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Achtzehntes Kapitel.
Wundersames Wiedersehen

Der Frühling blickte wieder mit tausend Knospenaugen von den bereiften Bäumen herab, als eines Morgens in dem Kaffeehaus de la Régence, zu einer Stunde, wo sich das Publikum noch nicht zahlreich daselbst zu versammeln pflegte, zwei Männer beinahe zugleich eintraten, aufeinander zuliefen und sich herzlich gegenseitig in die Arme drückten. »Guten Morgen, braver Dumoutier, wie lang habe ich dich nicht gesehen!«

»Behüte dich der Himmel, lieber Dammartin! Ich freue mich, dich wieder zu schauen!«

Und die alten Kameraden sahen sich schnell um, ob kein Spion ihre Reden gehört und setzten sich dann beruhigt an ein Ecktischchen, wo sie eine geraume Zeit einander anstarrten, sich noch einmal die Hände drückten und Dumoutier begann: »Ich bin inkognito hier, wie du dir leicht denken kannst, und mein Name ist, wie dir schon bekannt, vorderhand Renaud. Nenne daher den Namen meiner Familie nicht. Die Polizei ist sehr wachsam, und obgleich die Schreckenszeit vorüber, so macht man immer noch mit einem Vendéer kurzen Prozeß.«

»Vergebene Mühe, vergebene Maske!« rief Viktor. »Die königlichen Anführer haben mit der Republik Friede gemacht und du kannst deine Amnestiekarte ebenso gut erhalten wie jeder andere. Benütze den Augenblick, denn wandelbar in das Geschick der Völker. Die Republik siegt durch ihre Mäßigung, wo früher ihr Schwert erlahmte. Die neue Ordnung hat Wurzel gefaßt, und während der junge, von unzähligem Blute gedüngte Baum der Freiheit auf unserem Boden aufblüht, welken die letzten Reste des ehemaligen Regentenstammes unwiderruflich dahin. Laß die Lilien fahren, mein Freund, und widme deine Kraft dem neuen Vaterlande.«

Dumoutier entgegnete kleinlaut: »Ich wollte gerne; aber – was habe ich bisher auf diesem freien Boden gefunden? Wie lange ist's, daß noch die Schafotte aufrecht standen, denen wir nur durch den wunderbarsten Zufall entgingen? Man hatte vergessen, mich vorzuladen; man vergaß, dich zum Tode zu führen. Der Taumel des Bluts hatte damals die Menschen verrückt gemacht. Ebenso leichtsinnig geschah nachher unsere Freilassung, weil den neuen Machthabern daran gelegen war, durch scheinbare Milde die Herzen des Volks für sich zu gewinnen, obgleich ihre Hände nicht minder vom Blut gerötet sind wie die des Robespierre und seines Gelichters. Man kümmerte sich wenig darum, ob ich wirklich Renaud hieß, wie ich behauptete, oder Dumoutier, wie mein Prozeß es haben wollte, ob ich für oder gegen die Vendéer gestritten, ob ich Marceaus Geliebte eskortiert oder ein anderer; man stieß mich aus dem Gefängnis, wie man mich hineingeworfen hatte, und so schwimme ich auf der Brandung fort, ohne zu wissen, woran ich mich zu halten hätte.«

»Mir ging es ja noch schlimmer,« entgegnete Viktor mit bitterem Lächeln. »Obgleich ich den Zufall noch nicht begreife, der mir an jenem fürchterlichen Tage das Leben rettete, so weiß ich doch eben nicht, ob ich ihm für die Wohltat verbunden sein soll. Wie man mir Glück wünschte, sowohl meine Mitgefangenen als sogar meine Hüter, da man mich in dem Winkel, wo ich schlief, aufgefunden! Mit welcher Freude man mir erzählte, daß nun aller Schrecken vorüber, daß nun mein Haupt sicher! Wie man mich jubelnd umstand, als endlich Marceaus Reklamation, so lange unberücksichtigt, meinen Kerker öffnete! Und was hab' ich nun? Nicht genug, daß ich in der äußersten Ungewißheit über Gabrielens Schicksal verblieb, nicht genug, daß mir unbekannt ist, ob nicht mein wackerer Sans-Regret und der rechtschaffene Grognon für meine Sache ihr Leben lassen mußten, so bin ich auch in die grausamste Untätigkeit versetzt. Vergebens habe ich bei dem Kriegsministerium um Wiederanstellung gebeten; vergebens mich deshalb, wiewohl ungern, an Freund Marceau gewendet. Die Post bringt für mich keine Briefe und das Kriegsbüro hat für mich kein Patent. Und dennoch hänge ich mit voller Liebe an dem Vaterlande, obschon es mich beinahe erwürgt hätte, obschon es mich fast verhungern läßt.«

