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Sechstes Kapitel

1

Nachdem sie zwei Stunden geschlafen hatte, erwachte Frau von Hanka. Sie sprang sogleich auf, sie eilte zum Fenster hin. Es regnete. Die Dächer klangen von den Tropfen.

»Ich habe geträumt!« sagte Frau von Hanka, und sie lächelte wie ein beruhigtes Kind.

Sie kehrte an ihr Bett zurück. Ihr Blick fiel auf ihre nackten Füße. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes, sie begann ihre Füße zu massieren. Währenddessen sah sie mit einem mißtrauischen, lauernden und grüblerischen Blick ins Leere.

»Warum schmerzen denn diese Füße so,« fragte sie sich selber, »wenn ich nur geträumt habe, daß ich so rasend laufen mußte?«

Jetzt senkte sie die Augen zu ihrer Hand hinab. Ihre Fingerspitzen waren verwundet, die Nägel zerbissen.

Ungestüm stand sie auf. Sie suchte nach ihren Kleidern. Doch ehe sie noch wahrgenommen hatte, wie beschädigt sie waren, kehrte sie sich ab.

Sie bedurfte von den Gegenständen keiner Gewißheit mehr! Was aber war von dem, das sich in Wirklichkeit ereignet hatte, denn zweiter Traum gewesen?

Sie taumelte im Labyrinth der Träume.

Ihre Gedanken irrten ab. »Ich muß eine Zigarette anzünden, dann werde ich alles begreifen.« Sie, die niemals, bis auf jene Vormittagsstunde des Überfalles, geraucht hatte, eigensinnig bohrte sich jetzt in ihrem Hirn dieser Gedanke fest.

Sie schlüpfte in die Pantoffeln und stieg ins Erdgeschoß hinunter, um Rauchzeug zu holen.

Im Nachthemd, tappend in der Dunkelheit, in ihrem eigenen Hause mit allen Listen und Vorsichten eines Diebes, so schlich sie die Treppe hinab, fühlte sich an den Bildern und Schränken der Gänge entlang, öffnete die Tür zum Herrenzimmer, tastete in Finsternissen nach dem Zigarettenkästchen und nach einer Streichholzschachtel und kehrte zur Tür zurück, in ihrem Köpf nichts als diese eine Begierde: rauchen, rauchen! Wie sie aber die Tür hinter sich geschlossen hatte und die Hand behutsam von der Klinke löste, starrte sie in der. Dunkelheit fassungslos ebendiese Tür an. Sie glaubte sich zu erinnern, hier einmal einen Geruch von regenfeuchten Mänteln und von Laternenqualm gespürt zu haben. Vor unvordenklichen Zeiten waren einmal des Nachts irgendwelche Männer, die aus dem Regen kamen, durch diese Tür in das Rauchzimmer gegangen. Sie hatte noch den Klang ihrer behutsamen Stimmen im Ohr, mit denen sie sich gegenseitig Anweisungen erteilten, wie man den niedrigen Rauchtisch zur Seite rücken müsse, um für irgend etwas anderes und Größeres Raum zu schaffen. Aber sie vermochte sich durchaus nicht zu entsinnen, wann und bei welcher Gelegenheit ihr dies alles vorgekommen sein mochte. Nicht so sehr an dem Ganzen dieser Begebenheit hafteten ihre Gedanken mit Grauen wie insbesondere an den regenfeuchten Mänteln der Männer. In ihrem Schlafzimmer angelangt, wählte sie unter den Zigaretten eine russische. Sie rauchte heftig und saugend, schnell war das Papiermundstück am Rande verkohlt. Mit einer geisterhaften Verwunderung betrachtete sie es. Sie glaubte es in einem früheren Leben gesehen zu haben.

Währenddessen hörte sie den Regen auf dem Dach und dumpfer auf dem Rasen von ihrem Fenster klingen. Dieser Regen in der Nacht peinigte sie mehr als alles andere, ohne daß sie sich Rechenschaft zu geben vermochte, weshalb.

Plötzlich wußte sie es: Mareile irrt immer noch in dieser regenerfüllten Nacht umher!

Sie machte nichts anderes als dies: Mareile irrt umher – aber schon tastete sich ihre Vorstellung zu einem neuen Bilde hin: Mareile liegt noch immer in der regnerischen Nacht auf der Wiese?

Frau von Hanka öffnete das unverhangene Fenster. Sie horchte. Undeutlich sah sie die windgebeugten Bäume des Parkes.

Sie hatte eine neue Vorstellung: ›Das weiße Kleid aus Batist, ist nun in der Zeit, während ich schlief, so feucht geworden, daß es sich anleimt an ihren Körper!‹ Und dann: ›Die schönen Augen sind geöffnet, und in diese Augen fällt schräg der Regen hinein, und es tut Mareile weh, soviel Wasser in den Augen zu haben …‹

Frau von Hanka schloß das Fenster.

»Ich werde wahnsinnig!«

Über dem Sattel ihrer Nase bildeten sich zwei tiefe Furchen, die ihr Gesicht häßlich machten und ihm den Ausdruck eines ratlosen Zornes verliehen – Zorn eines, vernunftgewöhnten Geschöpfes über die unaufhaltsam folgenden Wahngebilde, die sie hetzten.

