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Den ins Schloß Heimgekehrten war eine große Überraschung bereitet. Kurz nachdem sie es verlassen, war ein Telegramm an den Grafen eingelaufen, in welchem er auf das dringendste gebeten wurde, morgen im Herrenhause einer Abstimmung von Wichtigkeit beizuwohnen. Der Graf war sofort entschlossen gewesen, dem Rufe Folge zu leisten. Hier war eine vortreffliche Gelegenheit, der Entscheidung einer Reihe wichtigster wirtschaftlicher Fragen, mit denen ihn der eifrige Direktor täglich quälte, vorläufig aus dem Wege zu gehen. Auch standen die Tage bevor, an denen er seine großen Jagden auf Hochwild abzuhalten und den Adel der Umgegend auf dem Schlosse zu empfangen pflegte. Sonst ein Mann der Geselligkeit, hatte er in letzter Zeit starke hypochondrische Anwandlungen verspürt, und der Gedanke, als Wirt tage- und wochenlang den Liebenswürdigen spielen zu müssen, war ihm sehr widerwärtig gewesen. Dem allen konnte er allerdings mit einem Abstecher nach Berlin von wenigen Tagen nicht ausweichen: er mußte dort bleiben. Aber in einigen Wochen sollte die Übersiedelung dahin ja so wie so stattfinden, und wenn die Verhandlungen im Herrenhause wirklich so wichtig waren, durfte man es ihm nicht verdenken, wenn er zuerst seine patriotischen Pflichten erfüllte.
Aus diesen Überlegungen den ihm bequemen Schluß zu ziehen, hatte den Grafen nur wenige Minuten gekostet. Plötzlich kam ihm ein Bedenken, das die Überlegungen samt dem Schluß nichtig zu machen drohte: er würde, wenn er ging und die Familie blieb, Isabel wochenlang entbehren müssen. Und sie war ihm so ans Herz gewachsen, die Kleine! Ihr nicht täglich mehr in die glänzenden braunen Augen blicken, sich an der Zierlichkeit der knospenden Gestalt berauschen zu dürfen, – das würde die rechte Nahrung für seine Hypochondrie sein, denn durch eine kluge Flucht der Qual einer Leidenschaft zu entrinnen, die ihm selbst in besseren Stunden lächerlich erschien, hoffte er schon nicht mehr. Wie wär's, wenn er die Familie – nicht gleich mitnähme – das hätte auffallen können – aber doch möglichst bald nachkommen ließe? Man müßte die Gräfin zu bestimmen suchen. Er selbst hatte es sich längst begeben, einen Einfluß auf sie zu üben. Also durch wen? Durch Isabel? Das hätte verraten können. Durch seinen Schloßarzt, Doktor Eberhard, dem sie neuerdings unbedingt folgte? Aber der kam erst übermorgen von seinem sommerlichen vierwöchentlichen Urlaub zurück. Die Leute fehlen einem ja immer, wenn man sie braucht.
Ein Pochen an der Thüre unterbrach den Grafen in seinen düsteren Meditationen. Es war ein Diener mit der Anfrage, ob der Herr Graf die Gnade haben wolle, Herrn Doktor Eberhard zu empfangen. Der Graf traute feinen Ohren nicht. Der Diener berichtete, daß der Herr Doktor bereits vor einer Stunde angekommen sei; er wisse nicht, weshalb der Haushofmeister es dem Herrn Grafen nicht gemeldet habe; vielleicht weil der Herr Doktor sofort zu der Frau Gräfin befohlen worden.
Lasse bitten! sagte der Graf.
Er war dem alsbald Eintretenden bis an die Thüre entgegen gegangen und reichte ihm huldvoll die Hand.
Was zum Tausend führt Sie denn so früh zurück, Doktor?
Der junge Mann lächelte:
Aufrichtig gestanden, Herr Graf, ein Telegramm der Frau Gräfin, das ich gestern abend in Berlin erhielt, und das mir sofortiges Kommen anbefahl. Ich war in Gesellschaft und konnte den Nachtzug nicht mehr benutzen. Von T. habe ich einen Wagen genommen.
Was in aller Welt – aber setzen wir uns doch! – was will die Gräfin von Ihnen. Ihr Zustand ist allerdings in den letzten Tagen –
Eben dieser Zustand, Herr Graf. Es droht wieder eine jener lethargischen Perioden herein, die sich durch Symptome ankündigen, welche der Frau Gräfin selbst aus leidiger Erfahrung nur zu gut bekannt sind. Ich habe eben die Richtigkeit ihrer eigenen Beobachtungen konstatieren können.
Aber was ist zu thun, Doktor?