Ein ziemliches Geräusch unfern von ihnen lockte den Blick der Kameraden nach der Seite, wo, an einem Tisch allein, ein junger Mann in abgetragener Offiziersuniform saß und seine Bavaroise verzehrte. Der hagere, gelbe und düsterblickende Mann hatte die Tasse mit ungeduldiger Heftigkeit von sich weggestoßen und rasch ein Zeitungsblatt ergriffen, das er zu lesen schien. Aber seine Augen schielten nach Viktor und Dumoutier und bewiesen, daß er gehört, was beide gesprochen.

»Der Bürger nimmt lebhaften Anteil an unserem Gespräch,« sprach Dumoutier ziemlich unverständlich, »unsere Worte haben ihn unsanft berührt. Sprich leiser, mein Freund, und zwar aus guten Gründen.«

Der Offizier drüben runzelte sehr die Stirn, erwiderte aber keine Silbe, sondern saß fest und unbeweglich da, mit spöttischem Lächeln um den fest zusammengeklemmten Mund.

»Du tust dem Mann wahrlich unrecht, wenn du ihn für einen Agenten des Konvents hältst,« flüsterte Viktor dem Freunde zu. »Er ist in derselben Lage wie ich, und begehrt seit geraumer Zeit vergebens einen Posten in der Armee, obgleich er sich bei Toulon ausgezeichnet haben soll. Der neunte Thermidor brachte ihm Unheil. Man sperrte ihn, des Jakobinismus verdächtig, ein, und läßt ihn, nachdem man ihn endlich freigegeben, dem äußersten Mangel zum Raube, statt seinen Kopf und Arm zu verwenden.« Hierauf sagte Viktor mit leichtem Kopfnicken gegen den Fremden: »Guten Morgen, mein General.« Der Offizier erwiderte ein trockenes: »Guten Morgen, Kamerad.«

Viktor fuhr nun vertraulicher zu Dumoutier fort: »So lebe ich denn also jetzt hin und zehre von der Hoffnung und von dem Kredit, den mir ein paar redliche Leute schenken. Seit der Zeit, als du in Agen warst, um deine Verwandten zu suchen – es sind wohl jetzt vier Monate her –, hat mich nichts zerstreut in meiner traurigen Lage, als dann und wann ein Besuch bei Adele. Freund! ich fühle, daß dieses Mädchen meinem Herzen sehr gefährlich werden muß; und dennoch könnte ich mich nicht entschließen, sie durch eine Werbung in Unruhe zu versetzen, noch viel weniger sie an das Geschick eines Unglücklichen zu ketten, dessen böser Stern alle diejenigen ins Verderben riß die Teil an ihm genommen. Wahrhaftig, mir graut, wenn ich der Vergangenheit einen Blick schenke! Meine fürstlichen Wohltäter in das Elend gejagt, die Gräfin d'Espremenil auf dem Schafott verblutet, das Fräulein von Sombreuil im tiefsten Schmerze dahinschmachtend auf den Gräbern ihres Bruders und ihres Vaters, den ihre unendliche Kindesliebe nur aus der Todesgefahr befreite, um den Tyrannen Gelegenheit zu geben, ihn später desto sicherer zu treffen! – Diesen Morgen, noch im Traume, sah ich erst wieder die Unglückliche, gehüllt in schleppende Trauergewänder, mit lilienblassem Angesicht und dunkel starrenden Augen, aus denen einst Fröhlichkeit und Mut leuchtete, während jetzt grollender Schmerz sich darin barg. Warum mußte sogar im Traumbild mein Anblick die Ärmste erschrecken? O, sie hat mir nicht vergeben! Diese starke Seele, welche fest an den Vorurteilen ihrer Jugend hängt, wird nie aufhören, den zu hassen, den sie für einen Überläufer hält. Ich habe sie mit allem Feuer der Leidenschaft geliebt; ich darf sagen, daß ich sie noch nicht vergessen; aber nimmer kann eine Vereinigung zwischen diesen feindlichen Elementen stattfinden. Als Jünger der Freiheit sehne ich mich nach einem Weibe, welches ebenfalls und unerschütterlich die heilige Sache verehrt. Dieses Weib wäre Adele Montchoisy. So sehr ihre Muhme dem Königtum anhängt, so eifrig lebt sie für die Republik, und dabei ist ihr reines Herz so empfänglich für alles Edle und für die zartesten Gefühle, denen die Menschenbrust Raum gibt! Aber ich plaudere und schwatze, ohne zu bedenken, daß das Grab mir erwünschter sein sollte, wenn ich meine Lage prüfe, als die Liebe eines Weibes, dem ich nichts als Mangel zu bieten hätte.«

