Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Herbstsonne warf glänzende Prachtfunken auf den Springbrunnen des Gartens; ein heiterer, freundlicher Himmel war über Paris ausgespannt, und die Bosketts in Viktors kleinem Park trugen noch einmal den vorübergehenden Schimmer eines Scheinfrühlings. Adele, die Zurückkunft ihres Gatten erwartend, den Dienstgeschäfte in den Tuilerien in der Nähe des ersten Konsuls festhielten, saß hinter dem geschmackvoll garnierten Balkonfenster, teils mit ihrer Arbeit beschäftigt, teils hinunterschauend in den Garten, wo ihre kleine Susanne von der Wärterin spazieren getragen wurde. Da ward unten im Hause die Klingel des Portiers gezogen, und die niedliche Zofe Babet trat bald vor die Gebieterin, um ihr den Besuch einer Dame zu melden, welche dringend mit ihr allein zu sprechen wünsche.
Adele, die Gefälligkeit selbst, eilte, sich in den Salon zu begeben, und die angemeldete verschleierte Dame trat mit stummer Verbeugung ein und schwieg, bis sich das Kammermädchen entfernt hatte. Alsdann und in Erwiderung auf Adelens freundlicher Anrede, hob sie langsam mit zitternden Händen den Schleier in die Höhe, und Adelens neugieriger Blick erkannte Gabrielens bleiches Gesicht. Kaum fand Adele Worte, die Muhme zu begrüßen, und der Strom von Tränen, der aus den Augen der letzteren stürzte, verhinderte jede Entgegnung des Grußes. Die Knie der Marquise zitterten, und sie überließ sich willig dem hilfreichen Arm Adelens, um sich, einer Ohnmacht nahe, auf die Ottomane bringen zu lassen. Diese Hilflosigkeit, diese Zeichen großen Schmerzes oder kümmerlicher Bedrängnis löschten alsobald die Bitterkeit aus, die in Adelens Brust bei dem Anblick einer Verwandten, die ihr mehr Demütigung als Liebe angetan, aufgestiegen war. Das Mitleid zieht ja so gern in den Busen des Weibes ein, wenn die Feindin, vom Unglück darniedergeschlagen, sich besiegt erkennt. Natürlich war es, daß Adelens Teilnahme mit dringenden Fragen beginnen mußte. Gabriele erwiderte hierauf mit Ängstlichkeit und leise: »Nicht hier, meine Liebe, – in deinem innersten Boudoir allein kann ich dir entdecken, was bisher mit mir vorgegangen. Verhehle deine Tränen, denn ich bin ja eine Emigrantin, eine Geächtete, von deren Haupt noch nicht das vernichtende Urteil genommen wurde, und die Schwatzhaftigkeit eines Bedienten könnte dich in das größte Unglück bringen.«
Adele erkannte die Nichtigkeit dieser Worte und führte Gabriele in ihr innerstes Gemach, wo die Marquise erzählte, wie sie, von dem getreuen Pächter aus der Bretagne begleitet, nach Dinan entkommen und von da auf einem englischen Schiffe nach Großbritannien gesegelt sei; wie daselbst Mangel und Kummer jeglicher Art die Unglückliche verfolgt, wie sie nur der freundschaftlichen Fürsorge einiger adeligen Landsleute die Fristung ihres Lebens verdanke; wie endlich im Laufe der Zeit ihre Ansichten sich bedeutend verändert und von allen Vorurteilen und Neigungen ihres früheren Lebens nur die unbezwingliche Lust übriggeblieben, in dem schönen Frankreich ihr sturmbewegtes Leben zu beschließen; wie sie demnach, diesem allmächtigen Zuge gehorchend, der Gefahr getrotzt, ins Vaterland zurückgekommen. – »Wie verändert habe ich's gefunden!« sagte die Marquise mit großer Wehmut; »meine Güter in fremden Händen, die berühmten Namen meiner Familie geächtet und vergessen, eine andere Welt aufgeblüht aus den Trümmern der unsrigen! Ich hatte, als ich die englische Küste verließ, von der Möglichkeit geträumt, in der Heimat irgend einen alten getreuen Diener wiederzufinden, der mit mir teilen würde, was uns die Revolution übriggelassen oder was er vielleicht von meinem Gut aus derselben gerettet. Man erzählte sich in England in unseren Zirkeln oft von Gutsbesitzern, die bei ihrer Rückkehr einen Platz an dem Herd eines treuen Verwalters gefunden; ich glaubte, unter meinen Untertanen Wohltaten genug ausgesät zu haben, um eine Wohltat dagegen zu