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Die Gesellschaft blieb keine Minute allein in der hohen, vorn offenen Halle. Von der Landstraße her, welche unmittelbar an dem Klosterschlosse vorüberführte, kamen Leute herein, die gleicherweise vor dem Unwetter eine Zufluchtsstätte suchten, in ihren dürftigen, von Lehm und Ruß beschmutzten und jetzt vom Regen durchweichten Anzügen unerfreulich anzusehen. Andere von draußen drängten nach, unter ihnen auch einzelne Weiber, – alle vor Nässe triefend.
Das kann mit der Zeit noch ganz nett werden, sagte Armand. Ich denke, wir hätten es oben bei Direktors besser.
Wenn du hinaufgingst und uns anmeldetest? sagte Sibylle.
Wir brauchen uns doch nicht erst anmelden zu lassen! rief Armand.
Ich bitte Dich.
Fällt mir gar nicht ein!
In diesem Augenblicke entstand unter den Leuten in dem vorderen Teile der Halle ein Gedränge; man konnte bei der mangelhaften Beleuchtung nicht unterscheiden, um was es sich handelte. Justus war auf einen bittenden Blick Sibylles an den Knäuel herangetreten, zu sehen, was es gäbe. Er kam sofort wieder zurück.
Eine alte Frau aus Eisenhammer, sagte er; man hat sie auf der Chaussee überfahren. Und dann, sich zu Isabel wendend: die alte Kubitzka!
Deine Hexe? Wie merkwürdig! Was willst Du, Sibylle?
Sehen, ob ich helfen kann, erwiderte Sibylle.
Bleiben Sie, Komtesse! sagte eine Dame, die aus der Thür, welche die Treppe in das obere Stockwerk verschloß, herausgetreten war und plötzlich neben ihnen stand. Überlassen Sie das mir! und ich möchte die Herrschaften bitten, inzwischen hinaufzugehen; ich hoffe bald bei Ihnen zu sein.
Der Ton, in welchem die junge Frau sprach, war bei aller Bescheidenheit auffallend fest und ruhig. Sibylle verbeugte sich und ging voran, während die anderen folgten mit Ausnahme von Justus, der zurückblieb.
Sie ist aus meinem Dorf, sagte er zur Erklärung für die junge Frau.
Er hatte die Frau Direktor Körner noch nie gesehen, so wenig wie sie ihn. Sie wußten aber beide, wer der andere war, und zu überflüssigem Reden hatten sie so wenig Lust als Zeit.
Die Frau Ober-Direktor! murmelten die Leute, als sie zwischen sie und an die Alte herantrat, die, von ein paar Weibern gestützt, auf den Steinfliesen der Halle lag. Ein halbes Dutzend Stimmen beeiferte sich, auf Deutsch und Polnisch zu berichten, wie es so gekommen war: ein betrunkener Bauer war mit seinem Einspänner die Chaussee dahergerast gekommen, ohne aus der Decke, die er sich über den Kopf gezogen, nach rechts und links zu sehen. Die lang hervorstehende Deichselstange hatte die Alte erfaßt und umgestoßen; ein Rad hatte die Stirn gestreift; an den Gliedern, die man bereits sämtlich befühlt hatte, sei sie so heil, wie andere Leute auch.
Tragt sie da hinein! sagte Frau Körner, auf eine Thür zu ebener Erde deutend.
Man hob die Alte auf, die mit dem von Blut und Schmutz entstellten Gesicht in der That einen greulichen Anblick gewährte. Ein kleines, unansehnliches polnisches Mädchen im Dienst der Frau Direktor hatte Wasser, Handtücher, Leinenbinden gebracht. Es stellte sich heraus, daß es sich eigentlich nur um eine tüchtige Schramme auf der Stirn handelte, und ein Schluck Branntwein genügte, die Alte aus ihrer Betäubung aufzuwecken. Sie richtete sich sofort auf dem Ellbogen auf, ließ die roten Augen verwundert umherschweifen, bis der Blick auf den Gestalten der Frau Direktor und Justus', die vor ihr standen, haften blieb. Sie grinste und murmelte ein paar polnische Worte. Das Dienstmädchen kicherte.
Was hat sie gesagt? fragte Frau Körner.
Ich kann es nicht sagen! murmelte das Mädchen, den großen Mund im Lachen verziehend, daß man sämtliche weißen Zähne sah. Dann lassen Sie's!
Das heißt, sagen kann ich's schon: die gnädige Frau und der junge Herr würden noch einmal ein Paar werden.
Justus wurde rot.
Es ist das so eine Redensart von ihr, sagte er entschuldigend.
Wir brauchen keines mehr zu werden, sagte die junge Frau. Wir sind es schon: ein Paar barmherziger Samariter.
Sie hatte sich zu dem Mädchen gewandt, dem sie leise einige Instruktionen gab. Dann sagte sie zu Justus:
Wir können jetzt hinaufgehen. Sie dürfen ganz ruhig sein; es ist für alles gesorgt. Die alte Frau wird über Nacht hier bleiben; Gefahr mit ihr hat es gar nicht.
