der uralte panische Schrecken des Hirten, der unter dem Schatten der Eiche und Olive seine Scham entblößt und seine Kraft dahingegeben hatte. Sank die Dämmerung, so hörte er die langgezogenen Rufe der andern Hirten, die in den Triften ihm zu Häupten und ihm zu Füßen ihre Herden weideten. In ihren Gesängen waren Worte, die niemand vom Menschengeschlechte mehr verstand, sabellische und oskische Laute, älter als die Gräber der Ebene, verwitterter als ihre Aquädukte. Im Schwarm der Leuchtkäfer, die taktmäßig ihre Lichter zeigten und löschten, trieb Mario die Herde ins Dorf, begleitet von den Pfiffen der Maulwürfe unten in der Erde und vom letzten Schrei des Campagna-Adlers hoch über seinem Kopfe.
Daheim angelangt, stillte er seinen Durst mit Wein und Ziegenmilch, seinen Hunger mit Kräutern und Teigwaren, sein Sprechbedürfnis mit wenigen Worten wie: Schur, Stab und Tränke, Gras, Quelle, Minze, Schatten und Stall. Rauh und traumlos schlief er im Bette mit den Geschwistern, die sich scheu vor seinen gewaltigen Gliedern an den Seiten und in den Ecken duckten, bis er kurz vor Sonnenaufgang die Herde wiederum taleinwärts hinuntertrieb, barfüßig, mit einem Hemd bekleidet und mit einer Hose, die ein Fetzen war.
Da er schön war, kamen Mädchen, ihn zu besuchen. Schmeichelnd näherten sie sich seiner Lagerstätte, schmeichelnd riefen sie von weitem ihn an wie ein gefährliches Tier: » Mario! Sono io!« Sie sahen seine schönen, locker der Erde hingeschmiegten Schenkel und seine kaum bedeckte Brust. Er scheuchte sie mit Steinwürfen davon. Sie hatten ihm zugesehen, wie er seinen Hund gestraft oder ein Schaf, die vier Läufe in der Faust, im Kreise einhergewirbelt hatte. Sie sagten von ihm, daß er böse sei. Die Kameraden mieden ihn. Er war stärker als sie alle, und er brachte diese Kraft zur Anwendung, wo immer er konnte, sinnlos zumeist, zerstörend und mit Lust an der Grausamkeit.
Warum war er so? Warum so verdrossen und finster inmitten einer heiteren und fröhlich lärmenden Jugend? Sein Vater, seine Mutter, seine Geschwister waren nicht anders und nicht ärmer als die Nachbarn. Er trank nicht schlechteren Wein als sie, er aß nicht schlechteres Brot. Menschen, die in schöneren Häusern als diesen wohnten, kannte er nicht; von ihnen wußte er nichts. Dennoch hatte er Schicksalshaß. Er haßte sein eigenes, und er haßte das Sein der andern. Die Tiere aber hielten sich in Furcht und Liebe nah an seinem Knie. Seine Stärke gab ihnen Schutz, die fetteste Weide und die klarste Tränke.
Er hatte Begierden, die allen geheimnisvoll waren. Wo immer es anging, tauchte er seinen Leib ins Wasser. Regungslos stand er lange Zeit unter dem Wasserfall, so starr, als sei er Gestein neben Gestein geworden. Seine Weidestätten suchte er bei einem Quell, in den er stundenlang die Füße oder die Hände hängen ließ. Oftmals am Tage benetzte er sein Gesicht und sein Haar mit Wasser. Jegliche Art von Kleidern verabscheute er. Wenn es nur irgend möglich war, blieb er nackt oder halbnackt. Auch wußten die Hirtenknaben, die ihn in der Einsamkeit beobachtet hatten, daheim zu berichten, daß er die Hälfte eines Tages völlig ohne Bewegung an einen Baum gelehnt dastehe oder im Grase liege. Seinem Körper entströme dann eine Eiseskälte, und langsam werde die Haut seines Leibes schneebleich. Von diesem Zustand wisse er selber nichts; denn es kröchen ungestört Käfer über sein Gesicht dahin, und man könne dicht neben seinem Ohr mit der Peitsche knallen oder ein Geschrei erheben, das einen Wolf verscheuchen würde – nichts davon vernehme er. Gewiß sei dann der Teufel zum Besuche zu ihm gekommen, und er lausche seinen Einflüsterungen. Aber dergleichen Fabeln wurden von verständigen Leuten im Dorfe nicht geglaubt.
Hätte Mario vor hundert Jahren gelebt, so wäre er » alla macchia« gegangen, in den Busch, um ein Brigant zu werden, wie seine Vorfahren es gewesen waren. So aber erfaßte ihn der Strom der Auswanderung, den das übervölkerte Land zu entsenden pflegte.
Er arbeitete einige Wochen in der Gemeinschaft vieler Stammesgenossen in den lothringischen Erzgruben nahe vor Metz. Verwundert und zornig starrte er in das nächtliche Feuer der Hochöfen. Roheisen und Kohle zu schaufeln behagte ihm nicht. Er lief davon, er wanderte durch Luxemburg nach Belgien. In der Nähe von Gent nahm er auf der Besitzung eines flämischen Grafen eine Stellung als Kuhhirt an. Wenn er nun, umgeben von gewichtigen Rindern, an einem der Kanäle lag, die das Land in geometrische Abschnitte zerteilten, vor seinen Augen die Uhr der Kathedrale von St. Bavo, auf welche der Kanal geradeswegs hinzuweisen schien, so glaubte er, der Hölle entronnen zu sein. Daß es eine Hölle auf Erden gab, von Menschen geschaffen und geleitet, machte ihn lebensfeindlicher noch, als er gewesen war.
Jedoch nicht blieb er fernerhin unempfindlich, wenn die fetten, glatthäutigen und weißblonden Weiber der flämischen Ebene seine Zuneigung suchten. Bald verging ihm keine der hellen Nächte ohne ihre Gesellschaft. Alsbald begann ein großer Name ihm vorauszugehen. Die Mädchen der benachbarten Dörfer kamen, später die Dirnen aus Gent, dann die Kleinbürgersfrauen dieser sinnesfrohen und schwelgerischen Stadt. Viele schickte er fort, mit verächtlichen Ausrufen. Jetzt waren es die Worte der Verspottung, des Hohnes und der Bedrohung, die er zuerst, vor allem gelernt hatte.
Einige Monate nachdem der Krieg in das Land getragen worden war, stand der Sabiner vor einem preußischen Kavallerieoffizier, der erstaunt die Pracht dieses Leibes und darüber das finstere, blauschwarze und gelbe Gesicht betrachtete. Der Offizier seufzte. Solch ein Raubtier dem Kriege nutzbar machen zu können! Ob er nach Italien zurück wolle? »Nein!« antwortete der Hirt. – Ob er Lust habe, in Berlin zu arbeiten? – Das sei ihm gleichgültig.