Mit Heftigkeit zerstieß sie die Zigarette auf einer Schale des Toilettentisches. »Ich bin in meinem Hause! Im Nebenzimmer schläft mein Mann! Ein paar Schritte entfernt meine Freundin! Klingeln und Telephone sind da, meine Jungfer wird kommen, Diener, Mädchen – wer immer am schnellsten erwacht! Man kann Keyserling, den Inspektor, das Hofgesinde alarmieren! Sie alle sollen mir sagen, ob ich heute nacht wahnsinnig war, als ich Gestalten und Stimmen im Nebel hörte und ein Mann im Walde brüllend mit mir das Haschespiel spielte – wahnsinnig oder nicht!«

Sie riß einen Kimono vom Haken, bekleidete sich, stieß lärmend ihre Tür auf, durchquerte den Korridor, öffnete eine andere Tür.

»Marie Ursel!«

»Kathrinchen?« ertönte sogleich die Antwort vom Bette.

»Du schläfst nicht?«

»Nein. Ich liege wach.«

»Habe ich dich vorhin aufgeweckt, wie ich hinunterging?«

»Nein. Ich liege die ganze Zeit schon wach, stundenlang …«

»Warum schläfst du denn nicht?«

Marie Ursel seufzte. »Ich kann nicht schlafen, liebes Menschenkind. Komm doch näher! Willst du nicht Licht machen?«

»Nein. Ich muß ohne Licht mit dir sprechen.«

Marie Ursel lächelte in der Dunkelheit. »Hast du schon wieder etwas Schlimmes zu beichten, böses Kathrinchen?«

»Laß mich deine Hand halten, Marie Ursel.«

»Du zitterst ja!« rief Marie Ursel erschrocken. »Ist etwas geschehen«?«

»Höre genau zu.«

Und Frau von Hanka begann zu erzählen, wirr und zusammenhanglos: sie müsse befürchten, Mareile, liege zu dieser Stunde auf der Wiese am Steg. Der Hirt habe im Nebel mit ihr gerungen. Dann habe er sie erdrosselt. Sie selber glaubte das Röcheln der Sterbenden gehört zu haben. Dann sei sie von dem Mörder verfolgt worden, aber sie habe sich noch im letzten Augenblick zu retten vermocht.

Frau von Hanka machte eine Pause. Marie Ursel gab keinen Laut. Dann schaltete sie das Licht der kleinen Lampe ein. Prüfend und ernst betrachtete sie die Freundin, die zusammengekauert auf dem Bettrand saß, fröstelnd, grünlich-bleich, elend und ohne Schönheit.

Bei diesem Anblick brach Marie Ursel in Gelächter aus.

»Du hast ja geträumt!« Sie legte Frau von Hanka eine Decke um die Schultern. »Wie kannst du denn hier von deinem Schlafzimmer aus hören, wenn auf der Wiese jenseits des Waldes einer röchelt? Und wer soll dich denn verfolgt haben, da du doch m Bett lägest?«

Jetzt begann Frau von Hanka ihre Freundin folgerichtig zu belehren.

»Es fing an, wie ihr beide, Julius und du, vom Feuer fortginget«, sagte sie, und bei diesen Worten bekamen Marie Ursels Augen einen blaß-metallischen Glanz. Jetzt aber hörte sie sich Kathrins Geschichte an – zuerst mit aufmerksamem, freundlichem Lächeln, dann mit spöttischer Verwunderung, mit skeptischen Zwischenfragen, mit einem bleichen Lächeln der Abwehr und des Schreckens, endlich mit einem langsam entstehenden Entsetzen.

»Aber du hast doch inzwischen geschlafen!« rief Marie Ursel. »Jetzt ist es doch drei Uhr! Wie konntest du denn schlafen, wenn das alles wahr ist?«

»Weil ich zusammenbrach, und noch im Zusammenbrechen glaubte ich, dies alles sei nichts als Wahn und Nervenüberreizung von mir! Und dann hatte ich im Schlafe einen Traum, der mich lange Zeit festgebannt hielt. – Ja, Marie Ursel,« fragte Frau von Hanka ganz erstaunt, »glaubst du denn, daß sich das alles in Wirklichkeit so ereignet hat?«

Marie Ursel dachte nach. »Oft hört man bei euch in den Wäldern des Nachts Tiere kämpfen, und ihr Röcheln und Schreien klingt zuweilen so menschlich, daß einem das Blut in den Adern gefriert.«

»Ach, das ist wahr!« bestätigte Frau von Hanka. »Aber, was hältst du von dem Manne, der mich verfolgt hat?«

»Das ist es, worüber ich nachdenke. Denn vorhin fiel mir ein, daß der alte Gärtner neulich erzählte, seit dem Krieg seien wieder Wölfe von der polnischen Grenze her eingebrochen.«

Frau von Hanka schüttelte den Kopf. »Wenn das ein Wolf gewesen ist, der mich fast bis ans Schloß gehetzt hat, so dürft ihr mich morgen früh in eine Anstalt für Geisteskranke entsenden.«

Marie Ursel stand auf. »Wir müssen Julius wecken und diese Sache mit ihm bereden.«

Fröstelnd fuhr Frau von Hanka zusammen. Ihre Zähne klirrten.

