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Drittes Kapitel.

Während die beiden im Walde sich so ihre Zukunft ausmalten, hatte die Försterin Arnold still ihre Wirtschaft besorgt, und dabei waren ihre Erinnerungen weit zurück in die Vergangenheit geschweift. Sie wußte nicht, weshalb ihr solche Erinnerungen so mächtig gerade an Sonntag Vormittagen kamen. Von der Stille ringsumher konnte es nicht sein: es war auch an den Wochentagen in diesen Stunden kaum minder still. Die vier Hühner auf dem kleinen Hinterhofe gackerten dann gerade so; die Bienen aus den beiden Bienenstöcken in dem dürftigen Gärtchen summten, und aus den großen Buchen vor dem Hause kam ein gelegentlicher Vogellaut,– gerade so wie heute. Und Arnold war sonst die Vormittage ebensowenig zu Hause, nur daß er sie an den Wochentagen im Revier und des Sonntags im Wirtshause verbrachte. Justus war wohl oft da, wenn er die Lehrstunden, die ihm jeden Tag, einige zusammen mit Isabel, der Herr Pfarrer gab, hinter sich hatte; aber dann saß er in seinem Kämmerchen über der Arbeit und störte sie nicht. Er störte sie auch nicht, wenn er bei ihr war, der liebe Junge, ihr einziges, ihr Sonntagskind! Aber gerade des Sonntags, da sah sie es gern, wenn er, wie heute, in den Wald gelaufen und sie mutterseelenallein war.

Vielleicht weil ihr dann manchmal Gedanken kamen, wie sie ihrem zarten Gewissen für eine Mutterseele nicht schicklich deuchten, und die sich doch so gewaltsam zudrängten, daß sie sie beim besten Willen nicht wegweisen konnte.

So war es heute Morgen. Es erfaßte sie eine unbezwingliche Begier, zu thun, was sie lange, lange nicht gethan. Mit einer Hast, die ihre feinen, welken Hände zittern machte, beendete sie in der Küche die Vorbereitungen zum Mittagsessen, schob die paar Töpfe so weit vom Feuer, daß, wenn Arnold nach Hause kam, alles in wenigen Minuten fertig sein konnte; warf in dem Wohnzimmer noch einen Blick auf den Tisch, den sie schon vorhin gedeckt hatte und schlich auf den Fußspitzen in Justus Kammer, dessen kleines Fenster nach dem Garten ging. Da stand ein alter Schrank, in dem allerlei alter Kram hing und lag; und da, wo keiner es suchen würde, unter einem Packen Zeugfetzen, die sie zum Flicken brauchte, hatte sie es verborgen: ein kleines schwarzes, schmuckloses Kästchen. Das Schlüsselchen lag wieder wo anders: ganz unten am Boden des Schrankes in einer dunkelsten Ecke. Die tastenden Finger konnten es nicht alsbald finden, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Aber, da war es doch – Gott sei Dank! Sie trug das Kästchen nach Justus kleinem Arbeitstisch am Fenster, setzte sich auf den Stuhl davor, holte noch einmal tief Atem und schloß das Kästchen auf. Da lag ihr Schatz: dreizehn Briefe, sämtlich in den Couverts, mit der Adresse »An Fräulein Louise Pfeiffer in X!«, dazu eine Photographie in kleinem Format und ein kleines gefaltetes Papier, das sie zuerst öffnete, um wehmütig die aschblonde Locke zu betrachten, die es enthielt. Es war aber ursprünglich keine Locke gewesen, sondern, jetzt durch das hellblaue Seidenbändchen zusammengehaltenes, schlichtes Haar, wie es dem jungen Manne, den die Photographie darstellte, in der Mitte gescheitelt, fast auf die Schulter herabgehangen hatte. Der junge Mann im Bilde trug eine Brille und hatte ein bartloses, feines Gesicht mit dem Ausdruck großer Güte. Und ein guter, seelenguter Mensch war es gewesen, und hatte die jüngste Tochter seines alten kränklichen Pastors, dem er während eines halben Jahres als Beistand zugeordnet gewesen war, so geliebt! Das sagten die Briefe, die der junge Pfarrer aus dem entfernten Städtchen geschrieben in einer sauberen, zierlichen Hand, welche sich immer gleich blieb, auch in dem letzten von den ersten zwölf, trotz ihres verzweifelten Inhalts. Nicht ganz verzweifelt. Er wußte ja, es war Gottes Ratschluß, der ihm diese entsetzliche Prüfung auferlegte, um seine Seele zu läutern!

