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Sechstes Kapitel.

Wenn kein Bild aus einem Märchen, so war es doch auch keines aus der ihm sonst bekannten Welt, das Schauspiel, das sich seinen Augen bot, als er jetzt an den Rand des Waldes gelangt war und unwillkürlich zögernd stehen blieb. Er hatte der Fütterung der Tiere schon wiederholt beigewohnt und wußte genau, wie es dabei zuging: die Tiere strichen auf die Lockrufe des Hornes erst einzeln, dann in Rudeln und Scharen von allen Seiten aus dem Walde; die Volleber, groben Sauen und überhaupt die großen Tiere bekamen ihr Futter auf dem Platze; die Halbschweine drängten sich durch die Gitterstäbe in einen Verhau, in welchem ein zweiter Verhau mit engeren Durchlässen eingeschachtelt war, durch die sich die Frischlinge drängten, um wieder von einem innersten Verhau ausgeschlossen zu sein, dessen dichte Vergitterung nur den ganz jungen Wurf zwischen den Stäben durchschlüpfen ließ. Nach einer Stunde war alles gethan, die Tiere hatten sich wieder bis auf ein paar Nachzügler in den Wald zurückgezogen, und die Männer – der Vater, ein zweiter Förster und ein paar Forstläufer – durften nach Hause gehen. Die Tiere waren auch heute so ziemlich alle verschwunden; aber der große, fast kreisrunde Platz bot einen Anblick, der den armen Jungen jäh aus seinem Märchentraume weckte und ihn fühlen ließ, daß ihm der Wald doch wohl nicht gehöre. Da, wo er aus dem Walde an den Rand der Lichtung getreten war, standen sechs oder sieben Wagen – alles gräfliche, wie er an den Livreen der Kutscher sah, dazu noch ein oder zwei Küchenwagen, zwischen denen und der langen niedrigen Tafel, die vor der Jagdhütte an der der anderen Seite gedeckt war, und an der die Gesellschaft saß, Diener geschäftig hin und her liefen. Von dieser Tafel durch einen größeren Zwischenraum getrennt war ein ungedeckter Tisch – ein paar Klötze, über die man zwei oder drei lange Bretter gelegt hatte – für die niederen Forstbeamten, während der alte Herr Oberförster an dem Herrentische Platz gefunden. Es waren auch noch Waldhüter und Arbeiter da, die unter der Aufsicht des Specialkollegen seines Vaters farbige, bereits angezündete Ballons an vorspringenden Zweigen der ringsum ragenden Bäume befestigten, obgleich das Abendrot noch in den obersten Wipfeln glühte. Auch ein halbes Dutzend Reitpferde, die er anfangs nicht bemerkt hatte, sah Justus jetzt am Ausgange der auf den Platz mündenden breiten Schneise, wo sie von den Knechten hin und her geführt wurden. Das eine scheute und schlug wütend aus, als eben ein großer Eber – der letzte auf dem Plane – grunzend an ihm vorbei in den Wald trabte.

Justus hatte vollauf Zeit, das alles zu überblicken und zu beobachten; niemand kümmerte sich um ihn. Es würde ihn das nicht gekränkt haben: wer sollte sich um ihn kümmern, außer der einen, einzigen; außer ihr, die er da an dem unteren Ende des Herrentisches sitzen sah, zwischen noch vier oder fünf Knaben und Mädchen unter Aufsicht von ein paar Damen und Herren, die wohl Gouvernanten und Erzieher sein mochten. Sie saß von ihm abgewandt, aber er hatte sie sofort erkannt, wenn sie ihm auch in diesem Kleide und mit diesem Hütchen ein wenig fremd erschien. Sie wußte gewiß nicht, daß der letzte Hornruf ihm gegolten, und daß er nun dastand, keine fünfzig Schritte von ihr entfernt, und nicht Hunger und Durst und keine andere Empfindung hatte, nur den einen Wunsch, ihr einmal wieder in das liebe Gesichtchen sehen, nur einmal wieder ihre süße Stimme hören zu dürfen.

Inzwischen hatte ihn der Vater entdeckt, der an dem Förstertische gesessen hatte und ihm jetzt ein paar Schritte entgegen ging. Er mußte getrunken haben. Justus sah es auf den ersten Blick; nicht an dem Gange, der so straff war wie immer, aber an den blutunterlaufenen Augen und an der roten Wolke auf der Stirn zwischen den Augenbrauen.

