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Armand hatte sich anfangs zu Isabel gehalten, dann aber zu seiner Schwester und Justus gesellt, da Isabel trotz seiner verdrießlichen Miene fortfuhr mit Miß Brown englisch zu sprechen, von dem er keine drei Worte verstand.
Warum sprechen Sie nicht weiter englisch? fragte Miß Brown, als Isabel, sobald Armand aus der Hörweite war, aus jener Sprache ins Deutsche fiel.
Ich wollte ihn nur fort haben, sagte Isabel.
Ich denke, Sie haben ihn gern?
Unbeschreiblich! sagte Isabel; ich bete ihn an.
Miß Brown lachte:
Wahrhaftig, sagte sie, Sie sind das sonderbarste Kind, das ich je im Leben getroffen habe. Und darum liebe ich Sie.
Und ich Sie.
Wie Master Armand?
Nein, ganz ehrlich.
Ich will Ihnen ausnahmsweise glauben.
Thun Sie das nicht immer?
Gott soll mich bewahren!
Sie meinen also, für gewöhnlich lüge ich?
Ich möchte es so nicht nennen; Sie spielen nur für gewöhnlich Komödie mit den Menschen.
Was soll man anders thun, wenn man eine geborene Komödiantin ist?
Sind Sie das?
Es haben es mir wenigstens schon verschiedene Menschen gesagt, unter anderen Sie selbst – eben noch.
Die Unterhaltung ging weiter bald englisch, das Isabel, trotzdem sie es eigentlich erst seit ihrem Aufenthalt auf dem Schlosse ernstlich getrieben hatte, bereits vortrefflich sprach; bald englisch und deutsch, wenn sie ihre Gedanken trotzdem besser deutsch wiedergeben zu können meinte. Miß Brown hatte vom ersten Moment an eine starke Zuneigung zu dem schönen, geistreichen Mädchen empfunden, das ihr um so merkwürdiger erschien, wenn sie bedachte, aus welchen elenden und widerwärtigen Verhältnissen es hervorgegangen war. Isabel hatte ihr gegenüber aus diesen Verhältnissen kein Geheimnis gemacht, und sie durch die Drolligkeit ihrer Mitteilungen bald zum Lachen gereizt und bald fast zu Thränen gerührt, wenn sie die moralische und wirtschaftliche Misère in ihres Onkels Hause in Farben schilderte, die vielleicht hier und da ein wenig grell aufgetragen waren. Immer aber hatte sie die Kraft und Elasticität eines Geistes angestaunt, den, wie es schien, nichts aus der Fassung bringen, nichts mutlos machen konnte, um so mehr als es gerade die Eigenschaften waren, vor denen sie den größten Respekt hatte und von denen sie selbst ein tüchtiges Teil zu besitzen sich bewußt war. So hatte denn etwas wie ein freimaurerischer Bund zwischen den beiden leicht geschlossen werden können, und Miß Brown fand es ganz in der Ordnung, als Isabel bei einer Wendung des Gespräches, in welcher sie auf gewisse Ereignisse in ihrem Leben angespielt hatte, plötzlich sagte:
Ich habe Sie immer bitten wollen, mir Ihr Leben zu erzählen. Bitte, thun Sie es!
Und ich würde es längst gethan haben, erwiderte Miß Brown, wenn es des Erzählens wert wäre. Übrigens ist es mit wenigen Worten geschehen. Ich bin von Eltern geboren, die nach deutschen Begriffen reich waren, und starben, als ich ungefähr sechzehn Jahre alt war. Ein Jahr später hatten mich schlimme Verwandte um mein ganzes Vermögen gebracht. Ich habe mich seitdem durch das Leben drücken müssen, erst bei anderen Verwandten, die auch nicht gut waren, dann unter fremden Leuten als Governeß in England, Frankreich, Deutschland, bis heute, wo ich, wie Sie wissen, bald achtundzwanzig bin, daß heißt beinahe Ihre Mutter sein könnte.
Ich bin froh, daß ich keine habe, sagte Isabel.
Sie versündigen sich.
Mag sein, aber Mütter sind schrecklich. Sie fragen einem alles ab. Justus hat eine; sie ist furchtbar. Die gute sanfte Frau! Gerade darum.
Kind, Sie werden noch einmal ein Verbrechen begehen.