An den Grenzen des Stadtgebietes von Berlin wurde eine große Molkerei betrieben, in der Mario eine gutbezahlte Stellung erhielt. Berlin gefiel ihm, doch als er im nächsten Mai nach der Kriegserklärung seines Landes an die Mittelmächte mit andern, die zurückgeblieben waren, in ein Konzentrationslager eingesperrt wurde, begann er zu toben. Der Feldwebel dieses Lagers hatte etwas von dem »heißen Blut« der südländischen Menschen, von Brigantentum und Vendetta gehört. Er fürchtete, dereinst erstochen zu werden; zumal Marios Blicke und Körperkraft fürchtete er, und er bewunderte die Macht, die der Sabiner über die Weiber ausübte. Er befreundete sich mit ihm. Der Hirt genoß Vorrechte, die ihm niemand im Lager zu bestreiten wagte. Schließlich wurde auf Betreiben des Feldwebels den Anforderungen der Molkerei stattgegeben, man erklärte den Italiener für politisch zuverlässig, und man gab ihn frei.
Der Zusammenbruch seines Gastvolkes begeisterte ihn. Er geriet in öffentliche Zustände, die seine Seele weiteten. Mit andern aus dem Osten der Stadt vereinigte er sich zu gemeinsamen Raubzügen, nachdem der tagsüber mit Sorgfalt seinen Pflichten obgelegen hatte. Großangelegte Einbrüche und Raubzüge wurden geplant und ausgeführt. Er war beliebt, denn er war großmütig, bei der Verteilung, der Beute des Gewinnes völlig mißachtend. Was suchte, was erstrebte er in alledem? Reichtum? Macht? Einen Sprung vorwärts in der gesellschaftlichen Staffelung des Daseins? Noch immer war ihm das Leben der oberen Klassen so fern und fremd, wie es ihm in der Heimat gewesen war. Dort hatte man ihm Geheimnisvolles von dem Treiben der Heiden in ihren Bädern erzählt, deren zerspaltenes Steinwerk an klaren Tagen vor sein Auge trat. Nicht näher, als dieses Volk in den Thermen gelebt hatte, lebten ihm nun die Reichen seiner Epoche. Er beneidete sie nicht. Er wollte ihr Geld nicht und nicht ihre Art, sich zu vergnügen. Nur ihre Frauen erregten zuweilen eine Begierde, ihnen nahezukommen. Es konnte nicht fehlen, daß zuweilen auf den Straßen diese Frauen schnelle, verwunderte oder erschreckte Blicke auf diese bedrohlich sich ausbreitende Gestalt richteten, auf diese herakleischen Schultern, auf diese Hüften eines jungen Bacchus. Der Hirt bemerkte es. »So sind sie denn also alle von einer Art«, sprach er mit Verachtung vor sich hin. Fürs erste aber ließ er noch davon ab, ihnen weiterhin Beachtung zu schenken. Was also war der Antrieb zu seinem Tun und Trachten? Warum schweifte er in den Nächten raubtierhaft mit jenen Kameraden umher, die von der Leidenschaft nach dem Geld, nach der Macht und nach dem Abenteuer getrieben wurden? Nichts wollte er, so gärte es dunkel, wild und wirr in seiner Seele, nichts als das Böse um seiner selbst willen! Und Rache für den Zwang, von jeher so und nicht anders denken, fühlen und handeln zu können, Rache an der Begrenztheit und unveränderlichen Bestimmtheit seines Wesens!
Eines Tages warf man ihn ins Gefängnis. Aus der Nachbarschaft hatte ein Weib, das bisher dem Manne eine treue Frau, den Kindern eine gütige und besorgte Mutter gewesen war, auf dem Polizeiamt angegeben, der Hirt habe sie mit einer »magnetischen Kraft« veranlaßt, zu ihm zu kommen. Dort habe er sie drei Tage lang unter furchtbaren Bedrohungen ihres Lebens zurückgehalten. Am Abend des dritten Tages sei er plötzlich von einem »Starrkrampf« befallen worden. Er habe lange Zeit bewußtlos quer über dem Fußboden der Kammer gelegen, mit offenen Augen, wie ein toter Mann. Da sei sie ihm voller Grauen entflohen. Am Tag der Verhandlung widerrief das Weib seine Aussage. Mit beredtem Eifer war es darauf bedacht, sich selber als hysterisch und lügnerisch zu belasten. Unter dem Gelächter der Zuhörer wurde der Hirt freigesprochen, der den Gerichtssaal mit einer Bewegung des Unmutes verließe als schleudere er ein Löwenfell von den Schultern. Am Abend stand diese Frau wieder vor seiner Tür. Er gab ihr den Weg frei, mit einem Blick in den Augen, der sie in den Knien zusammenbrechen ließ. Sie ist späterhin zugrunde gegangen.
Bei einem Kaufe auf dem Rindermarkt begegnete der Hirt dem Grafen Nikola Keyserling. Keyserling, frappiert von seiner Gestalt und Art, die das Mittelmaß zu überragen schienen, musterte ihn lange. Er begann ein Gespräch mit ihm. Es machte Eindruck auf ihn, zu erfahren, daß der Hirt auf jenen Sabinerbergen beheimatet war, die der Graf dereinst mit den herrlichsten Freunden der Jugend in einem goldenen Rausche durchwandert hatte. Der Hirt, den die Monate im Untersuchungsgefängnis großstadtmüde gemacht hatten, willigte ein, den gesamten Viehbestand auf Herbstfelde als »Oberschweizer« zu übernehmen. Einige Tage später trat er dort seine Stellung an.
Frau von Hanka lag an einem heißen Junimittag inmitten hoher Pflanzen an jener Quelle, die das Gutsgebiet durchströmte. Das heitere und helle Wasser führte von der Mahd der Wiesen duftloses Heu mit sich fort, auch gelbe und blaue Blumen, die das Gefäll an den Abhängen des Baches mitgerissen oder spielende und träumende Kinder hineingeworfen hatten. Am andern Ufer liefen die Zwillinge nackt, mit gleißenden Körpern durch die dort noch ungeschnittenen Wiesen, wobei sie ein Geschrei vollführten, das einen Auerochsen zornig gemacht hätte. Sie schossen Purzelbäume, und sie rissen sich an den Haaren, so daß die Blumenkränze von ihren Stirnen stoben; dann sprengten sie Hand in Hand ins Wasser, um auf verrenkten Zehen den goldgrünen Sand des Bachgrundes ans Licht zu heben.
Frau von Hanka stand auf … »Kinder, taucht doch unter! Taucht doch unter!« rief sie, und sie glitt vor Lachen fast selber in den Bach, wie sie den Zwillingen zusah, die sich gegenseitig duckten, sehr behutsam, sehr feige und mit großartigen Erläuterungen.
»Lauft nach Hause! Schnell in die Betten!«
Die Kinder stürmten davon, schon nach zehn Schritten von Luft und Sonne getrocknet und gedörrt.
Frau von Hanka nahm ihr Buch. Sie wollte flußabwärts zu größerer Einsamkeit gelangen. Es hatte sie nicht in dem kühlen Hause gelitten, denn sie liebte die Sonnenglut. Sie schlief niemals nach dem Mittagsmahle. Dies war für sie die Stunde einsamen und lustvollen Umherschweifens. Zu köstlich war der Stoff des Lebens, allzu wertvoll jede seiner Maschen, um darüber einzuschlummern wie die trauernde Penelope! Nicht den Tag an den Schlaf verschwenden und nur das Notwendigste der Nacht!