Wo hast Du so lange gesteckt? war seine barsche Anrede.

Ich bin gleich gekommen, erwiderte Justus.

Du hättest ebensogut wegbleiben können, sagte der Vater murrend. Und dann durch die Zähne:

Das vornehme Pack! Pah! Nun, willst Du nicht hingehen und Dein Kompliment machen?

Muß ich? fragte Justus schüchtern.

Sie haben vorhin nach Dir gefragt. Haben's wohl mittlerweilen vergessen. Wenn sie Dich sehen wollen, können sie noch einmal fragen.

Damit hatte er sich wieder zu dem Tische gewandt, von dem er vorhin aufgestanden war. Er setzte sich rittlings auf die Bank, und Justus sah, wie er ein Glas Bier hinunterstürzte. Ein banges Gefühl überkam den Knaben, als ob ein Unglück in der Luft liege, das alsbald losbrechen werde. Oder war es auch nur, daß, nachdem sich der Vater von ihm gewandt, und er so offenbar für keinen Menschen hier vorhanden war, er sich so verlassen und verstoßen vorkam, wie ein Stein am Wege? That er nicht am besten, still davon nach Hause zu schleichen? Aber wenn die gräflichen Herrschaften nun doch noch nach ihm fragten? Und einmal mußte ja die Tafel ein Ende nehmen; man würde aufstehen und sie sich umwenden, so daß er ihr wenigstens ins Gesicht sehen konnte.

Ein Kollege von seinem Vater hatte ihn jetzt bemerkt und rief ihm zu, heranzukommen, indem er zugleich ein volles Glas Bier in die Höhe hielt. Justus schüttelte den Kopf und schlich an den Waldrand zurück hinter die Wagen, zwischen denen hindurch er einen Blick auf das Ende der Tafel hatte, wo sie saß. Da kauerte er auf einen Baumstumpf und starrte in die Scene, die jetzt von den überall angezündeten Papierlaternen, den Windlichtern auf der Tafel und dem Vollmond, der über den Waldrand aufgegangen, hell genug erleuchtet war, und die er doch manchmal nur wie durch einen dicken Flor sah vor den Thränen, die ihm in die Augen traten, und die er jedesmal schnell und zuletzt zornig zwischen den Wimpern zerdrückte. Drei Wochen hatte er auf sie geharrt; seit gestern abend, als der Vater die Nachricht brachte, daß die Herrschaften heute kommen würden, hatte er kaum mehr geschlafen, und da war sie – nicht für ihn! für die anderen, zu denen sie jetzt gehörte, und für die der arme Försterjunge nicht existierte! Er drückte die Hände in die Augen und hätte sich auch am liebsten die Ohren zugehalten, nichts mehr zu hören und zu sehen.

Ein Anruf aus seiner nächsten Nähe machte ihn aufblicken. Vor ihm standen zwei Damen: eine erwachsene mit einem länglichen, anmutigen Gesicht, und eine andere, die beinahe ebensogroß wie die erste war, aber noch nicht ganz lange Kleider trug. Sie hatte sehr dunkles Haar und große blaue, ernste Augen. Justus hatte Komtesse Sibylle nie gesehen, aber er wußte sofort, daß sie es war: Isabel hatte sie ihm oft geschildert und gesagt: sie sei bös häßlich. Justus fand das nicht; besonders als die Komtesse ihn mit den großen ernsten Augen jetzt freundlich anlächelte und mit leiser, schüchterner, etwas tiefer Stimme sagte:

Sie haben so schön geblasen; ich wollte Ihnen dafür danken. Auch meine Mama hat schon vorhin nach Ihnen gefragt. Wollen Sie sich nicht zu uns an den Tisch setzen? Isabel hat mir so viel von Ihnen erzählt.