ernten. Ich hatte mich fürchterlich getäuscht; meine Getreuen liegen im Grabe, die ungetreuen Knechte haben sich als Käufer von sogenannten Nationalgütern in meine Habe geteilt, und daß sie mich nicht verrieten, war der einzige Dienst, den sie der fast vergessenen Herrin erwiesen. Der schwache Überrest meiner Barschaft gestattete mir gerade nur, die Vendée zu verlassen und mich in den Krater des Vulkans, in das Gewühl von Paris, zu stürzen. In der Provinz bin ich nicht sicher: die Nachforschungen der Behörden sind zu exakt. Von der Küste nach England entfliehen kann ich nicht mehr, weil allenthalben die Wachsamkeit der Uferposten verdoppelt ist und ein großes Lager auf Befehl des Konsuls bei Boulogne zusammengezogen wird. Nur die Barken kühner Schleichhändler erhalten die Verbindung zwischen Englands und Frankreichs Küsten, und mir, dem schwachen Weib, ist die Aufsuchung eines solchen Fahrzeugs eine Unmöglichkeit. Nach Paris gingen daher alle meine Wünsche, und nicht ohne Hoffnungen betrat ich diesen Boden. Man hatte mir von einem königlich gesinnten Komitee gesagt und die Männer desselben genannt; man hatte von einem Gesetz gesprochen, welches den Emigranten günstig sein soll; man hatte endlich auf die Gnade des Konsuls hingewiesen, der einer dringenden und demütigen Bitte nicht widerstehen würde. Eitle Vertröstungen! Die sogenannten Royalisten haben meine Briefe und Bitten kalt aufgenommen, das Emigrantengesetz ist nicht erlassen, und wenn ich auch nicht zu stolz wäre, von dem Neuling Bonaparte eine Gunst zu erbetteln, so soll doch die Stimmung des gefürchteten Gewalthabers in bezug auf unsere Angelegenheiten gerade nicht die beste sein. Die verschiedenen Mordversuche, die man gegen ihn gewagt, haben ihn mißtrauisch und hart gemacht, weil er hinter jedem Wort eines Bittstellers schon einen Dolch fürchtet. – Da höre ich plötzlich den Namen deines Gatten nennen; ich erfahre, daß er Bataillonschef und ein Adjutant des Konsuls, daß ihm des Glückes Sonne gelächelt, daß du sein Weib geworden. Wie reich fühlte sich die arme Gabriele mit einem Male bei dieser Nachricht ... Was mir bisher gefehlt, ich habe es nun gefunden: Freunde, Fürsprache, Teilnahme, ein Asyl. Erinnere dich, Adele, der verwichenen Zeit, wo ich dir beinahe eine Mutter war, und verzeihe, wenn meine Vormundschaft sich manchmal hart aussprach. Sei mein guter Engel bei deinem Gemahl, und er wird sich der Großmut, die er einst gegen mich geäußert, wieder erinnern und meine Dankbarkeit durch Wiederholung derselben auf ewig begründen.«
Adele war in ein tiefes Sinnen versunken und überlegte bei sich selbst, ob es wohl ratsam sei, Gabrielens überraschendem Vertrauen zu entsprechen. Die weibliche Ängstlichkeit sträubte sich dagegen, aber das Herz riß wie gewöhnlich die Vernunft mit sich fort. Sie versprach der Kusine einen sicheren Zufluchtsort, übernahm es, Viktor für diese Gastfreundschaft zu stimmen und zugleich ihn zu bewegen, bei dem Konsul Gabrielens Ansuchen um Ausstreichung von der Emigrantenliste einzuleiten. Im äußersten Falle sollte die Erlassung des Radiationsgesetzes abgewartet werden, wovon ganz Frankreich schon mit Zuversicht und Hoffnung sprach. Ein dankbarer Kuß von Gabrielens Mund lohnte vorläufig Adelens Freundschaft, und die Marquise nahm alsobald mit der zuversichtlichen Manier einer Dame vom guten Ton Besitz von dem Gemach, welches Adele ihr einräumen konnte. Die Blumenstöcke ordnend, die auf dem Fenster standen, warf sie einen Blick in den Garten, belobte dessen Zierlichkeit und schrie fast laut auf vor Entzücken, als sie der kleinen Susanne ansichtig wurde, die an der Hand der Wärterin und Sans-Regrets zu gehen versuchte. »Das dein Kind, liebe Adele?« fragte die Marquise mit hochroten Wangen und faßte Adelens Hand mit ihrer zitternden Rechten. »O wie liebenswürdig ist die Kleine, ganz des Vaters Ebenbild.«