Einige Augenblicke später standen die Frauen in Herrn von Hankas Schlafzimmer. In zahlreichen Nächten der Fabriktätigkeit sowohl wie des Krieges hatte er sich daran gewöhnen müssen, wann immer er aus dem Schlaf gerissen wurde, sogleich die Vernunft mit ihrem ganzen Vermögen wirken zu lassen. Obwohl er nach seinem Spaziergang mit Marie Ursel in einen tiefen, kummervollen Schlaf verfallen war, so war er doch jetzt von der ersten Sekunde an wach. Ohne eine Frage zu stellen, hörte er mit klug gespannten Gesichtszügen an, was Marie Ursel berichtete. Diese gab alles getreulich so wieder, wie es Kathrin ihr erzählt hatte, nur mit der Veränderung: Kathrin sei noch ein wenig, um sich Bewegung zu machen, allein im Parke spazierengegangen. Sie hatte kaum geendet, als Julius die Klingelzeichen der Haustelephone in Bewegung setzte.

»Bitte, geht hinaus! Ich will mich anziehen. Es spricht die allergrößte Wahrscheinlichkeit dafür, daß Kathrin wieder einmal phantasiert hat. Aber es ist unsere Pflicht, unverzüglich festzustellen, ob irgendein Kern von Wirklichkeit darinnen steckt!«

Im Kavalierhaus meldete sich jetzt Nikola Keyserling am Telephon. Hanka bat ihn, sogleich aufzustehen, den Inspektor, die Volontäre, einige Knechte mit Hunden, wer immer am nächsten zur Hand sei, wecken zu lassen. Es bestehe die Möglichkeit, daß in der Nähe des Schlosses ein Mensch ermordet worden sei. Mit Hunden und Laternen müsse man Nachforschungen anstellen!

Inzwischen war der Diener eingetreten.

»Irgendeinen Anzug!« befahl Hanka. Dann »Stiefel und Revolver! Irgend jemand soll ins Feuerwehrhaus laufen, dort liegt eine Krankenbahre! Die soll man dem Grafen bringen!«

»Ist denn die gnädige Frau krank geworden?« fragte der Diener schlaftrunken, sinnlos und erschrocken.

»Keine unnützen Fragen, Mann! Vorwärts!«

Nach wenigen Minuten flammten allenthalben im Schlosse und in den anliegenden Gebäuden Lichter in den Zimmern und Gängen auf. Hunde begannen zu bellen, Türen knarrten auf dem Hof, Schritte erklangen, rostige Stimmen, schwerfällige Rufe. Verdeckte Laternen wurden geschwenkt, und die Hunde begannen, jaulend vor Grauen und Erregung, mit glühenden Augen in dem Hofe einherzustürmen.

Julius von Hanka trat noch einmal in Kathrins Zimmer zurück, wo auch Marie Ursel sich befand. Sein Blick lag streng, so streng wie nie zuvor in seinem Leben, auf Kathrins fröstelnder Gestalt.

»Welcher Steg jenseits des Birkenwaldes? Der erste? Der zweite?«

»Der erste, Lieber, dort, wo das Schilf steht! – Ach, es ist ja alles nur Einbildung von mir gewesen, ich bin jetzt ganz gewiß, – und es tut mir leid, daß ich euch alle aus dem Schlaf gejagt habe!«

»Gut, gut!« rief Hanka ungeduldig. »Der erste Steg am Schilf!«

Er warf Marie Ursel einen tiefbestürzten Blick zu.

2

Die weiße Katze mit den blauen Augen war bisher von ihrer Schlafstätte ausgesperrt gewesen. Nun hatte sie ihren Weg dorthin gefunden. Auf der Lehne des Kanapees, das Fell immer schief gegen die Wand gedrängt, so ging sie ruhelos auf und nieder und so wiederholte sie auf schmalem Raume das Begebnis in diesem Zimmer: wie Frau von Hanka dort ruhelos auf und nieder ging.

Mit Verwunderung beobachtete Marie Ursel die Freundin. Ihr ganzes Wesen schien auf die Urform zurückgeführt worden zu sein: sie war eine Wilde, mit dem unbegreiflichen Aspekt der Wilden. Ihre aufgelösten schwarzen, nicht allzu langen Flechten glänzten über der Schulter wie vom Öle der Kokosnuß gesalbt; ihr feuchter Mund, die Zigarette haltend, war unnatürlich schmal und lang über die Wangen gezogen; ihr schräges, scharfes Auge lagerte lauernd in den Winkeln; ihr nackter Fuß schlich auf den Ballen der Zehen mit tierähnlichen Dehnungen über die Teppiche dahin; der Pelzbesatz ihres violetten Nachtrocks schlug bei jedem Schritte gegen die bräunliche Haut ihrer Fußgelenke. Und in diesem halbdunklen Raum, den die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts mit verschwenderischer Schönheit ausgestattet hatte, mit Deckenbemalungen und Panneaus von Pesne, mit Encoignuren und mit einer als Toilettentisch dienenden Kommode von Vernis Martin, mit einem Bett, das ein Wunder aus dem Zeitalter der schönen und schwelgerischen Betten war – hier schritt die Herrin dieser Schönheit als ein Geschöpf von geschichtsloser Urbeschaffenheit dahin.

Es fröstelte sie nicht mehr. Nicht mehr angsterfüllt und schaudernd zog sie ihren Körper auf die kleinste Fläche zusammen. Sie richtete in dieser Stunde des Wartens nicht einmal sonderlich ihre Gedanken auf die Dinge draußen im Walde – ihre Aufmerksamkeit spannte sich zu einem Mythos ihrer Seele hin, den Marie Ursel nicht zu enträtseln vermochte.