Auf Herbstfelde aber schlief um diese Stunde jede Kreatur. Die Knechte und die Mägde lagen auf dem frisch geschnittenen Heu, in ihren Kammern, auf Leiterwagen oder Bänken, wo gerade ein schattiger Platz sich bot. Das Vieh in den Ställen gab keinen Laut, die Blumen in den Beeten starrten betäubt zum Himmel hinauf, und selbst die summenden Insekten ließen die unermüdlichen Schwingen häufiger ruhen.
Frau von Hanka durchquerte mit der Quelle ein Wäldchen aus Birken. Wo das Wasser eine neue Wiese durchströmte, vor einem verlassenen Brückenstege standen Schilf und Weide. Dort ließ die Wandernde sich nieder.
Ihr Haar, im Nacken unordentlich zusammengeknotet, hatte jetzt im Sonnenlichte einen rötlichbraunen Schimmer. Sie lag in ihrem leichten Sommerkleide bäuchlings wie ein Schulmädchen auf dem Wiesengrunde, das Kinn in die Hände gestützt, umgeben von Schilf und Weide, und sah dem treibenden Wasser zu. Wie bemüht es sich zeigte inmitten der Stille und des Stillstandes! Wie tätig! Welch ein freudevoller und sanfter Eifer! Wie vollkommen durch die seitliche Begrenzung seiner Form und durch das Formlos-Unendliche seines Vorwärtsdringens! Wie fruchtbar und immer-frisch sein Stoff! Wie musisch sein Laut! Wenn es weinte, klang es dahin wie Kindesweinen …
Frau von Hanka redete die Quelle an. »Du Engel!« sagte sie.
Sie war wohlgemut! Julius war aus der Stadt entwichen, auch war es ihr gelungen, Marie Ursel für mehrere Wochen aus den Verliesen des Wahnsinns zu befreien. Sie hatte den Mann, den Bürgen und Beschützer ihres untadeligen Lebens, sie hatte Marie Ursel und Keyserling, deren Gesellschaft sie über alles liebte. Die Zwillinge gediehen, und mochte auch Stephan zuweilen von rätselhaften und düsteren Stimmungen befallen werden, so gab seine Gesundheit doch keinen Anlaß zu Befürchtungen – das Schicksal war voller Gnaden, wie stets!
Frau von Hanka lächelte, während sie in das Wasser blickte, in dem sich ihr Gesicht flimmernd malte.
»Niemand weiß es, daß ich zuweilen träume, wach und mit offenen Augen, wie ein Hase im Feld. Man hat mich verschleppt! Ich bin eine Beute der Räuber! Ich gehe in Lumpen gekleidet, und ich koche ihr Mahl, und ich fege ihr Haus, und das Feuer im Herd versengt mir die Wimpern. Tagsüber bin ich allein. Aber wenn sie abends zurückkehren, mit Beute beladen und mit Menschen, deren gefesselte Handgelenke um Gnade flehen, knie auch ich demütig auf der Schwelle und harre ihrer Befehle. Ich jage zurück in die Hütte, alles nach ihrem Wunsch zu bereiten. Und in den Nächten bin ich ihr Weib. Ich bin die Geliebte von zehn, von zwanzig Bösewichtern. Aber eines Abends töte ich den einen unter ihnen, der meinen Haß erregte. Ein Strafgericht ergeht, ich werde einen Tag lang, angebunden an einen Baum, der Sonne, den Qualen des Durstes, dem Stich der Insekten ausgesetzt. Wie sie zurückkehren, binden sie mich los, tobend vor Freude, daß ich entsühnt wurde. Ihre wilden Liebkosungen zerreißen mich fast, die ich ohnmächtig in ihren Armen liege!
Frau von Hanka seufzte bekümmert.
»Diese Phantasien sind allerschlechtester Art im zwanzigsten Jahrhundert – ich weiß es! Aber vor achtzig Jahren noch hätte mich zum mindesten ein großer Mann verstanden: Stendhal! Mein Leben ist cant, mein Traum brigantaggio!«
Frau von Hanka zerbiß eine Blume zwischen ihren Zähnen.
»Aus diesem, wie sie sagen, größten aller Kriege sind die Männer meiner Zeit zwar nicht als Schwächlinge, aber empfindsamer zurückgekommen, als sie es je zuvor gewesen waren. Welch eine Generation von Tänzern, von sportlich Trainierten, von geduldigen und in sich gekehrten Arbeitsmenschen! Wenn meinem Mann ein Gegner zu stark wurde, vernichtet er ihn? Er nimmt ihn zum Bundesgenossen, er geht eine Vereinigung mit ihm ein! Nikola Keyserling, dem sie das Lebendige um ihn herum getötet haben, verbirgt er sich wohl mit Dolch und Patrone in den Städten seiner Heimat, um sich zu rächen? Still auf dem Lande verrichtet er sein Amt, und er liebt eine Frau, von der er weiß, daß er sie nie erringen wird. Herr von Jaeger aber tobt gegen die Wände seines Hauses an! Wo sind noch Männer aus den großen Jahrhunderten Europas? Wahrscheinlich leben sie auf einem andern Planeten oder, was im zwanzigsten Jahrhundert dasselbe ist, in einem andern Stadtviertel wie ich!‹
Frau von Hanka lehnte die Wange gegen den zurückgesunkenen Arm. Seitwärts blinzelte sie zwischen den Weidensträuchern dem Wasser zu.
Zerstreut blieb ihr Blick an einem Umrisse haften, den sie sich nicht sogleich zu deuten vermochte. Dann, ganz langsam, spürte sie eine Eiseskälte an den Wurzeln ihrer Haare. Denn wenige Schritte von ihr entfernt lag ein Mann, zurückgelehnt gegen den Stamm einer Weide, in der Haltung des schlafenden Dionysos. Er war mit einer Kniehose und mit einem rotgestreiften Hemd bekleidet, das ihm über der faunisch behaarten Brust offenstand. Der Hals und die Arme waren entblößt, so die Beine von den Knien abwärts.
Schlief er? Waren seine Augen nur listig und halb von den Lidern bedeckt? Sah er ihr zu? Mit keinem Laut und keiner Bewegung bekundete Frau von Hanka ihre Entdeckung. Sie ihrerseits zeigte nun List. Gleichgültig ließ sie die Blicke abgleiten, als habe sie nichts von jenem wahrgenommen, der dort wie eine furchtbare Drohung im Schilfe lag – er, den sie sogleich erkannt hatte!
Nein, er schlief! Und Frau von Hankas Augen kehrten beruhigter zu ihm zurück. Sie richtete behutsam sich auf.
Sie sah seine Füße, die im Schatten noch einige Tropfen der Quelle bewahrten, in der er gebadet hatte. Sein Bad in diesem Wasser, mußte es nicht gewesen sein, als habe Neptun selber sich aus dem Ozeane emporgetaucht, um seinen Leib mit dem Glanz dieser Quelle zu salben? Welch ein Mann! So waren die Heroen der Vorzeit, die nach dem Tode zu gewaltigen Sternbildern erhoben wurden. Welch eine böse Kraft und welch drohende Gewalt des Leibes! Wieviel vernichtender Wille noch in diesen gelösten und fast trunkenen Gliedern! Und doch, welch eine große und verwirrende Schönheit in diesem schönen Manne!