Dabei reichte sie ihm ihre Hand, die Justus noch einmal so groß als Isabels Kinderhändchen schien, aber weich und warm in seiner kalten Hand lag. Auch die Gouvernante sagte jetzt ein paar Worte, die Justus nicht verstand, weil sie englisch waren, und dann noch ein paar, die er ebensowenig verstand, obgleich sie deutsch sein sollten. Die Komtesse lächelte – diesmal über das ganze blasse Gesicht, aber nur für einen Moment – und sagte, Miß Brown bäte ihn ebenfalls, mit ihnen an den Tisch zu kommen. So ging er denn mit ihnen, das Waldhorn in der einen, die Mütze, die er nicht wieder aufzusetzen wagte, in der anderen Hand.

Als sie sich dem unteren Ende des Tisches, wo die jungen Leute saßen, näherten, sprang ein schlanker Knabe, der neben Isabel gesessen hatte, auf und kam ihnen lebhaft entgegen. Er war gut einen halben Kopf größer als Justus, obgleich er nur ein Jahr älter sein mochte; Justus wußte, daß es der junge Graf Armand war: er hatte ihn schon früher gesehen, wenn auch nie aus der Nähe, wie jetzt. Isabel hatte ihm stets seine Schönheit gerühmt; er konnte ihn nicht so schön finden; aber darüber nachzudenken hatte er keine Zeit. Der junge Graf hatte ihm nicht die Hand geboten, dafür sich sofort des Waldhorns bemächtigt, auf dem er ein paar greuliche Töne blies. Nun waren auch die beiden anderen Knaben, die dort gesessen hatten, aufgesprungen, hinter ihnen her ein Herr mit einer goldenen Brille auf einer langen spitzen Nase; und alle verfolgten den jungen Grafen, der vor ihnen herlief, oder ihnen geschickt auswich, so oft er dazu kommen konnte, dem Instrumente die entsetzlichen Töne entlockend.

Hier bringe ich Dir Deinen Freund, Isabel, sagte Komtesse Sibylle, Isabel an der Schulter berührend.

Ach, da bist Du, das ist recht; Du hast sehr brav geblasen, nur einmal f statt fis.

Sie hatte sich auf ihrem Sitze umgewandt, ohne aufzustehen, und ihm die Hand gereicht – sehr flüchtig. Schon im nächsten Moment hatte sie ihr Gesicht wieder ihrem Nachbar zur Rechten zugekehrt; einem jungen Manne, dessen Oberlippe ein blondes Bärtchen schmückte, und der sich so eifrig und achtungsvoll mit der kleinen Schönen unterhielt, als sei sie eine erwachsene vornehme Dame.

Nun waren auch die Knaben mit dem Lehrer zum Tische zurückgekehrt: der Herr Doktor atemlos, süßlich lächelnd, die Knaben lärmend, übermütig. Graf Armand nötigte Justus ein Glas Wein auf nicht ohne Freundlichkeit, aber doch mit einer Miene, die Justus nicht gefiel, obgleich er nicht hätte sagen können, weshalb. Auch sonst waren alle freundlich zu ihm, Komtesse Sibylle am meisten, trotzdem ihr stilles, ernstes, blasses Gesicht am wenigsten den Anschein davon hatte. Er hatte sich an ihre Seite setzen müssen, und sie fragte ihn nach seiner Mutter, von der die Frau Oberförster so gut spreche, und nach seinem Unterricht bei Pastor Szonsalla, und ob es wahr sei, was Isabel ihr erzählt, daß er Märchen schreibe und Gedichte mache: an den Mond und den Wald, und auch auf Isabel eines gemacht habe? Sie wolle nur gestehen, daß sie das letztere kenne, denn Isabel habe es ihr hergesagt, und sie fände es sehr schön. Sie möchte selbst manchmal ein Gedicht machen; aber es müsse wohl sehr schwer sein; sie habe noch keines fertig gebracht. Miß Brown könne ihr dabei nicht helfen, und Mademoiselle Margot, ihre französische Gouvernante, ebensowenig. Sie möge sich auch nicht helfen lassen, höchstens von Isabel. Die sei so klug, viel, viel klüger als sie, und sie habe sie so lieb wie eine Schwester.