Ich glaube nicht; Verbrecher sind dumm. Aber auf Sie zurückzukommen: Haben Sie nie geliebt?
Miß Brown wäre fast in ein lautes Gelächter ausgebrochen, aber Isabel fuhr ganz ernsthaft fort: Sie müssen doch sehr schön gewesen sein. Das heißt: Sie sind es noch, und wollte sagen: Sie müssen doch immer sehr schön gewesen sein.
Kind, sagte die Miß lächelnd, das ist ein Thema, das sich zu einem Gespräch für uns nicht schickt.
Warum? entgegnete Isabel immer in demselben ernsthaften Ton. Ich habe schon so viel geliebt: erst einen goldgelben Kanarienvogel mit grüngoldener Tolle, – den habe ich verhungern lassen; dann eine schöne Angorakatze, die starb an einer vergifteten Maus; dann einen großen Bernhardiner, der Justus' Vater gehörte: er wurde toll und mußte erschossen werden; dann –
Hören Sie auf, oder ich lache mich tot!
Das ist gar nicht zum Totlachen, wenn man immer so unglücklich liebt, wie ich. Haben Sie auch immer unglücklich geliebt?
Über Miß Browns schönes Gesicht zog eine trübe Wolke: Wir sprechen vielleicht ein andermal davon, sagte sie.
Schade! es wäre jetzt so schöne Zeit. Die beiden hinter uns stecken noch immer die spitzen Nasen zusammen, und Sibylle und Justus werden so bald nicht fertig, wenn sie sich erst einmal über Religion und Poesie warm geredet haben. Schade, daß er kein reicher Graf ist; sie heirateten sich gewiß. Mir sollte es recht sein. Ich gönne ihm das Beste, und Sibylle ist tausendmal besser als ich. Vielleicht ein bißchen langweilig; aber das merkt so ein Poet ja nicht.
Sind wir ein wenig eifersüchtig, Miß Isabel?
Ganz und gar nicht. Ich bin seine Fee.
Was heißt das?
Er hat ein wunderhübsches Märchen gedichtet, in welchem ein armer Junge eine Fee liebt. Die Fee bin ich.
Miß Brown hatte auf der Zunge: Sie werden noch die geliebte Fee vieler armen und reichen Jungen und Männer sein; aber sie verschluckte es und sagte statt dessen:
Können Sie mir das Märchen erzählen?
Nein, ich habe es immer nur stückweise gehört; aber er soll es uns erzählen.
Wird er es thun?
Er thut alles, was ich ihm sage. – Still! da ist Armand wieder.
Es ist zum Verzweifeln! rief Armand. Ihr beide sprecht englisch und die beiden da vorn von Religion und Poesie. Worüber lachen die Damen?
Über Ihr verdrießliches Gesicht, sagte Isabel; bleiben Sie hier, Armand! Wir wollen von jetzt an deutsch sprechen. Also von Religion und Poesie unterhalten sie sich. Was war es denn?
Keine Ahnung! rief Armand, und ich pariere, daß sie es selber nicht wüßten, wenn man sie fragte. –
Inzwischen waren Justus und Sibylle, in ihr Gespräch vertieft, eifrig vorangeschritten.
Mein Bruder mag dergleichen nicht hören, sagte Sibylle, sobald Armand den Rücken gewandt hatte. Er thut mir leid. Ich meine, daß Menschen, denen die Religion nicht Herzenssache ist, recht arm sind.
Sie wissen, Komtesse, –
Nennen Sie mich nicht Komtesse, wenigstens nicht, wenn wir allein sind! Nennen Sie mich Sibylle, wie ich Sie Justus! Was wollten Sie sagen?
Ich wollte sagen, ich weiß nicht, ob mir die Religion Herzenssache ist. Sie können nicht einschlafen, ohne vorher gebetet zu haben; und wenn Sie aufwachen, sagen Sie, ist Ihre erste Empfindung, beten zu müssen. Ich habe, glaube ich, seit zwei Jahren nicht gebetet.
Auch in der Kirche nicht?