»Welche Greuel haben wir hinter uns!« meinte Dumoutier; »und noch soll des Bluts nicht genug geflossen sein, um den Bau des Staates fest zusammenzukitten?«

»Wenn das Volk den Meister spielt, so kann man das Ende nicht berechnen,« mischte sich der fremde Offizier in das Gespräch. »Ich habe das am zehnten August schon gesagt. Der König verdankt nur seiner Schwäche den Untergang. Mit vier wohlbedienten Sechspfündern hätte ich die ganze Volkskanaille vom Platze weggefegt. Ludwig mußte aber sein Schicksal durchmachen. Das unserige, Bürger Leutnant, scheint das zu sein, für die Republik Hungers zu sterben. Aber der Zustand der Dinge kann nicht lange dauern. Man muß den Manövern mit ein paar derben Kartätschenschüssen ein Ende machen.«

Viktor bemerkte, daß ihn wundere, wie der General, der solche Grundsätze äußere, als Jakobiner verfolgt werden könne. Der letztere verzog wieder den Mund spöttisch und versetzte: »Der Deputierte Beffroi, der mich arretieren ließ, ist ein einfältiges Tier. Sie sind alle so. Aubry, bei dem ich schon seit Monaten eine Stelle sollizitiere, ist es nicht minder, wie überhaupt der ganze Wohlfahrtsausschuß. Sie stoßen die willigsten Köpfe zurück. Meine Geduld ist zu Ende. Ich gehe nach Konstantinopel. Es ist, als hätt' ich den Paß schon in der Tasche. Dort läßt sich eher abwarten.«

Viktor horchte auf und sagte, von dem Gedanken ergriffen: »Ach, General, wie gerne wäre ich mit von der Partie. Wir wollten schon dort unsern Weg machen. Aber wie hinkommen? Ich ermangle des Geldes.«

»Und ich habe keins,« entgegnete der General phlegmatisch. »Es ist schade um deine guten Dispositionen, Bürger. Du gefielest mir schon als Reisegefährte. Wer weiß, wie uns noch der Zufall zusammenführt. Wenn ich jemals etwas tun kann, was dich freut, so wird's gerne geschehen.«

Der General stand auf, drückte den Hut in die Stirne und ging, ohne weiter von den anderen Notiz zu nehmen, aus dem Saale.

»Wie heißt denn der lakonische Mann?« fragte nun Dumoutier, und Viktor erwiderte: »Sein Name ist mir entfallen. Ich habe ihn nur ein einzig Mal gehört und ich weiß nur noch, daß der General in Korsika geboren.«

Ein Tumult wurde vor der Türe laut. Das Zimmer füllte sich plötzlich mit Menschen, die sich lärmend erzählten, daß sich in dem Nachbarhause ein Frauenzimmer aus dem dritten Stockwerk auf die Straße heruntergestürzt. Alle drängten sich um den Doktor Joubert, der gerade hereinkam, und befragten ihn um die Details und wie es um die Ärmste stehe. Der Doktor erwiderte, daß sie schon verblichen und daß dieser Unglücksfall eine Folge des Wahnsinns sei, worein der gräßliche Henkertod ihrer besten Freundin das Mädchen schon seit beinahe einem Jahre gestürzt. »Ach, wahrhaftig!« fuhr der Doktor in einem gewissen Eifer fort; »der Himmel mag es den Ungeheuern vergeben, wie sie in dem schönen Frankreich gehaust haben. Tausende von Familien sind elend geworden, und die Irrenhäuser wie die menschenfreundlichen Privatanstalten dieser Art, die hin und wieder existieren und von denen ich selbst eine dirigiere, wimmeln von Kranken, die die Revolution verrückt gemacht hat. Leute aus allen Ständen, niedere und vornehme, sind dort dem Hundert nach zu zählen. Ich benutze diese Gelegenheit, ihr redlichen Bürger, um bei euch eine kleine Kollekte zum Besten eines Mannes zu eröffnen, den ich morgen aus meinem Hause am Montmartre, zum Glück völlig geheilt, entlasse. Das Mitleid, welches der Auftritt schon vorhin in eure Seele erweckt hat, wird meiner Bitte ein gewichtiges Wort reden, wenn auch nicht die Umstände, die den wackern Mann wahnsinnig gemacht haben, so wunderbar wären als sie sind. Ein armer Landmann, kommt er hierher, um einen Freund zu besuchen, der unschuldig im Gefängnis liegt. Wie erschrickt er, da er hört, daß dieser Freund bereits zum Tode verurteilt ist und nur noch eine Stunde zu leben hat. Es war am neunten Thermidor. Er fliegt nach der Conciergerie, findet Mittel hineinzudringen und entdeckt seinen Freund, unbekümmert und unbemerkt in irgend einem Winkel eingeschlafen, während dessen Todesgefährten sich schon zum letzten Gang rüsten. Er hat nichts eiligeres zu tun, als beim Verlesen seines Freundes hervorzutreten und sich edelmütig für ihn auszugeben.«