Als sie in die Halle zurückkamen, fanden sie sie, bis auf wenige Nachzügler, leer, trotzdem draußen Sturm und Regen mit womöglich noch größerer Gewalt weiter wüteten.
Wie gefällt es Ihnen drüben im Schlosse? fragte Frau Körner, als sie nebeneinander die breite Treppe zu dem ersten Stock hinaufstiegen.
Sehr gut.
Das freut mich. Welch ein schönes Mädchen die Isabel ist! Ich habe sie seit ein paar Monaten nicht gesehen; zwei von meinen Kindern waren krank, ich bin gar nicht aus dem Hause gekommen. Die Komtesse ist seitdem wieder gewachsen; sie hat ein liebes Gesicht.
Es klang das alles so vertraut in Justus' Ohr; ihm war, als ob aus diesem Munde nichts kommen könne, zu dem man nicht Ja und Amen sagen müsse. Welch ein schönes Mädchen die Isabel ist! Freilich! Und die Komtesse hat ein liebes Gesicht! Nun, er hatte das Gesicht noch vorhin erst wie von himmlischem Glanz verklärt gesehen. Dabei warf er dann verstohlen einen Blick in das Gesicht der Dame. Es hatte nichts von der Schönheit Isabels oder der Schwärmerei in Sibylles blassen Zügen; es war eher unregelmäßig mit seiner breiten Stirn und dem etwas zurückweichenden Kinn, aber es gefiel Justus trotzdem außerordentlich; auch bemerkte er ihre schlanke, über die Mittelgröße hinausgehende Gestalt und die Elasticität und gleichmäßige Kraft ihrer Bewegungen um so mehr, als die kleine Isabel immer nur sprang, wenn sie nicht ruhte, und der Gang und die Gesten der Komtesse stets etwas Abgespanntes, Müdes hatten.
Auf dem Flur oben kam ihnen ein Diener entgegen, dem Frau Körner einige Befehle gab. Dann führte sie Justus in ein bereits erleuchtetes großes Zimmer, in welchem sich die anderen befanden, die sie jetzt als Wirtin begrüßte, jedem in ihrer ruhigen Freundlichkeit die Hand reichend. Es war ein Zufall, daß Armand zuletzt an die Reihe kam. Isabel machte es Spaß, zu sehen, wie er unwillig die Lippen schürzte und sich mit böser Miene nach dem Fenster wandte.
Ich denke, wir können nun wieder gehen, sagte er.
Ein neuer Guß klatschte gegen die Scheiben; man sah in dem weißen Lichte eines starken Blitzes, wie die alten Bäume, die vor dem Fenster aufragten, vom Sturm zerzaust wurden.
Das Wetter scheint anderer Meinung zu sein, sagte Frau Körner lächelnd. Ich denke, die Herrschaften nehmen inzwischen Platz. Mein Mann ist über Land; Sie müssen mit mir vorlieb nehmen. Da kommt schon der Thee.
Der Diener und ein hübsches Dienstmädchen kamen mit einem Samowar und einer Platte mit Tassen und sonstigem Geschirr. Ein eleganter Theetisch war alsbald bereit. An Sofas und Fauteuils fehlte es nicht in dem großen schönen Gemache, dessen Behaglichkeit durch das Feuer in dem breiten Kamin, das der Diener schnell entzündet hatte, noch vermehrt wurde. Frau Körner, den Thee einschenkend, beruhigte Sibylle, die sich nach der verwundeten Frau erkundigte, und rühmte ohne Übertreibung Justus' Eifer und Anstelligkeit bei der Hilfsleistung.
So ist er immer, sagte Isabel; er kann keine Fliege leiden sehen, und für seine Hexe konnte er nun schon gar nicht weniger thun.
Für seine Hexe? fragte Frau Körner verwundert.
Aber Isabel! rief Justus.
Isabel hatte Frau Körner ein paar Worte zugeflüstert, zu denen diese lächelte. Justus war froh, daß Isabels Indiskretion sonst unbemerkt vorübergegangen zu sein schien. Sibylle sprach die Befürchtung aus, die Eltern möchten sich ängstigen. Auch hier hatte die Frau Direktor bereits vorgesorgt: ein Bote war in das Schloß hinübergesandt mit der nötigen Meldung. Sollte der Weg durch den Park, wie zu befürchten stehe, grundlos werden, so könne man jeden Augenblick aus den ganz in der Nähe befindlichen Remisen und Ställen Wagen und Pferde requirieren.
Schlimmsten Falls, fuhr sie lächelnd fort, könnte ich auch für die Nacht Rat schaffen. Vorläufig, bis der Sturm nachläßt, sind Sie meine Gefangenen.
Ich lasse mir die Gefangenschaft gern gefallen, sagte Isabel, ihre kleine Gestalt in dem großen Fauteuil zurücklehnend.