Ich komme erst wieder in die Kirche, seitdem ich bei Ihnen bin. Früher ging ich öfter mit meiner Mutter in die Kirche in T., weil in Eisenhammer, wissen Sie, keine protestantische ist. Aber der Weg ist so weit und meine Mutter sehr kränklich. Sie hat es aufgeben müssen. Und Pfarrer Szonsalla, nachdem ich früher ein paarmal in seiner Kirche gewesen war, hat mich gebeten, lieber nicht zu kommen.
Warum?
Ich weiß es nicht.
Und beten Sie jetzt, wenn Sie mit uns in der Kirche sind?
Ich versuche es; aber es will mir nicht recht gelingen.
Vielleicht beten Sie, ohne es zu wissen.
Kann man das?
Ich glaube, ja. Mama hat in ihrem Schlafzimmer ein großes Kruzifix von Elfenbein an der Wand und ein Betpult davor. Aber das ist gar nicht notwendig. Ich gehe oft hier durch den Park, und die Blumen nicken im Winde, und die Sonne scheint so golden; oder wir fahren durch den Wald, und es rauscht da so feierlich und ist so still und kühl, und ich sitze so für mich in der Wagenecke und spreche kein Wort und meine auch, denke an gar nichts, und hernach weiß ich doch, daß ich gebetet habe.
Wenn Sie es so meinen!
Nicht wahr? Sie wären auch sonst kein Dichter.
Ich weiß nicht, ob ich einer bin; ich möchte nur gern einer sein.
Aber Sie haben ja schon so schöne Gedichte gemacht, und Isabel sagt, Sie haben jetzt ein großes Märchen fertig. Ist es wahr?
Wenn Isabel es gesagt hat, obgleich es nicht recht von ihr ist.
Warum nicht? Ich sagte Ihnen schon, als wir uns das erste Mal begegneten, wie gern ich selbst Gedichte machen würde und Märchen und andere solche schöne Sachen.
Wenn man, wie Sie meinen, beten kann, ohne es zu wissen, so ist es mit dem Dichten vielleicht nicht anders.
Ich weiß nicht. Ich will es nur gestehen, ich habe ein paarmal versucht, meine innerlichen Gebete hernach aufzuschreiben. Ich meinte auch manchmal, es sei mir gelungen. Aber es war es doch nicht. Es war entweder etwas ganz anderes, oder, wenn es dasselbe zu sein schien, sobald es auf dem Papier stand, kam es mir kalt und trocken vor, und ich hatte es in meinem Herzen so warm gefühlt.
Das ist bei dem Dichten ebenso. Ich bin immer unzufrieden mit dem, was ich aufgeschrieben habe.
Ist das möglich, wenn Sie doch anderen damit eine solche Freude machen?
Ich hätte auch gewiß Freude an Ihren aufgeschriebenen Gebeten.
Ich weiß es nicht. Wenn es mir selbst schon nicht genügt, wie könnte es anderen genügen? Ich glaube, beten kann man nur in seinem Herzen und für sich allein.
Warum gehen Sie dann in die Kirche?
Über das feine blasse Gesicht der jungen Dame zog eine flüchtige Röte. Sie wandte den Kopf, sich zu vergewissern, daß sie noch immer allein waren, und sagte mit leiser hastiger Stimme:
Ich habe es noch niemand auf der Welt gesagt: ich gehe gar nicht gern in die Kirche, ja, es kostet mich jedesmal eine Überwindung. Was der Prediger sagt, ist gewiß gut gemeint; aber – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – es ist, als ob jemand anders das Wasser trinkt, nach dem mich dürstet. Ich gönne es ihm von ganzem Herzen, aber meinen Durst löscht es nicht. Und dann – Sie werden mich gewiß für stolz halten, aber es ist kein Stolz – ich bin so gern mit Gott allein, und wenn sich da so viele Menschen zu ihm drängen, meine ich, du kannst ein anderes Mal kommen; jetzt hat er genug mit diesen zu thun. Das ist gewiß sehr kindisch. Gott ist allwissend und allmächtig, und wenn er das Gebet der anderen hört, wie er doch sicher thut, würde er das meine ebenso hören. Was haben Sie?
Justus antwortete nicht, konnte nicht antworten. Es war einer jener Momente, wie sie ihm manchmal kamen, wo alles um ihn her eine andere Gestalt anzunehmen schien. Diesmal war, was er sah, ein endloser Wiesenplan voll von bunten Blumen, der von dem rosigen Licht einer Sonne, die hinter ihm zu stehen schien, überhaucht war. Neben ihm aber schwebte eine Gestalt, die Komtesse Sibylle war und es auch wieder nicht war, sondern ein Engel, obgleich die Gestalt keine Flügel hatte, und er sie auch nur an dem himmlischen Ausdruck ihrer Züge als überirdisch erkannte.