Frau von Hanka war im Begriff, sich wie ein Hindumädchen davonzuschleichen, das den Tiger im Rohr belauschte und einige Zeit lang in seinen Anblick sich verloren hat.
Da aber begann der Mann im Schilfe sich zu regen und etwas Unverständliches zu sprechen oder halb zu singen. Dann wurde sein Singen deutlich: es war der uralte sabellische Einsamkeitsgesang der auf den Bergen zwischen Eiche und Olive umherziehenden Hirten …
Frau von Hanka errötete wie nie zuvor in ihrem Leben. So hatte er sie denn betrogen und überlistet! Es konnte ihm nicht verborgen geblieben sein, wie lange ihr Blick in Betrachtung auf ihm geruht hatte. Doch sogleich gewann sie ihre Fassung zurück.
Der Hirt, immer dahinsingend, blieb im Schilfe verborgen. Aber Frau von Hanka bemerkte, wie scharf er sie von dorther musterte.
Sie begrüßte ihn liebenswürdig. Sie sagte: »Ich wollte Sie in Ihrer Mittagsruhe nicht stören …«
Der Hirt brach sein Lied ab. Er sah ihr frech in die Augen.
Frau von Hanka spielte ihr Spiel.
»Signora? – Oh! Jetzt erkenne ich Sie! Sie sind der Hirt, der mich immer so böse ansieht und der niemals grüßt.«
Der Hirt richtete einen strengen Blick auf diesen Mund, der so leicht die Worte formte. »Warum – grüßen?« fragte er mit ungelenker Zunge.
»Es würde mir soviel Freude machen, im hohen Norden zuweilen › Buona sera‹ oder › Buona notte‹ zu hören. Es müßte so hübsch klingen auf diesem deutschen Gutshof.« Sie schlang die Arme um die hochgezogenen Knie. »Die Mütze dabei abzunehmen, würde ich Ihnen gern ersparen, das ist natürlich schwieriger. Übrigens, ich habe das beobachtet: Sie tragen ja niemals eine Mütze, auch wenn es regnet nicht.«
Der Hirt deutete mit dem Kopf zum Gutshof hin. »Da sind genug – die ziehen die Mütze vor Ihnen ab. – Was wollen Sie von mir?«
Frau Julius von Hanka lachte. »Nichts!« sagte sie, und sie begann in ihrem Buche zu lesen.
Aber nach kurzer Zeit warf sie ihm lächelnd und prüfend einen neuen Blick zu. »Sollten Ihre Ochsen und Kühe jetzt nicht auf den Gebieter warten? Oder schlafen die jetzt auch wie alle andern?«
Der Hirt dehnte die Glieder. Unabsichtlich, so schien es, und fast schläfrig warf er sich nach jener Richtung hin, wo Frau von Hanka saß. Nun war er ganz sichtbar geworden. Er lag im Grase, die Brust noch im Schilf, mit weit ausgestreckten Beinen, in seinem Mund an einer Binse saugend.
»Alle schlafen. Nur Sie nicht und ich.«
Dieses freche »Sie und ich« erfüllte die mittägliche Stille des Landes wie mit dem finsteren Schall der Tuben. Frau von Hanka erschrak. Sie saß hier in der Einsamkeit neben diesem Manne, der oft während der vergangenen Wochen ihr begegnet, mit dem sie geheimnisvoll fragende, tastende, verwunderte und immer erregende Blicke getauscht, an den sie mit Widerstreben und mit Lust viel gedacht hatte. Sie richtete einen dunklen und zagenden Blick auf ihn hin.
»Sie haben immer viel Arbeit, nicht wahr?« fragte sie freundlich lächelnd, und ihre Augen hafteten an seinem Halse.
»Immer hat man zu schaffen.«
»Ja … manchmal wache ich des Morgens um fünf auf. Da sehe ich Sie über den Hof gehen.«
Der Hirt lag jetzt mit aufgestütztem Arme seitwärts im Grase, die Hüfte leicht gebogen, den Halm im Mundwinkel. Er betrachtete Frau von Hanka mit einem geistvoll sinnenden Hohne. »Ja … in den heißen Nächten – kommt schwer der Schlaf …«
Frau von Hanka zeigte lachend und beinahe roh ihre prächtigen Zähne. »Zu mir kommt er wundervoll leicht!«
Der Mann ließ die Augen verächtlich zum Horizont schweifen. Er lag dort am Boden wie der Hirt, der von den thrakischen Bergen in die früheste Dämmerung der Sage hinunterblickt.
Frau von Hanka sah ihn an. Sie spürte den Duft aus Honig, Gras und Holz dieses Körpers.
Ihr Blut stürmte mit ihr fort. Sie trug ein Verlangen danach, diesem Manne jetzt etwas zu sagen, das außerhalb jeder Möglichkeit läge – etwas, das die streng bewahrte Würde eines dreißigjährigen Frauenlebens verletzte! Ein anderer Mund, ein anderes Blut sollten sprechen, nicht sie, nicht Kathrin von Hanka!
Der Hirt richtete die Blicke auf ihre Brust. Er, der Vogelsteller und Pfadaufspürer, allzu gut kannte er diese Zeichen! Allzu vertraut war ihm der Takt weiblicher Atemzüge, das Starre, fast Totenhafte in den Augen und diese Nüstern, die sich bewegten wie die Flügel eines Vogels, dessen Kraft im Garn erlahmt.
»Nein – schwer kommt Ihnen der Schlaf – in der heißen Nacht. Da sind Sie schon früh am Fenster – und atmen –«
Er richtete sich horchend auf, als wolle er fragen: Was wirst du mir jetzt noch antworten können?
Frau von Hanka lächelte wie eine Dirne. »Ja! Sie haben recht! Manchmal macht es mir Vergnügen, den Aufbruch des Morgens zu beobachten … Wie das Vieh aus den Ställen getrieben wird und wie die Menschen hantieren und sich am Brunnen baden. Und wie alles Lebendige dann langsam wach wird …«
Der Hirt belauschte noch den Nachklang dieser Worte.
Dann stand er langsam auf, in den Gelenken sich dehnend, die Beine zu einem großen Schritte gespannt, die Hüften, die kaum noch bekleidet erschienen, biegend und drehend, stand auf wie ein Mann, der im Begriff ist, sein großes Werk zu vollbringen.
Wie Frau von Hanka jetzt zu ihm aufsah, der drohend und übermenschlich groß in den Wiesen stand, wie sie jetzt, nur einen Schritt von ihm entfernt, den honigartigen Geruch seines Leibes spürte, erschrak sie noch einmal, ja entsetzte sie sich bis zu den tiefsten Wurzeln ihres Wesens.
Doch sie war in hundert Gefahren des Sportes gestählt genug, um die Beherrschung nicht einzubüßen. Sie blinzelte gegen die Sonne zu diesem Manne hinauf.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Gesellschaft geleistet haben.« Und sie verabschiedete ihn mit einem freundschaftlichen Kopfnicken.
Dann kehrte sie sich von ihm ab. Sie nahm ihr Buch zur Hand. Sie begann gelassen zu lesen. Sie zeigte sich überzeugt davon, daß er längst weit von ihr fort war. Schon hatte sie sogar, so schien es, vergessen, daß er je hier gewesen war.