Dann kam der dreizehnte Brief. Die Handschrift war weitaus nicht mehr so klar, wie die der früheren, besonders die Unterschrift, eigentlich schon unleserlich. Er war sehr kurz und lautete:

»Gott der Herr ruft mich zu sich in sein ewiges Reich. Sein Wille geschehe! Ich habe in diesen Tagen der großen Schmerzen nur ein Gebet gehabt, daß, wenn einst Deine Stunde kommt, die der Herr noch lange hinausschieben möge, wir uns wiedersehen da, wo keine Ehen geschlossen werden. So denn segne und behüte Dich der Herr und gebe Dir Frieden!

Dein bis in den Tod getreuer

Hermann August Bürger.«

Die Frau hatte diesen letzten Brief zu den anderen gelegt, das Paketchen mit dem zermürbten, schwarzen Bande zusammengebunden und das wieder verschlossene Kästchen zu seinem früheren Versteck im Schrank zurückgetragen, auch das Schlüsselchen an seine alte Stelle in der dunklen Ecke gelegt. Dann kam sie langsam zu dem Tischchen am Fenster zurück, ließ sich müde in den Stuhl sinken, legte die flachen Hände gegen das bleiche Gesicht und weinte lange bitterlich. Nein, in den Tod hatte sie den guten Menschen nicht getrieben! Er war ja immer so kränklich gewesen und hätte auch wohl nicht länger gelebt, hätte sie ihr Gelöbnis gehalten. Aber daß sie es nicht gehalten! Daß sie die Herzlosigkeit gehabt, eine so große Liebe zu mißachten, die Grausamkeit, den gläubig Vertrauenden ein halbes Jahr lang, während dessen ihr Herz bereits dem anderen gehörte, mit trügerischen Worten hinzuhalten, um ihm vier Wochen vor der angesetzten Hochzeit den Absagebrief zu schreiben, – wie konnte ihr das Gott im Himmel je vergeben! Hatte er es doch jetzt schon hier auf Erden an ihr gerächt! so hart gerächt! Was war aus der Glückseligkeit geworden, die sie sich an der Seite des schönen Mannes geträumt, in den alle Mädchen zwei Meilen in der Runde verliebt gewesen waren! Und hätte sie ihn doch wenigstens glücklich machen können! Vielleicht, wenn sie kräftig und hübsch geblieben wäre, anstatt daß sie angefangen zu kränkeln, gleich nachdem Justus geboren, und jetzt mit ihren fünfunddreißig Jahren bereits eine alte Frau war, – vielleicht! Aber er wäre wohl mit keiner glücklich geworden, der wilde Mensch, der mit aller Welt in Unfrieden lebte, zumal mit seinen Vorgesetzten, die er so tief unter sich glaubte, als wären sie die Untergebenen, und er sei der Herr Graf. Und was galt der Herr Graf ihm, dem vorher sein Herzog nichts gegolten hatte! Der Herzog, den er für seinen Vater hielt! Das war die Quelle seines ganzen Unglücks: diese Vaterschaft, die niemals bewiesen, niemals zu beweisen, niemals anerkannt und ganz gewiß ein leeres Geschwätz war: ein Märchen, daß man dem Unglücklichen eingeredet, oder er sich selber eingeredet hatte. Er ähnelte dem Herzog – das war ja richtig; alle Leute sagten es; und einer, oder der andere wollte sich erinnern, daß der Herzog bei seinen Jagden mit Vorliebe bei der hübschen Frau Försterin auf dem Nonnenkopf Einkehr gehalten. Was bewies das? Die Ehe der Förstersleute war eine durchaus glückliche gewesen; nie hatte der Mann sich über die Frau beklagt, nie hatte die Frau von ihrem Manne anders als mit Wohlwollen und Liebe gesprochen. Und was doch wohl für jeden Unbefangenen überzeugend sein mußte: der Herzog hatte nach dem Tode von Arnolds Vater wohl dem Sohne die Försterstelle gelassen; aber ihm nie ein besonderes Zeichen seiner Gunst gegeben. Im Gegenteil, war ihm wiederholt wegen seines widerspenstig trotzigen Wesens barsch begegnet, und hatte, als Arnold wieder einmal mit seinem Oberförster in Streit geraten war, gegen ihn entschieden, und daß er auf der Stelle fortzuschicken sei, mit der ausdrücklichen Bestimmung, er dürfe niemals wieder in die herzoglichen Dienste aufgenommen werden. Nein, so handelt kein Vater an seinem Sohne, auch wenn ihm der Sohn unbequem oder gar verhaßt ist! Für Arnold freilich war es ein zwingender Beweis gewesen, daß der Herzog sein Vater sei; und hatte er es den Leuten schon vorher schwer gemacht, mit ihm auszukommen, so machte er es ihnen jetzt schier unmöglich. An ihm hatte man sich versündigt, wie noch an keinem Menschen auf der Welt! Der Sohn des reichen Mannes, der mit seinen Schweinen aus dem Troge essen mußte, er war ein Taugenichts gewesen! Was aber hatte er gethan, ein solches Schicksal zu verdienen?