Marie Ursel stand auf. Sie bückte sich, sie hielt die Pantöffelchen in der Hand.

»Geh nicht mit nackten Füßen über den Boden!«

Sie sprach gedämpft, als sei ein Kranker oder ein Toter im Hause.

Kathrin schüttelte den Kopf. Sie ging weiter, sie zündete eine Zigarette nach der andern an.

Marie Ursel seufzte.

»Wie lange sie bleiben! – Ich will sehen, ob sie kommen.«

Sie ging in die Halle hinunter. Nach einer Weile kehrte sie zurück. Regentropfen lagen auf ihrem Haar. Frau von Hanka fragte, immer im Schreiten, geistesabwesend, zerstreut: »Nun?«

»Nichts. Nur der Regen. Dieser entsetzliche Regen.«

Sie ließ sich nieder. Ihre Stirn bedeckte sie mit der Hand.

Frau von Hanka atmete tief, mit weit gebogenen Nüstern. Sie spürte ahnungsvoll einen Duft, der ihr das Herz leicht machte wie eine Feder. Sie sagte:

»Man muß acht geben, daß die Kinder nicht aufmachen, wenn sie kommen.«

Betreten sah Marie Ursel sie an.

Frau von Hanka lehnte sich gegen die Tür. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Durch den Hauch der Zigarette strahlten ihre Augen ein verzücktes Licht aus. Sie sprach halblaut vor sich hin:

»Wogegen erhebt ihr euch alle – ganz vergebens?«

Marie Ursel dachte mit Anstrengung über diese Frage nach, zumal über diese letzten zwei Worte: »ganz vergebens«.

Jetzt aber gab die Freundin ein Zeichen, ihr zu folgen.

Marie Ursel stand auf, grau vor schreckensvoller Erwartung.

Unten im Gange waren Schritte und Stimmen vernehmbar geworden.

Sie schleichen sich zur Treppe hin. Zagend biegen sie ihre Körper über das Geländer.

Da sehen sie vor der Tür des Rauchzimmers, im Halbkreise, irgendwelche Männer stehen, denen die Regenfeuchte von den Mänteln rinnt.

3

Gegen fünf Uhr morgens stieg Frau von Hanka die Treppe hinunter.

Das Haus war voll von Menschen. Mit dem ersten Automobil, das man nach Rüstrow gesandt hatte, waren der Arzt, der Staatsanwalt, ein Offizier der Landespolizei und eine so große Anzahl von Gendarmen eingetroffen, wie der Wagen nur irgend zu fassen vermochte; mit einem andern hatte Julius von Hanka den Jagdmeister und seine Familie abgeholt.

Im Herrenzimmer hatten der Staatsanwalt und der Offizier. ihr Stabsquartier aufgeschlagen. Der Staatsanwalt ließ das Hörrohr des Telephonapparates nicht vom Ohr; er hatte veranlaßt, daß im Postamt zu Rüstrow die telephonische Verbindung mit Herbstfelde noch vor dem Beginn der Dienststunde hergestellt wurde. Der Hauptmann der Landespolizei nahm die Meldungen der Gendarmen entgegen, die unaufhörlich kamen und gingen. Er hatte topographische Karten des Gutes vor sich ausgebreitet, darunter auch jene, auf der einst der Weg zum Jagdgebiet bezeichnet worden war.

Der Hauptmann hatte bisher nicht den geringsten Erfolg aufzuweisen. Die dunkle Empfindung überkam ihn, alles werde besser vonstatten gehen, wenn man irgend jemand von Herzensgrund anbrüllen könne. Hierzu wählte er sich einen Gendarmen aus, der, in eine ölgetränkte Regenhaut gehüllt, eine Meldung erstattete, die dem Hauptmann keine Freude verursachte. Nachdem dies geschehen war, nahm er seinen Mantel vom Riegel. Er lachte, girrend vor Wut: »Haben Sie schon einmal so etwas gehört? Mein Polizeihund nimmt Spur auf – aber wo glauben Sie, daß er landet? Hier im Untergeschoß, in der Schloßküche, wo er noch den Bratengeruch vom gestrigen Tage wittert.«

Der Staatsanwalt lächelte mit dem ganzen Gewicht seiner überlegenen Kultur: » Se non è vero –«

Der Hauptmann schlug den Kragen hoch, stampfte mit den Stiefeln auf, worauf die Fundamente des Schlosses zitterten, zündete sich eine Zigarre an, trank einen Kognak und sagte: »Wenn ich nicht so ein herzensguter Mensch wäre, so ließ' ich die ganze Meute jetzt massakrieren, die sie mir da aus Berlin angedreht haben. – Natürlich! Was kann aus Berlin Gutes kommen!«

Der Staatsanwalt unterbrach sein Telephongespräch, legte die Hand über den Schalltrichter, ließ sein Monokel an der Schnur herniedersausen und redete den Gendarmen an: »Sagen Sie, bitte, Ihren Kameraden, daß der Schloßherr für die Ergreifung des Täters eine Belohnung von dreitausend Dollar ausgesetzt hat. Wer die erwischt, hat ausgesorgt.«

Er sprang plötzlich wie besessen auf. Fiebernd vor Ehrerbietung beugte er seinen scharf rasierten Nacken über Frau von Hankas Hand.