Was haben Sie? wiederholte das Mädchen, das die Starrheit seiner Augen erschreckte.
Die Vision war verschwunden; er strich sich über die Augen. Wo sind wir? sagte er.
Sie standen unter hohen uralten Eichen, die im Kreise einen runden Platz eingeschlossen, in dessen Mitte eine kleine Kapelle lag. Es war das Mausoleum, welches die Mutter des Grafen für den verstorbenen Gemahl und für sich selbst hatte errichten lassen. Justus war niemals hier gewesen, obgleich die Kapelle noch im Park und in unmittelbarer Nähe des sogenannten alten Schlosses lag, das, ursprünglich ein Cistercienser Kloster, in der That den Grafen Waldburg bis zur Erbauung des neuen Schlosses als Wohnung gedient hatte, und jetzt, zum Teil wenigstens, zur Behausung verschiedener gräflicher Beamten, auch des obersten derselben, eingerichtet war, während der Rest des ungeheuren Gebäudes leer stand.
So erklärte Doktor Müller Justus. Er hatte sich beeilt, mit Mademoiselle Margot heranzukommen, da die immer tiefer ziehenden Wolken einen Regen herabsenden zu wollen schienen. Auch war die ganze übrige Gesellschaft jetzt beisammen. In den Rieseneichen begann es zu knarren und zu knacken. Die Thür zu der Kapelle hatte der Mann, der drinnen mit Reinigen beschäftigt war, offen gelassen. Man trat ein und fand sich fast im Dunkeln, da das geringe Licht, welches die Eichen noch durchließen, von den farbigen Scheiben der schmalen gotischen Fenster beinahe aufgezehrt wurde. Erst als sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt, traten die Konturen der beiden hingestreckten Marmorgestalten auf dem niedrigen Postament deutlicher hervor. Man umstand die Gruppe, welche sich in der Halbnacht um so befremdlicher ausnahm, als der Künstler die Gräfin in wallenden Gewändern mit einer seltsamen nonnenhaften Kopfbedeckung und den Grafen in der vollen Rüstung eines Turnierritters mit langem Schwert und bebuschtem Helm zur Seite dargestellt hatte. Auf Wunsch der Gräfin, erklärte Doktor Müller, die, wie begreiflich und löblich, für das Mittelalter geschwärmt habe. Der gelehrte Herr war im Begriff, daran eine genealogische Übersicht der Generationen zu knüpfen, die dem hier in Gott ruhenden hohen Paare vorausgegangen waren, als das hohe Paar selbst zu einem gespenstischen Leben zu erwachen schien im grellen Scheine eines Blitzes, der die ganze Kapelle mit seinem fahlen Lichte erfüllte, um dann das Halbdunkel für ein paar Momente zur völligen Finsternis zu machen. Ein gewaltiger Donner folgte fast unmittelbar, schnell heranrollend, mit einem letzten betäubenden Schlage, wie es schien, unmittelbar über der Kapelle. Während die anderen ihren Schrecken still überwunden hatten, war die Genferin mit einem lauten Schrei dem Doktor in die Arme gefallen.
Schnell, schnell! rief Armand; wir kommen wohl noch trocken hinüber.
Er stürzte voraus, die anderen folgten. In den Eichen raste der Sturm, ein paar große Regentropfen fielen. Glücklicherweise waren es nur wenige Schritte bis zum hinteren Eingang des alten Schlosses. Dann wurde auch noch der weite Hof von den Flüchtigen glücklich passiert; aber man hatte kaum den unteren säulengetragenen Flur des Vordergebäudes erreicht, als das Unwetter mit Vollgewalt losbrach.
Man wünschte sich Glück, der Gefahr entronnen zu sein. Isabel berührte Justus leicht mit dem Ellbogen:
Du, Sonntagskind!
Ja?
Hast Du die beiden langen Nasenspitzen von dem Doktor und seiner Schönen gesehen, als es blitzte?
Nein.
Dann hast Du gar nichts gesehen.