Was er gethan hatte? was er noch jeden Tag that! –

Die Frau ließ die Hände von dem Gesicht sinken; ein bitteres Lächeln zuckte um ihre Lippen. In ihres Vaters Pfarre war es gewiß recht einfach und die Försterei auf dem Nonnenkopf sicher kein herzogliches Schloß gewesen. Aber die Armseligkeit hier in diesem Hause, das mehr Hütte als Haus und mehr Stall als Hütte und jedenfalls eine Ruine war, die den Bewohnern über den Köpfen zusammenzubrechen drohte! Der Graf war ein harter Herr und kümmerte sich nicht um das Wohl seiner Leute. Wer hatte es so weit kommen lassen, daß man den Dienst bei dem harten Herrn noch als eine Gnade des Himmels empfinden mußte, der die armen umgetriebenen Hauslosen nicht hinter der Hecke am Wege enden lassen wollte! Und wie lange würde es hier noch währen!

Sie fuhr von dem Stuhle in die Höhe und irrte, die Hände ringend, in der Kammer hin und her. Was aus ihr selbst dann wurde – lieber Gott, wie lange konnte es denn mit ihr noch währen, wenn der alte Doktor ihr auch immer wieder Mut einzusprechen versuchte? Sie wußte es besser: es hatte schon zu lange an ihrem Herzen genagt. Aber ihr Justus! ihr armer Justus! den der Vater haßte, weil er gut und sanft war und seine unglückliche Mutter liebte! Ach, wie er sie liebte! und wie sie ihn liebte! ihr Einziges, ihr Alles auf dieser weiten, öden Welt! Wäre er nur erst durch die Schule! dann hätt's ja gehen mögen; dann würde er, der so gut und brav war, schon eher seinen Weg durchs Leben finden! Wußte sie doch von ihrem Vater, daß er mit keinem Pfennig in der Tasche auf die Universität gegangen war, und Gott, der den hungrigen jungen Raben Speise giebt, hatte ihn nicht verlassen! Aber bis dahin, wie lange noch! Wenn Arnold im Amte und sie am Leben blieb und so weiter sparen durfte – wieviel war's doch jetzt?

Noch einmal mußte der alte Schrank seine Geheimnisse offenbaren. Diesmal war's in einem oberen Schubfach und der Hüter des Schatzes ein ausrangierter Wollstrumpf; hundertneunundfünzig Mark! richtig! sie hatte ja die fünf, die sie am vorigen Sonnabend von dem Kaufmann Löb in T. für die letzte Stickerei erhalten, schon dazugelegt. Und für zweihundert jährlich wollte der Löb den Jungen zu sich ins Haus nehmen. Aber um diesen Schatz zusammenzubringen, hatte sie vier Jahre gearbeitet, und war so viel kräftiger gewesen, daß sie halbe Nächte hatte durcharbeiten können, bis Arnold aus dem Wirtshaus kam. Wenn sie nun nicht mehr arbeiten konnte! Arnold würde für den Jungen keinen Groschen haben. Die paar Thaler Zulage, die ihm der Herr Oberförster halb und halb versprochen, würden dahin wandern, wohin das andere auch wanderte. Und zu versetzen und zu verkaufen fand sich nichts mehr; auch dafür hatte Arnold gesorgt.

Gab es denn keinen Gott im Himmel, der sich ihrer in ihrer großen Not erbarmte? Hatte sie ihre Schuld noch immer nicht abgebüßt durch das grenzenlose Elend all dieser Jahre? Konnte der Allerbarmer die Schuld der Mutter rächen an dem unschuldigen Kinde? Sie betete ja nicht für sich, nur für ihr Kind! nur für ihr Kind!

Sie war an dem Stuhle auf die Kniee gesunken und, die Lehne umklammernd und das Gesicht auf die Hände drückend, betete sie inbrünstiglich. Da schlug Waldmann, der Teckelhund, der sich im Hofe sonnte, einmal scharf an. Sie fuhr empor. Arnold oder Justus konnten es nicht sein. Da hätte Waldmann nicht laut gegeben. Auch kein Fremder, da würde er wütend gebellt haben. Wohl jemand aus dem Pastorhause: Isabel, oder die Muhme, oder beide.

Mir scheint, es ist niemand hier; sagte eine laute Stimme in der Wohnstube.

Sie hatte recht geraten: es war die Muhme Anna aus dem Pastorhause.


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