»Was der Wahnsinn doch nicht alles tut,« bemerkte einer der Umstehenden.

»Ja, ja; da war es schon nicht mehr richtig mit ihm,« fügte der andere hinzu.

Der Doktor fuhr fort: »Schon saß er auf dem Karren, schon stand derselbe auf dem Platz der Bastille, als das Volk, wie euch bekannt, mit der Wache Händel anfing. Der verdammte Henriot kam dazu und vereitelte das gute Vorhaben, jedoch hat sich mein Mann während des Zankes freizumachen gewußt und war einige Gassen entlang gesprungen. Da fand ihn der Kommissionär Thomas. Er war außer sich, wie vom Schlag gerührt, und hatte nicht einen einzigen gesunden Begriff mehr im Kopfe. Wie denn nun Thomas ein guter Bursche ist, so brachte er ihn zu mir, und ich darf mich rühmen, daß ich ihn vollkommen hergestellt habe. Dieses war um so schwerer, als er schon öfters nicht recht bei sich gewesen, indem ein Skalpelhieb, den er in Amerika empfangen ...«

Viktor war leichenblaß aufgesprungen, fiel der Rede des Doktors in die Zügel und riß denselben, während der Garçon sammelnd herumging, in eine Ecke des Zimmers, wo er bald erfuhr, daß Sans-Regret lebe, daß Sans-Regret derjenige sei, von dem der Doktor geredet und daß er dem Invaliden allein sein Leben verdanke.

»Er ist geheilt? Er ist unversehrt?« jubelte der dankbare Viktor, indem er den Doktor umhalste. »Bürger, du gibst mir meine Seligkeit zurück. Vollende aber dein Werk. Führe mich zu ihm. Ich darf dieses als ein Recht fordern. Denn ich bin es, für den er sich geopfert.«

»Gerne! gar zu gerne!« versetzte der überraschte Doktor. »Ich bin selbst froh für den armen Teufel, den ich bisher nur um der Barmherzigkeit willen behandelte. Doch wär' es mir angenehm, wenn der Besuch sich bis morgen früh verschieben ließe. Er plauderte mir so viel von seiner wohlhabenden Familie in der Bretagne vor, daß endlich, obschon ungläubig, an die Adresse schrieb, die er mir angab. Die Antwort hätte längst dasein können, aber dennoch verzweifelt er nicht, daß nicht morgen seine ganze Familie erscheinen werde, um ihn feierlich abzuholen. Ich möchte erst darüber im Reinen sein und dann, Bürger Offizier ...«

»Genug; auf morgen also, in deinem Hause!« unterbrach Viktor den Doktor ungestüm, der ihm seine Adresse gab und sich bald darauf entfernte. Noch hatte sich aber Viktor nicht von seiner Überraschung erholt, noch nicht Zeit gefunden, dem Freunde den Zusammenhang mitzuteilen, als schon ein Aufwärter herbeitrat und ihm ein Paket überreichte, das für ihn hier abgegeben worden. Er riß es auf, ward bleich, dann rot, umarmte endlich den Freund und rief gerührt: »So kommt denn kein Glück allein, wie auch kein Unglück. Meinen Sans-Regret hab' ich wiedergefunden und hier sendet mir Marceau von der Sambre- und Maasarmee ein Kapitänspatent, mit der freundlichen Einladung, so schnell als möglich bei ihm in Koblenz einzutreffen. Der Exgeneral hatte recht, als er sagte, daß ein Fatum über uns herrsche. Marceau hat mir hier Kredit eröffnet. Laß uns eine Flasche Champagner trinken, um den glücklichsten Tag meines Lebens zu feiern. Apropos – jetzt fällt mir der Name des Generals ein. Er heißt; Bonaparte.«


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