»Ein überaus betrübender Anlaß, Baronin, der mich nachts in schönes Haus einfallen läßt. – Darf ich ehrerbietigst mit Hauptmann Jürgas bekanntmachen?«

Frau von Hanka spürte Kognak- und Zigarrendunst aus allen Poren eines violetten Militärgesichtes dringen.

»Ich möchte nicht stören«, sagte sie ruhig und ernst. »Ich wollte Sie nur begrüßen und mich vergewissern, daß Sie alles haben, was Sie zu Ihrer Tätigkeit benötigen.«

»Wir haben alles bekommen, gnädigste Baronin – alles!« entgegnete der Staatsanwalt mit einer Art von Begeisterung.

»Man hat Ihnen Kaffee gebracht?« Sie lächelte liebenswürdig. »So, dann kann ich mein Hausfrauengewissen also beruhigen. Nun muß ich noch Doktor Hebel suchen.«

Der Hauptmann riß die Tür zum Speisesaal auf.

Doktor Hebel!« brüllte er, als befehle er im Wachtlokal eine Ordonnanz herbei.

»Da ist er, unser Wald- und Wiesenkurpfuscher!« Der Arzt warf ihm einen wütenden Blick zu. Der Hauptmann dröhnte. »Darf ich mich gehorsamst verabschieden?« Er lachte sinnlos und wild, mit einem Vergnügen, als habe er einen morgendlichen Pirschgang von Eichendorfscher Romantik vor sich. »Der Dienst ruft in die Wälder!«

Frau von Hanka nickte ihm zu. Neben Doktor Hebel war Julius von Hanka eingetreten, der wiederum seinen ernsten Blick auf seiner Frau ruhen ließ.

Doktor Hebel war ein Landarzt, mit Haut, Knochen, Haar und Zähnen, die so gedörrt erschienen, als habe das alles schon ein paar Jahre lang ausbleichend in der Wüste neben dem Gerippe längst verstorbener Schakale gelegen. Über den lehmgrauen Schnurrbart hinweg richtete er seine vertrockneten Augen feindselig und besorgt auf Frau von Hanka, als befürchte er, sie könne ihm irgendwie zunahetreten. Er war in ständiger Furcht, für veraltet zu gelten, und er witterte in jeder Frage, die Menschen wie die Hankas an ihn stellten, welche er für den Inbegriff der »modernen Zeit«, zumal der »Teufelsstadt Berlin« ansah, einen Angriff auf seine ärztliche Geltung. Er selber glaubte, zumal seitdem er nicht mehr imstande war, die Fachzeitschriften zu halten, ein verächtliches Fossil der medizinischen Wissenschaft geworden zu sein, er pflegte sich mit Selbstvorwürfen die alte, ausgemergelte Brust zu zerfleischen, während er doch zu jedem Tage seiner Tätigkeit soviel Kranke gesund gemacht hatte wie nur je irgendein braver Landarzt im östlichen Preußen. Er bot Frau von Hanka zwei kalte Fingerspitzen dar.

»Ich wollte Sie etwas fragen, Doktor Hebel«, begann Frau von Hanka ganz sachlich. »Wie nennt man das, bitte, was sich hier Schreckliches bei uns ereignet hat?«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Doktor, gewappnet bis an die Zähne, doch unter der Rüstung schlotternd und schreckensbleich.

»Ich meine, was hat man diesem Mädchen getan?«

»Ich weiß nicht, ob man jetzt einen neuen Ausdruck dafür hat«, entgegnete Doktor Hebel bitterlich. »Früher nannte man das auf gut deutsch ›erwürgt‹.«

»Ja, erwürgt«, wiederholte Frau von Hanka. »Das habe ich gehört. Ich meine nur, was für eine Bedeutung hat dieses Erwürgen?«

»Das hat die Bedeutung, daß daraufhin der Tod einzutreten pflegt, indem die Luftzufuhr des Menschen durch die Kehle vor sich geht. Es ist ja möglich, daß das jetzt in Berlin anders geworden ist.«

»Ja,« sagte Frau von Hanka etwas ratlos, und sie sah ihren Mann an, »ich wollte Sie nur fragen: nennt man das, was sich hier begeben hat, einen … einen Lustmord?«

»Die Ausdeutung dieser Tat ist ja nun eigentlich mehr Sache des Kriminalisten als des Arztes«, warf etwas pikiert der Staatsanwalt ein.

»Ich glaube zu wissen, was meine Frau meint, und darüber kann ihr vielleicht doch in erster Reihe Herr Doktor Hebel Aufklärung erteilen, der ja soeben an diesem armen Kinde seine ärztliche Untersuchung vorgenommen hat.«

»Die Getötete ist von mir im Zustande der Virginität befunden worden«, erklärte Doktor Hebel beleidigt, und er zupfte an seinem Schakalsbarte.

»Dann ist es also kein ›Lustmord‹?« fragte Frau von Hanka den Staatsanwalt.