So sprach und fragte die junge Komtesse mit ihrer tiefen, weichen, leisen Stimme, und Justus antwortete hin und wieder ein Wort, ohne zu wissen, was er sagte. Sein höchster Wunsch, Isabel wieder zu sehen, war erfüllt; sie saß ihm schräg gegenüber; aber sie hatte keinen Blick für ihn. Dafür leuchteten ihre großen braunen Augen vor Lust und Schelmerei, während sie sich mit ihrem Nachbar, dem jungen Manne mit dem blonden Bärtchen, neckte. Und einmal war es Justus, als ob der junge Mann über ihn spreche. Wenigstens hatte er über den Tisch herüber ihn mit einem Blicke gestreift und dann Isabel etwas zugeflüstert, die einen Moment verlegen schien, im nächsten aber wieder so lustig lachte wie vorher. Justus hatte nur einen Wunsch, daß er weit, weit fort von diesem Orte sei, in dunkler Nacht, mitten im wildesten Wald, wo kein Mensch sehen würde, wie er sich auf die Erde warf und tot schluchzte. Dabei wurde ihm so dumpf im Kopf – von dem Weine, meinte er, den man ihm aufgenötigt, und weil er seit gestern abend kaum einen Bissen gegessen. Er hörte nicht mehr, was die Komtesse zu ihm sagte; nur noch ein dumpfes Schwirren rings um sich her; vor seinen Augen wirrte alles durcheinander, und er wußte nicht, als er plötzlich – so schien es ihm – vor dem Herrn Grafen stand in einem Kreise von Herren und Damen, von denen einige neugierig auf ihn blickten, während andere die Unterhaltung von der Tafel her eifrig fortsetzten. Neben sich sah er seinen Vater, und das brachte ihn wieder völlig zur Besinnung. Er war es so gewohnt, sich in Gegenwart des Vaters aufs äußerste zusammenzunehmen.

Er hat seine Sache brav gemacht, nicht wahr, meine Liebe? sagte der Graf, sich zu seiner Gemahlin wendend, die ihn durch ein Lorgnon mit langem goldenen Stiele musterte, als wäre er ein ausländisches Tier.

Die Frau Gräfin sagte etwas, das Justus nicht verstand.

Wer ist Dein Lehrer gewesen? fragte der Graf weiter.

Mein Vater, erwiderte Justus.

Ah, Arnold, sagte der Graf sich zu diesem wendend. Nun dafür kann man Ihnen ja manches zu gute halten. Aber zuviel dürfen Sie daraufhin auch nicht sündigen.

Herr Graf, –

Ich wünsche hier keine Auseinandersetzungen.

Justus blickte erschrocken auf die beiden hohen Gestalten, die sich so nahe gegenüberstanden, und atmete erleichtert auf, als der Vater mit militärischem Gruß einen halben Schritt zurücktrat ohne etwas zu erwidern. Der Graf hatte sich wieder zu ihm gewandt und sagte:

Du hast Dir viel Mühe gegeben. Hier, nimm das!

Und er wollte das Goldstück, das er aus der Westentasche genommen, Justus reichen.

Justus warf einen Blick auf seinen Vater.

Nun, so nimm doch! sagte der Graf ungeduldig.

Arnold hatte statt des halben Schrittes, den er vorhin rückwärts gethan, einen ganzen vorwärts gemacht, so nahe auf den Grafen zu, daß er denselben fast berührte.

Herr Graf, sagte er durch die Zähne, so traktiert man Bettelleute, Bettlerpack; aber nicht –

Sie sind betrunken, unterbrach ihn der Graf, indem er das Goldstück in die Westentasche zurückgleiten ließ, dann der Gräfin den Arm bot und mit erhobener Stimme in die Gesellschaft rief:

Meine Damen und Herren; es ist die höchste Zeit! Avanti, avanti!

Arnold stand da, keuchend, die beiden Fäuste geballt; augenscheinlich hatte den Grafen nur seine vollkommene Ruhe vor einer persönlichen Beleidigung, vielleicht Mißhandlung, jedenfalls vor einer schlimmen Scene geschützt.

Der alte Oberförster mit dem langen grauen Barte war an seinen Untergebenen herangetreten.

Gehen Sie nach Hause, Arnold, sagte er; und schlafen Sie aus! Morgen früh neun Uhr sind Sie auf meinem Bureau! Da werden wir uns weiter sprechen!

Arnold maß den alten Mann mit einem wütenden Blicke; aber erwiderte kein Wort, sondern wandte sich auf den Hacken und stürmte in den Wald.

Justus eilte ihm nach.


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