Mit Verwunderung, dann mit Zorn schielte der Hirt zu ihr hinab. Er wußte, daß er nach ihr nicht wie nach irgendeiner flämischen Dirne oder nach einer Stallmagd dieses Landes greifen durfte. Hätte sie ihn als Herrin zurückgewiesen, er hätte sich ihres Mundes bemächtigt. Hier aber war etwas eingetreten, was unverständlich und verletzend war. In seinem Innern tobte er, während er mit dem blutvollen Gesichte eines spätrömischen Imperators aus Barbarenstamme Frau von Hanka betrachtete. Dann ging er davon, stolz und gekränkt, mit einer dunklen Wut im Herzen.
Nach einigen Minuten erst wagte Frau von Hanka ihm nachzusehen. Dort, unter den Stämmen des Birkenwaldes, entschwand er jetzt, mit einer Bewegung seines Leibes, als gleite ihm von seinen Schultern ein Löwenfell.
Frau von Hanka tauchte ihre eiskalte Hand in das Quellwasser hinunter. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Der Teint ihres Gesichtes war grün und bleich geworden. Ihre Augen gingen unstet und wirr in der Runde umher, wie die Augen einer Wilden, die in der mittäglichen Stille vor der geister-erfüllten Landschaft ihres Dorfes Furcht empfindet.
Am Nachmittage trieb ein warmer, leidenschaftlich anmutender Wind die Menschen ins Freie. Große, unregelmäßig geformte Wolken zogen im Juniblau über die Baumwipfel hin, aus denen sich Raubvögel erhoben hatten, die sich mit seitlichen Flügelschlägen im Winde wie in einem blauen Bade wiegen ließen.
Man ging spazieren, zuerst wegelos in den Wäldern und Weiden einherstreifend, dann strebte man auf Frau von Hankas Vorschlag jenem Jagdschloß und Forsthaus am Schrillensee zu, das am Sonntag das Ziel vieler Ausflügler der Umgegend bildete, wochentags jedoch verlassen und düster seine Giebel in den schwarzschäumenden Fluten spiegelte.
Paarweise schritten sie durch einen breiten Waldweg: voran die Zwillinge, denen Frau von Hanka und Nikola Keyserling folgten; hinter diesen Marie Ursel und Julius; in geräumigem Abstande von allen Stephan und Marie Ursels zwölfjährige Schwester, Bettine, ein dunkelgelocktes, überschnell gewachsenes und eckig gestaltetes Kind von beinahe prinzenhaft altspanischer Haltung, mit dunklem Teint und mit unruhigen, oft wilden Augen unter der schmälsten Menschenstirn der Erde. Die Meute der Sky-Terriers, deren eifrige Pfoten sich in dem seidigen Pelzgehänge ihres Leibes verfingen, trabte von der Vor- zur Nachhut, umkreiste und umschnürte diese dahinwandernde Gesellschaft, als sei ihnen die Pflicht aufgegeben worden, für den Zusammenhalt aller Teile Sorge zu tragen.
»Du bist dumm, Bettine!« rief Stephan, und er riß zornig an einem Haselnußstrauch. »Natürlich kann ein Mensch kein Tier sein! Aber in jedem Menschen steckt eines drin, verstehst du das nicht? Unter seiner Haut, steckt es!«
»Aber ein Elefant zum Beispiel ist ja viel größer als ein Mensch!« erklärte das Mädchen gekränkt. »Wie kann denn also ein Elefant unter einer Menschenhaut stecken?«
Der Knabe sah kopfschüttelnd zu den Baumwipfeln hinauf. »Ach Gott,« rief er verzweifelt, »so meine ich doch das überhaupt gar nicht! Natürlich steckt nicht der große Elefant unter der Menschenhaut, sondern der kleine – der ganz winzig kleine Elefant.«
»Wie klein ist er denn?« fragte Bettine höhnisch.
Stephan zeigte es ihr mit zwei Fingern: »So.«
»Kann er denn fressen?« fragte das Mädchen höhnisch.
»Natürlich!«
»Und trampeln? Und mit dem Rüssel wackeln?«
»Natürlich!« rief Stephan heftig. »Er kann alles genau so wie der ganz große!«
Bettine dachte jetzt ernsthaft über die Sache nach. »Also, das verstehe ich nicht«, erklärte sie mit Bestimmtheit.
Stephan lächelte verächtlich. »Ich kenne alle Tiere, die da in den Menschen stecken!« Er wies hochmütig auf die Wandernden vor ihnen. »Denn abends, vor dem Einschlafen, kommen alle die Tiere von den Menschen, die ich kenne, an mein Bett und reden mit mir!«
Das Mädchen hatte jetzt rote Flecke auf den Backen. »So?« rief es erbittert. »Also reden können sie auch?«
»Natürlich können sie das! Das haben sie ja von den Menschen gelernt, in denen sie hausen.«
»Was für ein Tier haust denn also in mir?«
Stephan zog die Stirn angestrengt in Falten. »Du mußt einmal stehenbleiben«, sagte er.
Bettine blieb stehen.
»So! Die Arme mußt du an die Beine legen wie in der Turnstunde.«
Bettine gehorchte. Wie es nun starr und lange Zeit von Stephan gemustert wurde, bekam das Mädchen einen ganz sanftmütigen Ausdruck in das Gesicht. Die unruhigen Augen wurden gleichsam zahm und von Milde bedeckt wie von einer ganz feinen Haut.
Verwundert schüttelte der Knabe den Kopf.
»Das ist doch sonderbar!«
»Was denn?« fragte das Mädchen, ein wenig ängstlich, es könne ein ungünstiges Tier in ihm stecken, und es verblieb, um das Resultat nicht zu verschlechtern, in seiner steifen Haltung von Sanftmut und Ergebenheit, als werde es photographiert.
»Da ist immer nachts ein ganz falsches Tier von dir in mein Zimmer gekommen! Nämlich eine große schwarze Fliege! Jetzt sehe ich, daß der Eisvogel in dir steckt!«
»Eisvogel?« fragte das Mädchen mißtrauisch.
»Ja. Er nistet an Gewässern und hat einen gellenden Schrei.«
Bettine ging weiter, etwas enttäuscht.
»Was für ein Tier steckt denn in Marie Ursel?« fragte sie nach einer Pause.
»Ein Löwe«, erklärte Stephan sogleich und mit Begeisterung.
Mit dieser Antwort war Bettine einverstanden. »Und in deinem Vater?«
»Mein Vater?« wiederholte der Knabe zerstreut. »Mein Vater?« wiederholte er, schwermütig abirrend. »Höre einmal!« rief er plötzlich, und er schluckte vor Erregung. »Kennst du den großen Hirten in unsern Ställen? Weißt du, was in dem steckt?«
»Nun?« fragte das Mädchen ohne sonderliches Interesse.