Der Staatsanwalt begann jetzt ernsthaft über diese Frage nachzudenken. »Ich muß offen gestehen,« sagte er – und er sprach hierbei wie alle Männer, wenn sie eine gewichtige Frage ihres Berufes erörtern, nicht mehr zu der Dame hin, sondern zu den Männern im Raum –, »es ist mir bisher kein Fall in der Kriminalgeschichte bekannt geworden, in dem ein sogenannter Lustmord ohne prägnante Symptome vollzogen worden ist. Ich stelle aber dahin, ob in diesem Fall nicht eine gewisse Lust am Morden mitspielt, wobei ich außer acht lasse, ob hier überhaupt nicht viel eher ein Totschlag als ein Mord vorliegt.«

Frau von Hanka winkte ihren Mann zu ihrem Stuhl heran.

»Ich habe das nicht ganz verstanden«, flüsterte sie zu ihm hinauf. »Was bedeutet das: man hat Mareile im Zustand der Virginität befunden?«

Leise erklärte es ihr Hanka, immer mit diesen strengen und bekümmerten Zügen des Gesichtes: »Sie war unberührt. Ein Mädchen.«

Frau von Hanka stand auf.

»Nun darf ich nicht weiter stören. Bitte, lieber Doktor Hebel, wenn Sie irgend etwas benötigen, so wenden Sie sich an mich oder meinen Mann.«

»Ich habe hier absolut nichts mehr zu benötigen«, erklärte der Landarzt mit einer aggressiven Besorgtheit, es könne vielleicht inzwischen an den medizinischen Instituten von Yokohama oder Berlin eine neue Therapie erfunden worden sein, wie man die Toten lebendig macht.

»Dann also vielen Dank«, sagte Frau von Hanka, und sie ging hinaus.

Auch Julius von Hanka verließ das Zimmer. Er suchte Keyserling auf, den er in diesem Augenblick, mit dem Hut tief in der Stirn, aus dem Freien in die Halle eintreten sah.

»Ich muß Sie etwas fragen, Keyserling. Mir ist vorhin etwas eingefallen. Wie Sie im Frühjahr in Berlin waren, schlugen Sie mir doch vor, diesen Menschen fortzuschicken, weil er unter den Weibern Unheil anrichtete. Ich habe die Angelegenheit ganz aus dem Auge verloren. Weshalb entschlossen Sie sich schließlich doch, ihn zu behalten?«

»Weil er der tüchtigste Oberschweizer war, der mir je begegnet ist.«

»So. – Nun sagen Sie mir ganz offen: hat meine Frau in irgendeiner Hinsicht Ihre Entscheidungen beeinflußt?« Er fügte hinzu: »Wir wissen ja beide, daß Kathrin mit ihrer Phantasie leicht Freude am Absonderlichen hat.«

Keyserling sah zur Seite. Der runde Hut, den er noch immer auf dem Kopfe hatte, verhinderte Hanka, wahrzunehmen, daß Keyserling wie ein Knabe errötete, der zum erstenmal lügt.

»Ich kann mich nicht erinnern, je mit Ihrer Frau über diesen Mann gesprochen zu haben, es sei denn ganz flüchtig in Berlin. Ich glaube auch nicht einmal, daß er Ihrer Frau hier unter dem übrigen Personal sonderlich aufgefallen ist. Sie wissen, Kathrin bekümmert sich nur um die Leute im Hause, nicht um die auf dem Hof.«

»Ja, das ist wahr!« erwiderte Hanka ganz frappiert. Er fügte lebhaft und froh geworden hinzu: »Das ist wirklich wahr!«

»Nein. Die ganze Schuld, daß dieser Mensch in seiner Stellung verbleiben durfte, trage ich allein.«

»Das ist natürlich Unsinn!« Hanka seufzte. »Ach, Keyserling, Sie können sich nicht vorstellen, wie mir zumut ist! Nicht allein wegen dieses armen Geschöpfes, das den Tod erleiden mußte – nein, daß auch meine Frau auf unserm eigenen Grund und Boden, ein paar Minuten von unserm Hause entfernt, vor solch einer Bestie nicht sicher ist –, in was für Zeiten leben wir!«

»Wir sind nicht darauf vorbereitet« murmelte Keyserling, und die Hände in seinen Manteltaschen zitterten ihm.

Sie trennten sich. Keyserling begann in der Halle auf und nieder zu gehen. Wie grau die schönen Bilder an den Wänden hingen, die er so liebte! Wie entseelt van Goghs Blumenstrauß! Wie roh Sisleys zart gemalte Seinelandschaft! Wie stumpf, verbittert und zahnlos Henri Rousseaus Tiger, als gehöre er einer Menagerie an und nicht dem Urwalde! Die ostasiatischen Sammlungen in den Vitrinen – sie hatten keinen Schönheitswert mehr: aus jedem lackierten und bemalten Medizinkästchen sprach das nackte, häßliche Leiden der Menschheit, aus jedem grotesken Stück Inros ihre Schande und Qual! Ja selbst in den Schmetterlingskästen zu beiden Seiten des flammenlosen Kammes erkannte er das Menschenherz, das das Vollkommene durchbohrt und seinen hämisch aufgespannten Flügeln den Glanz des Lebens raubt.

Aus dem Speisesaal traten jetzt Frau von Hanka und Marie Ursel heraus, Marie Ursel mit Tränen in den Augen, die sie mit ihrem Tüchlein forttupfte.

Frau von Hanka ging schnell auf Keyserling zu.