Ich denke an die armen Menschen, die nun auf der Landstraße umherirren, sagte Sibylle.
Ich hätte sie gern länger unten in der Halle behalten, sagte Frau Körner; aber die Leute können nicht warten. Es sind Arbeiter aus den Gruben, die zur Nachtschicht pünktlich zur Stelle sein müssen, oder die zu Hause erwartet werden.
Nun, verehrte Frau Direktor, sagte Doktor Müller, zum Glück sind sie an dergleichen Kalamitäten gewöhnt.
Wenn es ein Glück ist, an Kalamitäten gewöhnt zu sein, erwiderte Frau Körner.
In einem Sinne gewiß, verehrte Frau: Kalamitäten führen zu Gott. Wen Gott lieb hat, den züchtigt er.
Und wen der Mensch lieb hat, den verzieht er, warf Isabel Mit einer Bewegung der Spitzen ihrer niedlichen Stiefelchen trocken ein. Justus und Sibylle lächelten einander an; Armand schaute finster drein, während Doktor Müller und Mademoiselle Adelaide bedeutungsvolle Blicke wechselten.
Was haben Sie gesagt, böses Kind? fragte Miß Brown.
Frau Körner übersetzte es ihr in fließendem Englisch. Sie hatte bereits vorher nicht minder fertig und korrekt mit der Genferin französisch gesprochen.
Jedenfalls, fuhr sie, sich alsbald wieder zu Doktor Müller wendend, fort: ist es ein fragliches Glück. Nach meiner Erfahrung ist es eines, das mindestens ebenso oft von Gott fort, wie zu ihm hinführt.
Sie sprechen nicht aus persönlicher Erfahrung, gnädige Frau?
Nur aus den Erfahrungen, die ich hier in einem Maße gemacht habe, das mir oft genug das Herz beklemmt.
Das letztere doch wohl nicht ganz mit Recht, sagte der Doktor. Ich meine, wir müssen in der üblen weltlichen Lage, in welcher sich unleugbar so viele unserer Mitmenschen befinden, einen Ratschluß Gottes sehen.
Dann begreife ich nicht, erwiderte die junge Frau, warum alle gute Menschen aus allen Kräften bemüht sind, diese Lage zu verbessern, das Unglück zu mildern, wo möglich aus der Welt zu schaffen.
Auch darin sehe ich wieder den Ratschluß Gottes, der den Nachfolgern des Herrn so reichliche Gelegenheit bietet, die höchste der Tugenden, ich meine: Barmherzigkeit zu üben.
Ich fürchte, wir gelangen da an die Quadratur des Cirkels, erwiderte Frau Körner lächelnd; und wenn wir beide auch sicher das Problem lösen würden, so dürften uns die jungen Herrschaften wenig Dank wissen. Wie wär's mit einem Gesellschaftsspiele? Tellerdrehen, wenn es die Komtesse nicht zu sehr anstrengt?
Ich fürchte, ja, entgegnete Sibylle, die noch bleicher als gewöhnlich war.
Dann Geschichten erzählen, sagte Frau Körner.
Ach, ja, ja! rief Isabel, in die Hände klatschend.
Fangen Sie nur an, Fräulein Isabel! Sie wissen gewiß Geschichten dutzendweis.
Ich? keine einzige. Dafür ist Justus da. Der schüttelt sie aus den Ärmeln. Er soll uns sein neues Märchen erzählen – das von dem Ogre und der Fee und dem jungen Jäger.
Das wäre prächtig, sagte Frau Körner.
Ich hörte es so gern, murmelte Sibylle.
Justus saß erschrocken da. Er hatte es freilich neulich auch dem alten Anders erzählt; aber das war im Walde gewesen, wo er es für Isabel gedichtet. Für sie allein, und es dünkte ihm befremdlich und unrecht, daß er, was doch nur ihr gehörte, auch an andere geben sollte. Er warf einen bittenden, vorwurfsvollen Blick auf sie. Sibylle war dieser Blick nicht entgangen.
Wenn Justus es nicht gern thut, wollen wir ihn nicht quälen, sagte sie.
Er thut es gern, rief Isabel.
Sie hatte auf dem Spaziergang zu Miß Brown gesagt, daß Justus alles thue, was sie ihm sage, und sie sah die lachenden Augen der Dame mit einem schalkhaft spöttischen Ausdruck auf sich gerichtet.
Aber so fange doch endlich an! rief sie ungeduldig.
Justus konnte in seiner Bestürzung keinen Entschuldigungsgrund finden. Und dann: sie wollte es! Wie durfte er da zögern!
Ohne weitere Einleitung begann er seine Erzählung, zuerst leise und hastig sprechend, als habe er ein Versäumtes nachzuholen; dann lauter und bedächtiger in dem instinktiven Ehrgeiz des Künstlers, der, wenn er sich, nach obligatem Sträuben, engagiert weiß, seine Sache nun auch so gut wie möglich machen will.