»Ein Würgefalke!«
»Nun, und in deiner Mutter?«
Stephan erschrak. Er wurde blaß. Dann flüsterte er: »Von Mutti kommen drei Tiere an mein Bett, manchmal sogar vier! Ein Rappe, ein Hirsch, eine Taube und ein Wolf. Der Hirsch und die Taube sind gut Freund, aber mit dem Wolf und dem Rappen beißen und schlagen sie sich, oft bis zum Morgenrot.«
Julius nahm Marie Ursels Hand. »Es ist sonderbar, Marie Ursel! Wenn ich mit Kathrin rede, muß ich mich sehr bemühen, sie zu verstehen. Ja, eigentlich haben wir uns in diesem Frühjahr ganz abgewöhnt, viel miteinander zu sprechen. Denke dir, ich hatte oft in diesen Monaten mehr von Kathrin, wenn ich unser tägliches Telephongespräch von Berlin aus mit ihr führte, als wenn wir hier zusammen in Herbstfelde waren. Bei dir, Marie Ursel, begreife ich alles sogleich, denn alles liegt klar und einfach vor meiner Vernunft ausgebreitet.«
Marie Ursel lächelte. »Du vergißt aber, daß der Gegenstand unserer Gespräche eben doch stets Kathrin ist. Vielleicht suchst du nur deshalb eine Unterhaltung mit mir, Julius, weil du mit mir am besten über deine Frau sprechen kannst.«
»Du bist die Stille und die Klarheit, Marie Ursel. Kathrin aber ist viel Unruhe, oft Verwirrung und immer –«
»Du willst sagen: Und sie ist immer Reiz, nicht wahr?«
Julius von Hanka blickte düster und fast verlegen seitwärts in den Wald.
»Ja, immer Reiz! Aber man wird alt darüber, Marie Ursel, und dann zuweilen auch müde – müde von diesem Reiz, der stört und betäubt, der meine Ziele und Aufgaben oft verschleiert. Der Zeiger meines Ehemanometers schlägt allzu heftig aus. Diese Unruhe inmitten meiner Geschäfte und Verrichtungen, die mehr als in irgendeiner anderen Zeit Stetigkeit, Geistesfrische und Umsicht erfordern! Wird sie verreisen wollen? Wird sie Gäste haben? Wird sie« – Julius stöhnte ein wenig –, »wird sie lieben? Wird sie mich lieben, wo so viele, viele andere sie lieben? Steht irgendwo eine stärkere Macht für sie im Hintergrunde, als ich es ihr sein kann, der ich mit Logik und Sachlichkeit belastet bin?«
Marie Ursel legte beschwichtigend die Hand auf Julius' Arm. »Du bist heute ungerecht, weil Kathrin es in den letzten Tagen an Stetigkeit und liebevoller Einsicht vermissen läßt. Im allgemeinen hat doch nie ein Mann sich weniger zu beklagen gehabt als du. Oder bist du plötzlich alt geworden, Freund, und nimmst Kathrins Flirts ernst?«
»Flirts!« rief Julius unwillig und fast verächtlich aus. »Nicht das ist es, was mich besorgt macht! Nein, der Reiz ihrer Unruhe, die Ungewißheit ihres Daseins, das Irrationale ihrer weiblichen Seele, das ist es! Vielleicht sollte man doch nicht mit einer Frau verheiratet sein, die zwölf Jahre lang einen Reiz auszuüben vermag, der nun – eben, der ein wenig gefährlich wird mit der Zeit.«
»So gebe ich dir einen Rat, Julius. Ihr habt drei Kinder. Habet vier und habet fünf! Wenn der Wolf der Unruhe in Kathrin sich erhebt und nach blutigem Fleisch verlangt, dann stillt das Kind die Mutter! Vergiß das nicht.«
Betroffen blickte Julius in ihr lächelndes, ernsthaftes und bedachtsames Gesicht. »Du glaubst an solch blutige Begierde?«
Aber Marie Ursel lächelte nur und schüttelte den Kopf. –
Einige Schritte vor ihnen erzählte Nikola Keyserling: »In dem Jagdschloß am See, Kathrin, zu dem wir jetzt gehen, gibt es ein sonderbares Mädchen, die Tochter des Jagdmeisters, Mareile heißt sie. Ich weiß nicht, ob Sie sich ihrer noch erinnern, als sie ein Kind war?«
»Ich erinnere mich flüchtig«, entgegnete Frau von Hanka zerstreut.
»Dieses Mädchen ist von dem Fieber unserer Gegend ergriffen worden.«
Frau von Hankas Wange erzitterte. »Fieber unserer Gegend –?«
»Sie erkannte eines Tages die große Mission ihres Lebens darin, diese Gegend hier von dem Drachen zu befreien. Ich weiß nicht, wie diese Befreiung vor sich gehen soll – vermutlich so, daß das Ungetüm in einen Seraph verwandelt wird.«
»Sie sprechen von dem Hirten, Nikola?«
»Ja, von unserem Freunde. Aber ich fürchte, wie das so zu gehen pflegt, der Drache wird Mareile verschlingen und das bleiben, was er immer war: eine Bestie.«
Frau von Hanka schwieg eine Zeitlang. Dann sagte sie mit einem verwegenen Lächeln: »Ich bin neugierig auf diese Jungfrau. Aber ich wünsche ihr keinerlei Erfolg! Es wäre schade, wenn aus unserem schönen Bösewicht ein seraphischer Engel würde! Ich verlöre jeden Glauben an die Menschheit!«
»Dort liegt das Jagdschloß«, sagte Nikola Keyserling, und er deutete auf den See und auf die Bucht, in deren Waldesrändern einige Gebäude verstreut lagen.
»Aber noch sehe ich keinen seraphischen Engel über dem Dachfirst schweben«, erwiderte Frau von Hanka lächelnd.
Nachdem die kleine Gesellschaft von dem Jagdmeister und seiner Frau mit Ehrerbietung und Höflichkeit begrüßt worden war, hatte man dicht am See einige Tische zusammengerückt, auf denen in altertümlichem Porzellan der Berliner Manufaktur Milch und Kaffee, schwarzes Landbrot, Butter und Honig dargeboten wurden. Hier fand der südliche Wind keine Stätte mehr, hoch oben strich er dahin in den Wipfeln der Fichten, die er zuweilen mit seinem Wolkenschatten verdunkelte. Unten aber lag der See faltenlos mit schwarzen Lichtern in seinem ovalen Becken. An seinen Ufern hatte der Frühlingssturm einige Fichten geknickt, welche die Holzarbeiter erst im Herbste fortschaffen sollten. Mit schreckensvoller Biegung tauchten die ermatteten Kronen der zerbrochenen Stämme in den See. Auch ein Eichenstamm, der durch eine künstliche Gabel gestützt wurde, krümmte der Flut sich zu. Im morastigen Sumpf ihm zur Seite lag ein zerspaltener und mit Wasser hoch angefüllter Kahn. Wäre das Geflügel im Rohr nicht gewesen und in der Bucht die schönen Schwäne nicht, die mit häufigem Tauchen der Schnäbel auf die Gäste zuruderten, so hätte dieser See im Walde kein anderes Gefühl in der menschlichen Brust erweckt als das von Todeseinsamkeiten, Vernichtung und Vergänglichkeit. Obwohl es doch mancherlei Erfreuliches zu schmausen gab, so waren selbst die Kinder stille geworden, und fast bestürzt blickten ihre Augen über die unliebliche Natur zu den Ufersäumen hin.
»Erinnerst du dich noch an unsere Pineta am Adriatischen Meer?« fragte Kathrin ihren Mann.