»Nikola, nebenan im Eßzimmer hält sich der Jagdmeister und seine Familie auf, da darfst du nicht hineingehen!« flüsterte sie ihm zu. »Der Jagdmeister hat merkwürdigerweise auf den – den Mörder kaum solch einen Haß wie auf dich. Er läßt sich nicht ausreden, daß du an allem schuld bist.«

Keyserling zuckte die Achseln. »Wie nehmen sie es denn da drinnen auf?«

Marie Ursel sagte: »Die Mutter weint und weint.«

»Die Geschwister sind ein entsetzliches Pack«, sagte Frau von Hanka.

»Ich habe Mareile sehr, sehr geliebt«, entgegnete Keyserling mit Innigkeit.

»Ja, Mareile!« Frau von Hanka schüttelte verwundert den Kopf. »Wie ist die denn in diese Familie hereingekommen?«

Keyserling lächelte freundlich. »Ja, Kathrin, wenn wir diese Gesetze kennten: wie sind denn Sie in Ihre Familie hereingekommen?«

Nun lächelten sie alle, und auch Marie Ursel lächelte unter ihren Tränen.

»Nun, und der Jagdmeister?« fragte Keyserling.

»Das ist sonderbar«, flüsterte Marie Ursel. »Er soll neulich eine tiefe Ohnmacht bekommen haben, wie er aus dem Revier zurückgekehrt ist.«

»Seine Kinder behaupten,« ergänzte Frau von Hanka leise, »er habe irgendwo im Walde seine Tochter und den Hirten zusammen belauscht.«

»Ja,« flüsterte Marie Ursel, »es muß eine Art Schlaganfall gewesen sein. Denn seit dieser Zeit tastet er sich nur an die Dinge heran. Ich habe die Empfindung, er sieht alles schon von Dämmerung bedeckt, wie in der Unterwelt.«

»Nur für dich, Nikola, hat er eine ungeteilte Empfindung des Zornes. Deshalb gehe nicht da hinein.«

»Nein,« sagte Keyserling seufzend, »ich werde draußen im Regen auf und ab spazieren und den armen Mann mit meiner Nähe nicht plagen.«

Die Damen trennten sich mit einem Händedruck von Keyserling, der ins Freie hinausging.

Sie standen einen Augenblick einander gegenüber, – da es kühl war, beide mit Tüchern über den schwarzen Kleidern. Flüchtig sahen sie sich in die Augen. Sie wußten es, welchen Gast in diesem Hause sie beide jetzt besuchen wollten. Sie küßten sich schnell, Marie Ursel mit neu hervordrängenden Tränen in den Augen, Frau von Hanka mit einem verschleierten, seitwärts entweichenden Blicke.

4

Im Rauchzimmer waren die Fensterläden geschlossen worden. Kein Tageslicht drang störend in die braune, feierlich erfüllte Luft. Eine einzige Kerze auf dem Tische gab unbewegtes Licht.

Mareile lag auf dem breiten Ruhelager an der Wand. Der Körper war von den Füßen bis zum Halse mit einem Pelz bedeckt. Ein Tuch aus weißem Musselin umschleierte das im Kissen leicht erhobene Gesicht und den mit einer Binde eingehüllten Hals.

Frau von Hanka und Marie Ursel waren bestürzt, Stephan in diesem Raume anzutreffen. Der Knabe stand völlig angekleidet neben dem Totenlager, aber seltsamerweise wendete er dem Leichnam den Rücken zu. Den Kopf zur Schulter hingeneigt, hatte er seine flache Hand erhoben, als lese er dort in den Linien der Innenfläche wie in einem Buche. Dann aber wurden Frau von Hanka und Marie Ursel gewahr, daß seine bewegten Lippen sich mit einem unsichtbaren Wesen besprachen, das ihm dort auf der Hand lagerte. Er küßte es, drückte es an seine Brust und ließ es mit einem zärtlichen Hauche fahren.

Da er seine Mutter an der Tür sah, ging er zu ihr hin. Frau von Hanka hatte die Empfindung, er werde nun einen ähnlich strengen Blick auf sie richten, wie ihr Mann in der Nacht getan. Aber der Knabe überströmte sie mit Liebe und Zartheit. Er ließ nicht davon ab, seine Mutter zu küssen, sie um Verzeihung zu bitten für jede Missetat, die er je begangen, für jeden Kummer, den er je ihr verursacht hatte, und er gelobte Besserung und eine anhängliche Unterwürfigkeit unter den Willen seiner geliebten Eltern. Sie und der Vater mögen es ihm nicht entgelten lassen, wenn er heute ohne Erlaubnis in so großer Frühe sich angekleidet habe und hier an dieses Ruhelager getreten sei. Er habe durch die verworrenen Geräusche, die während der Nacht im Hause erklungen waren, kein Rechtes geschlafen, und zumal gegen den Morgen hin sei dieses Lärmen ihm so stark erschienen, daß er sich keiner Täuschung mehr darüber habe hingeben können, was für ein Leides dem verehrten Mädchen geschehen war. Dies alles brachte er flüsternd hervor, und während Frau von Hanka ihn an sich zog, beugte sie sich zu ihm hinab, mit Flüstern ihn befragend, wie er denn Kenntnis davon hätte haben können, was mit Mareile in der Nacht geschehen sei. Darauf berichtete er, bald seiner Mutter, bald Marie Ursel ins Gesicht sehend, wie ihn am gestrigen Abend schon eine schlimme Ahnung bedrückt habe. So habe er sich denn mit Bettine besprochen, – und auch, für diese wie für alle folgenden Eigenmächtigkeiten bat er sowohl seine Mutter wie Bettines Schwester mit leidenschaftlicher Beschwörung um Verzeihung, – er habe Mareile im Park aufgesucht und auch das Glück gehabt, ihr zu begegnen, und dort habe sie ihm und dem schlafenden Kinde Bettine für ewig Lebewohl gesagt, wobei sie jede seiner ehrerbietigen Warnungen in den Wind geschlagen, ihm aber gelobt habe, sich immerdar seiner Liebe zu erinnern, und zum Schlusse ihn beschworen, sie nun nicht weiterhin aufzuhalten; denn jede Minute sei verloren, die sie noch länger hier mit ihm verweile. Da sei er mit seinen Bitten von ihr abgestanden, denn gewiß habe sie einen großen und erhabenen Zweck in diesem Augenblicke verfolgt, und nun sei ja auch alles schön und »ganz licht« geworden.