Immer dasselbe, Herr Graf: suchen zu verhindern, daß die Frau Gräfin in jene Apathie verfällt, in der sie jedes eigenen Entschlusses unfähig, aber leider auch – ich darf es ja als Arzt wohl sagen – völlig unbeeinflußbar und unlenkbar ist. Das Mittel, Herr Graf? Auch wieder dasselbe: sie in Aktion setzen. Und, da der Dämon jeden Augenblick hereinbrechen kann, möglichst schnell, sofort. Darf ich mir einen Rat erlauben, Herr Graf? Ich höre, Sie wollen mit dem Zehnuhrzuge nach Berlin. Nehmen Sie die Frau Gräfin mit!
Wenn es noch Isabel wäre, sagte der Graf bei sich, und laut sagte er:
Ich fürchte, es wird der Gräfin zu schnell kommen.
Durchaus nicht, erwiderte der Arzt. Ich habe mir bereits eine dahin bezügliche Andeutung zu machen verstattet, welche die Frau Gräfin mit Begierde ergriff.
Der Graf dachte ein paar Augenblicke nach.
Wohl, sagte er dann, ich bin einverstanden – unter einer Bedingung: daß die übrige Familie uns möglichst schnell folgt.
Ich wüßte nicht, was dem im Wege stände, erwiderte Doktor Eberhard. Wenn es nach mir ginge: bereits morgen.
Und warum nicht morgen? sagte der Graf schnell.
Der junge Mann blickte verwundert auf. Der Graf, dem es verräterisch heiß in die Wangen stieg, fuhr in möglichst ruhigem Tone fort:
Die Gräfin darf nicht allein sein; das ist Gift für sie in diesem Zustande. Sie kann Mademoiselle Margot nicht entbehren, die Komtesse wiederum nicht Mademoiselle Margot, oder wenn die, so doch nicht Fräulein Isabel. Das ist eine Kette; warum sie zerreißen aus purer deutscher Schwerfälligkeit? Wenn mein Schwager Sir Henry in London am Abend zu Lady Elisabeth sagt: Meine Liebe, wir müssen morgen früh um sechs mit den sämtlichen Kindern nach Kalkutta, würde sie, ohne sich einen Moment zu besinnen, antworten: Mein Lieber, wir werden pünktlich fertig sein. Warum können das die Deutschen nicht?
Also dann morgen, sagte der junge Mann mit einer Ernsthaftigkeit, die zu behaupten, ihm in diesem Moment nicht leicht war.
Das heißt, fuhr der Graf fort: Doktor Müller mit den beiden Knaben könnte ja allerdings später nachkommen. Mit denen hat es keine Eile. Apropos, Doktor, Sie kennen ja noch unsere neueste Acquisition nicht: den Justus Arnold, meine ich, den ich für Armand ins Haus genommen habe, obgleich ich, unter uns, nicht so eigentlich absehe, was dabei für Armand herauskommen soll.
Der Doktor war brieflich durch Miß Brown von allem, was sich während seiner Abwesenheit Interessantes auf dem Schlosse zugetragen, sehr genau unterrichtet worden, und der Name Justus hatte mehr als einmal auf den teuren Blättern gestanden; aber er hatte seine Gründe, von dieser seiner Wissenschaft dem Grafen gegenüber keinen Gebrauch zu machen. Er begnügte sich zu sagen: Das sollte mir leid thun, Herr Graf.
Freilich, sagte der Graf; man läßt sich eben immer noch von seiner Gutmütigkeit ein Z für ein U aufschwindeln. Übrigens, wo mag die junge Gesellschaft sein? Sie pflegen um diese Zeit ihren Spaziergang zu machen.
Der herbeigeklingelte Diener bestätigte die Vermutung. Die gnädigen jungen Herrschaften »mit ihrer Begleitung« seien bereits seit einer halben Stunde fort.
Sie werden nicht lange bleiben; das Wetter sieht drohend aus, sagte der Graf, durch eines der hohen Fenster über die Terrassen in den Park blickend.
Da prasselte der Regen gegen die Scheiben, und der Blitz, der die Spaziergänger im Mausoleum erschreckt hatte, flammte herab.
Das wird ernsthaft, sagte der Graf; hoffentlich sind sie schon zurück. Möchten Sie wohl einmal nachsehen, lieber Doktor?
Aber die Gesellschaft war noch nicht zurück, kam auch in der nächsten halben Stunde nicht, obgleich das Unwetter grausam wütete. Der Graf konnte nur mit Mühe seine Angst verbergen, und mußte sich dabei sagen, daß er sich eigentlich nur um Isabel ängstigte. Selbst Sibylle, für die er früher den Rest von Liebe in seinem Herzen aufzubewahren pflegte, war wie aus seinem Gedächtnisse verschwunden. Es sollten eben Leute nach allen Richtungen ausgesandt werden, als ein triefender Bote von dem alten Schloß kam: die Herrschaften säßen wohlbehalten in den Zimmern der Frau Direktor.
Gott sei Dank! murmelte der Graf und dachte wieder nur an Isabel.