»Ich denke oft daran«, erwiderte Julius mit Freundlichkeit.
Frau von Hanka erklärte die Landschaft: »Denkt euch einen meilenweiten Pinienwald, in dessen Dickicht die wilden Schweine hausen. Die Anwohner lassen ihre Pferde dort im Unterholz grasen, man sieht längs eines schnurgeraden Kanals Stuten und ihre Fohlen durch die Wälder streifen wie durch eine paradiesische Urlandschaft.«
»Das Sonderbarste aber ist das Rauschen der Pinien im Winde«, sagte Julius. »Es klingt, als sausten tausend Telegraphendrähte hoch über deinen Kopf hinweg.«
»Kein Gewächs auf Erden hat solche Musik in sich wie die Nadeln und Stämme des Pinienwaldes«, sagte Frau von Hanka, und sie sah wie in einen undeutbaren Traum gebannt vor sich hin. »Es ist, als sei jeder Baum dort eine Äolsharfe, durch deren Saiten ein Weltgeheimnis rauscht.«
Beklommen schwiegen Marie Ursel und Keyserling. Wie oft in der letzten Zeit die Freundin von südlichen Reisen erzählte, von Rom, von der Gräberstraße, von den Albaner und Sabiner Bergen! …
Frau von Hanka nahm Marie Ursels Arm. »Wir wollen das Haus ansehen.«
Es waren dereinst diese Gebäude von einem märkischen Frondeur errichtet worden, der aus dem Angesicht seines Souveräns, des zweiten der preußischen Könige, verbannt worden war. Die edle Kargheit hatte bei der Bildung dieses Jagdschlosses Geist und Hand des Baumeisters geleitet. Kein Zierat verführte das Auge, nichts war bestrickend als nur das vollkommene Maß in jedem Ding. Hier in der Wildnis hatte der Verbannte den Bären gejagt, der aus den polnischen Wäldern hervorgebrochen war, den Wolf, den Elch und den Hirsch.
»Das ist ja ein Vorläufer unseres Paretz!« rief Frau von Hanka, und sie deutete auf eine Tapete, die denen im Schloß der Königin Luise glich. An den Wänden hingen Jagdstücke mit monströsen Texten darunter und Stiche der Berliner Kirchen, Plätze und Straßen, der preußischen Grenzfestungen gegen Osten und der Topographien märkischer Landschaften. Möbel des siebzehnten, des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts standen gegen diese Wände gelehnt, doch keines, das störend gewesen wäre. Seit vier Generationen bewohnte die Jagdmeisterfamilie diese Räume, und kaum irgendein wesentliches Stück war nach der Biedermeierzeit zu dem alten Hausrat hinzuerworben worden.
»Wie wunderschön Sie alles imstande haben!« sagte Frau von Hanka zu der Frau des Jagdmeisters, die sie führte.
»Das gehört sich wohl so«, erwiderte diese mit einem fast hochmütigen Lächeln, und sie fuhr mit der Schürze über eine Kommode hin, obwohl es gar kein Stäubchen zu fegen gab. Sie glich einer Dame des preußischen Landadels mit ihrem von der Luft geröteten schmalen, kargen und sauberen Gesicht und mit dem straff zurückgekämmten blonden Haar.
Sie besuchten auch die unter dem Dach gelegene Waffenkammer des Jagdmeisters. Seine Sammlung von Damaszener Klingen, Morgensternen, Hellebarden und Dolchen aller Art war im ganzen Lande berühmt geworden. Frau von Hanka nahm ein italienisches Stilett mit einem Schildpattgriff in die Hand. Sie vollführte in der Luft einen Stich – mitten hinein in ein Herz! In welches? – Sie wußte es nicht … Verstört ließ sie die Waffe sinken und fallen.
Zum Schluß gelangten sie in die große Wirtsstube, die dereinst der Festsaal des Schlößchens gewesen war, zu welchem man von außen her durch eine hohe, mit Gardinen verhängte Fenstertür gelangte.
»Wie hübsch ist das!« rief Marie Ursel, die orangefarbenen Gasttische und Stühle und die schwarze, altertümliche Tapete an den Wänden mit dem orangefarbenen Blumenfries betrachtend.
»Mir scheint,« flüsterte Julius dem Grafen Keyserling zu, »unsere guten Jagdmeisters sind die letzten Preußen mit Geschmack.«
Plötzlich fingen sie alle zu lachen an. Denn über dem verwitterten Ledersofa in der Mitte der Wand hatten sie in einem goldenen Barockrahmen eine Photographie entdeckt.
»Kathrin und Julius!« rief Marie Ursel, und die Augen blitzten Julius von Hanka vergnügt an.
»Wahrhaftig!« rief Julius, und er stand Hand in Hand mit Kathrin vor dem Bilde, fast ein wenig gerührt, und alle lächelten.
Der monarchische Sinn der Hausbewohner hatte sich dereinst dieses Bild von der jungen Gutsherrschaft ausgebeten, als diese auf Herbstfelde den Einzug gehalten hatte. Nun hing es in der Wirtsstube wie das Bild eines Königspaares.
»Da waren Sie noch nicht lange verheiratet!« sagte die Frau des Jagdmeisters.
»… höchstens ein Jahr«, erwiderte Frau von Hanka zerstreut, und sie löste ihre Hand aus der ihres Mannes.
Sie trat hinaus in den Garten. Tief holte sie Atem. Die warme Luft im Hause hatte ihr das Gesicht und die Hände gefeuchtet. Irgend etwas bedrückte sie mit einer süßen Lust und Ahnung. Sie sehnte sich. Sie suchte lange nach ihren eigenen Wünschen. Dann kam ihr ahnungsvoll das Streben und Drängen zum Bewußtsein: daheim auf dem Schlosse wieder jenem Manne begegnen zu können, der wie ein schöner Dämon über den Hof dahinschritt oder mit einer unmutvollen Bewegung der Schultern in den Waldesrändern entschwand.
Jetzt aber ließ sie sich von den Zwillingen zum See hinziehen, die ihr entgegengelaufen waren, ihre Hände nahmen und von der geheimnisvollen Entdeckung eines ›Froschnestes‹ berichteten.
»Nun seht einmal, was es hier alles gibt!« rief Frau von Hanka, und sie lief mit den Zwillingen um die Wette und hatte alles vergessen, was sie bedrängte.
Nikola Keyserling sah ihr nach, wie sie auf ihren hohen Beinen mädchenhaft davonstürmte.
›Du überschönstes Geschöpf‹, dachte er, und er küßte im Geist jede Stapfe dieses Fußes, der gesund und ohne Fehl, mit wohlgestreckten Zehen, ungeduldig wie der Fuß einer Wilden, die Lederhülle des Schuhes ertrug.
Während Marie Ursel und Julius einen Kahn bestiegen, trat Nikola Keyserling in die Gaststube zurück, um sich mit dem Jagdmeister zu besprechen und gemeinsam mit ihm einige Rechnungen zu prüfen. Nachdem dieses Geschäft beendigt war, fragte er mit erzwungener Munterkeit den sorgenvollen Mann: »Warum läßt sich denn Mareile nicht blicken?«
»Sie ist ja in der Stadt.«
»Kommt sie einmal wieder nach Herbstfelde?«
Der Mann sah verdrossen und finster zur Seite. »Sie wollen ja auf dem Hofe Johannis feiern.«
Keyserling betrachtete das Gesicht des alten Mannes. ›Wie Mammutfleisch diese Haut‹, dachte er, und er empfand Mitleid.