»Sagte Mareile das wirklich zu dir?« flüsterte Frau von Hanka ganz nahe an seinem Ohr. »Besinne dich! Hast du es auch wirklich so vernommen, es sei jede Minute verloren, die sie noch länger mit dir verweilen müsse?«

Stephan beschwor mit Tränen in den Augen die Wahrhaftigkeit jedes seiner Worte.

Frau von Hanka drückte ihn fest an ihre Brust. Marie Ursel küßte seine Wangen und seinen Mund, und ihre strahlenweis fließenden Tränen vermischten sich mit den seinen. Dann wurde er von seiner Mutter hinausgesandt. Er möge Milch kommen lassen und sich am Ofen erwärmen. Der Knabe zögerte, mit einem Blick auf die feierliche Stätte, auf der seine Freundin ruhte. Aber Frau von Hanka bedeutete ihm, Mareile werde noch an diesem und an dem folgenden Tage hier im Hause zu Gast sein, und er dürfe noch einmal Abschied von ihr nehmen und zu ihren Füßen für sie und für sich beten, für Bettine, Marie Ursel, seine Eltern, die Zwillinge und alle Tiere, die er liebe. Da ging er hinaus.

Jetzt ließ sich Marie Ursel nahe der Tür in einem Stuhl nieder. Unaufhaltsam blickte sie zu dem verschleierten Haupte hin. Die Augen trockneten ihr. Die Tränen flossen nicht mehr, doch über die hohe und reine Stirn flutete Leid um Leid.

Nach geraumer Zeit ging ihr Auge zu Kathrin hinüber, die dicht neben Mareiles verdämmerndem Antlitz stand. Wieder gewahrte sie den rätselhaften, in den Winkeln ruhenden, scharf spähenden, weißlich wilden Blick. Kathrins Ausspruch in der Nacht kam ihr in Erinnerung: »Wogegen erhebt ihr euch alle ganz vergebens?« Marie Ursels Auge sank zurück zu dem umschleierten Gesicht. Sie erinnerte sich jetzt jenes Vormittags auf dem Hügel am Römersteine, wo vor ihren Augen das Mädchen in den Tälern und auf bewaldeten Hügeln hinwandelte und entschwand, während Keyserling von ihrem Leben und Wesen berichtete. Zumal ihre Fürsorge für alle Geschöpfe weiblichen Geschlechtes, die zu allermeist ihr verwundbar und gefährdet erschienen, und ihre Hinneigung zu dem alten Steinadler, der ihr das Sinnbild göttlicher Begeisterung war, – dies alles trat nunmehr wieder in Marie Ursels Gedächtnis zurück, um dort für immerdar zu verbleiben.

›Nun bist auch du gestorben als Sinnbild göttlicher Begeisterung, schöne Schwester, für eine andere, und ganz vergebens, wie alle, die hier für andere auf dieser Erde sterben, sei es am Kreuze, sei's in den Kriegen, sei's in den Strömen oder auf den Schiffen der hohen Meere oder in den Straßen der Städte oder in Wäldern und Tälern, – ganz vergebens sterben. So bleibt uns nichts, als zu denken, daß eine höhere Gerechtigkeit uns einst doch alle insgesamt zusammenführe.‹

Sie stand auf und gab Kathrin ein bittendes Zeichen, ihr zu folgen. Schnell beugte sich Frau von Hanka jetzt nieder und küßte mit ihren schönen, breiten Lippen, doch mit einem entschwebenden Blicke jene Stelle des Pelzes, unter der Mareiles Hände liegen mochten.

Die Freundinnen traten nebeneinander durch die Halle in die freie Luft.

Dort vor dem Eingang wanderte Keyserling noch immer auf und nieder, und neben ihm, den feinen Kopf dicht an sein Knie gedrückt, die Hündin Nitschewo, die des Morgens dem Jagdmeister bis Herbstfelde gefolgt war.

Die Wolken hatten für eine kurze Zeit nachgelassen, den Regen auf die Erde zu ergießen, aber sie wogten unruhig mit immer neuen Wallungen am Morgenhimmel einher.

Ein Raubvogel stand, den Fittich seitwärts gegen den Sturm gestellt, pfeilgerade und lange Zeit mit kämpfender Schwinge über den Dächern des Schlosses.

Die Hündin war stehengeblieben, sie bog den Kopf im Nacken zu dem Vogel hin, und Keyserling tat wie sie.

»So lebst du also noch? Bist du gekommen, sie dir zu holen?«


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