»Hören Sie einmal, da fällt mir etwas ein. In der Johannisnacht, da springen doch hierzulande die Brautpaare durch das Feuer, um sich von allen bösen und giftigen Stoffen zu heilen.«
»Ja?« fragte der Jagdmeister mißtrauisch, er hob sein Büffelgesicht witternd in die Luft.
»Wenn die Mareile den Kerl dann nun einmal nicht aus dem Kopf bekommt, so lassen Sie sie doch heiraten!«
Der Alte fuhr böse auf. »Einen Kuhschweizer als Eidam, Herr Graf? Welsches Pack in meinem Hause? Ich danke.«
Keyserling schurrte ärgerlich mit dem Fuß. »Mein lieber Jagdmeister, der Mann ist Italiener, und die Italiener sind ein prachtvolles Volk. Die Enkel, die er Ihnen schenken würde – man hat Beispiele genug dafür auf dem Gut –, können sich mit unsrer Rasse hierzulande noch lange messen! Und was den Kuhschweizer anbetrifft, so avancieren wir ihn in der Stellung und im Gehalt. Ich brauche schon längst einen tüchtigen Mann für die Vorwerke Rokäten, Gisteritz und Scharnitz. Also!«
Der Jagdmeister stand zornig und erregt auf. »Ich bedanke mich bei Euer Erlaucht für solchen Familienzuwachs! Meinesgleichen stammt auch nicht aus dem Gemüsekeller! Wir leben hier seit einhundertzwanzig Jahren, und mein Schwiegervater war Deichvogt auf Schleswig –«
»Sie brauchen mir nicht auseinanderzusetzen, wer Sie sind«, unterbrach ihn Keyserling, und er war liebenswürdig, wie es einem Balten geziemt. »Ich kenne Sie, mein Herr Jagdmeister, und Ihre Frau und Ihre Kinder. Aber gerade deshalb, weil ich Achtung vor Ihnen allen empfinde, gebe ich Ihnen zu bedenken, ob nicht eine Heirat besser wäre als – als etwas anderes.«
Der Jagdmeister stand auf. Er schritt die lange Gaststube auf und ab.
»Für das andere, Herr Graf, bleibt mir die Flinte.«
»Die Flinte, die Flinte!« rief Keyserling gereizt. »Mit Mordwaffen schlichtet man doch keine Liebeleien!«
Der Jagdmeister richtete seine Augen, die eine Farbe, hatten, als seien sie draußen in den nebligen Wäldern von tausend Tagen verwaschen und gebleicht worden, starr und böse auf den Grafen.
» Solche Liebeleien schlichtet man nur mit der ›Mordwaffe‹, Herr Graf! Und vor einem Toten vergehen auch den wildesten Weibern die Begierden! Wenn das schönste Mannesbein verwest, da halten sie sich alle das Tuch vor den Mund! So ist das! So – und nicht anders!«
Er stampfte in seiner Büffelgangart durch den Raum, grimmig lachend und den Husten des Jägersmannes in die Luft stoßend. Er war ein gewaltiger alter Bursche, gehaßt von den Wilddieben, die er mit einem Blick entwaffnete, wenn sie auf seinen Anruf hin stehenblieben, oder die er niederknallte, wenn sie Widerstand leisteten. Pirschte er durch die fast endlosen Forsten seines Reviers dahin, das irische Setterpaar mit den samtweichen Ohren am Halfter, in der kalten Jahreszeit mit dichtem Fuchspelz bekleidet, einen eisigen Atem vor sich herblasend, so glich er einem einsiedlerischen, bösen Tier, das sich von der Herde getrennt hat.
»Der Fehler liegt ganz woanders, Herr Graf«, begann er murrend und grollend aufs neue. »Der Fehler liegt darin, daß Sie damals vor zwei Jahren und zuletzt im Frühjahr meinem Rate nicht gefolgt sind und den Welschen davongejagt haben! Da und nirgends anders liegt der Hase im Pfeffer!«
Keyserling betrachtete sinnend die Photographie des Hankaschen Ehepaares. Dann erwiderte er kühl: »Ich hatte gar keine Veranlassung, dem Manne zu kündigen, denn seine Leistungen waren mustergültig.«
»Mustergültig hat er die Weiber hierzulande beschlafen«, höhnte der Jagdmeister. »Das allerdings! Die Leistung macht ihm so schnell keiner nach!«
Keyserling stand auf, unangenehm berührt von dem Tone, mit dem der Jagdmeister sprach. Er hatte einen großen Widerwillen gegen derartige »Männergespräche« norddeutscher Provenienz.
»Ich fühle mich nicht veranlaßt, mich in das Privatleben der Leute hier auf Herbstfelde einzumischen.«
»Das ist sehr schade, daß Euer Erlaucht sich dazu nicht veranlaßt fühlen! Früher, zur Zeit meiner Väter, als hier im Schlosse noch alteingesessene Herrschaften regierten, pflegte man sich einzumischen! Und es war nicht der Schaden der Bevölkerung, wenn das geschah! Mir ist doch ein Stück deftiger Leibeigenschaft zehntausendmal lieber als Ihre demokratische Achtung vor dem ›Privatleben‹ der Leute! Das Volk hat kein Privatleben vor der Herrschaft! Und fragen Sie die Leute hier herum: das Volk will vor der Herrschaft gar kein Privatleben haben. So ist das! So – und nicht anders.«
Keyserling ging zur Tür: »Mein guter Jagdmeister, wenn Sie mit meinen Verwaltungsgrundsätzen nicht einverstanden sind, so empfehle ich Ihnen, die Stunde zu nutzen. Draußen steht Herr von Hanka! Tragen Sie Ihrem Herrn Ihre Beschwerde vor.«
Keyserling verließ den Saal. Aber der Jagdmeister drinnen, auch er ein Nervenopfer seiner Zeit, ließ sich schwer auf den Stuhl niederfallen, schlug mit der Faust auf den Tisch und bekam seinen gut bismärckischen Weinkrampf.
Keyserling seinerseits eilte zornig, mit gerötetem Gesicht und mit bebenden Schultern durch den Garten. Et zog seinen knabenhaften und eleganten Körper auf die kleinste Fläche zusammen: unausstehlich waren ihm derartige Kontroversen! So begegnete ihm Frau von Hanka, die mit Verwunderung ihre Hände zusammenschlug, wie sie ihn betrachtete.
»O Gott, o Gott! Was hat man denn meinem Nikola angetan?«
Keyserling lächelte ärgerlich – ja, wahrhaftig, einige Sekunden lang war er ärgerlich auf diese Frau.
»Ach, Kathrin,« klagte er, »ich muß mir Sottisen anhören, weil es Ihnen beliebt, dämonische Gelüste zu haben!«
Frau von Hanka begann mit Jubeltönen zu lachen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, sie sah ihn wie ein aufmerksames und sanftes Schulmädchen an, sie zog die Stirn in die drolligsten schrägen Falten.
»Es macht mir doch so viel Spaß, Nikola!«