Adelens Brust wurde hier von einer sehr unheimlichen Empfindung beschlichen und keineswegs so freundlich wie zuvor sah sie auf das Kind hinab, welches soeben, auf Sans-Regrets Armen, mit den wollenen Epauletten des in großer Uniform dastehenden Grenadiers spielte. Gabriele klopfte etwas ungeduldig auf die Schulter der Freundin und sagte: »Rufe doch das liebe kleine Wesen herauf, es ist bei uns mehr an seinem Platz als in den Armen des langen, hageren Soldaten, dessen fürchterlicher Schnauzbart das verbrannte Gesicht noch unausstehlicher macht.«
Adelens Auge wurde immer düsterer, und sie versetzte mit Unmut, in Gabrielens Ton einstimmend: »In der Tat, der Mensch kommt mir nicht erst von heut unausstehlich vor. Ich bin wenig zur Eifersucht geneigt, aber dieser Invalide, wie ihn mein Mann gewöhnlich nennt, hätte mich fast eifersüchtig gemacht. Er ist die Providenz unseres Hauses, wenn er erscheint, hat Viktor für nichts anderes mehr Ohr noch Auge; jede Rücksicht muß gegen den Menschen beobachtet werden, während er keine gegen uns beachtet, sondern allzu oft den Anordner in unserem Kreise spielt. Wichtige Dienste müssen freilich belohnt werden, aber wie traurig ist's, sich sozusagen unter der Vormundschaft eines Menschen wie Sans-Regret zu befinden! Ich bin glücklich, liebe Kusine, sehr glücklich mit meinem Viktor und in meinem ganzen Hauswesen, aber den Grenadier dort unten könnte ich recht wohl von meinem Glücke entbehren.«
Mit diesen Worten lief sie hastig auf den Balkon und rief mit gebieterischer Stimme hinab: »Sans-Regret! ich will, daß Ihr das Kind der Wärterin übergebt, damit es heraufgebracht werde. Überhaupt – wie ich Euch schon oft gesagt – schickt es sich nicht, daß meine Tochter immer von Euch gehätschelt werde. Ihr geht zu unvorsichtig mit ihr um und werdet noch einmal dem Kinde weh tun.«
Als hierauf der Grenadier, ohne ein Wort zu erwidern, das Kind an Babet zurückgab und sich mit einem leichten Gruß in das Boskett entfernte, sagte Adele mit halb verlegener, halb triumphierender Miene zu der Marquise: »Der Alte ärgert sich und wird mich wahrscheinlich bei Viktor verklagen; zwei Weiber schlagen jedoch solche Stürme leicht ab. Man muß Leute wie Sans-Regret in ihre Schranken zurückweisen. Was soll auch daraus werden? Viktor erzählte mir erst vor kurzem, daß der Alte, nach langem Zögern, um seinen Abschied einkommen werde. Gott behüte uns! Hat er sich schon so viel um uns gekümmert, während ihn sein Dienst den größten Teil des Tages beschäftigte, – wie wird er sich erst in unsere Angelegenheiten mischen, wenn ihm nichts anderes mehr zu tun übrig bleibt?«
Während Babet das Kind hinauftrug, um es den Liebkosungen der Damen preiszugeben, ging Sans-Regret mit gerunzelter Stirn, die Hände auf den Rücken gelegt, in die dichteste Buschpartie des Gartens, unfern von einer Seitenpforte, die gegen die Elysäischen Felder hinausführte. Dort setzte er sich auf eine Bank nieder, verschränkte die Arme und sagte vor sich hin: »Ist's nicht ein hartes Los, wegen der Laune eines Weibes ein Haus verlassen zu müssen, das meinem Herzen unaussprechlich teuer geworden ist? Die Zunge einer feindlichen Frau ist schärfer als das gespitzteste Rappier und unermüdeter als der Arm des rüstigsten Fechters. Ich habe ihr nichts zu leide getan ... demungeachtet haßt sie mich, ohne zu wissen warum; sie beneidet mich um meine Vertraulichkeit mit ihrem Gatten. Sie möchte ihn beherrschen, und Viktor ist leider nur zu sehr geneigt, das Joch auf sich zu nehmen. Das Weib gleicht dem ersten Konsul. Es scheint für die Freiheit begeistert und trachtet im stillen nach der Alleinherrschaft. Würde aber dadurch die Zukunft meines geliebten Freundes verschönert? Ich fürchte, nein.«
Er strich sich mit der flachen Hand die Falten von der Stirn, legte die geflochtenen Seitenzöpfe seiner Schläfen hinter das Ohr, drückte die Bärenmütze tief ins Auge und begegnete unter dem Pförtchen seinem Freunde Dammartin, der just aus den Tuilerien zurückkehrte. Der Bataillonschef ergriff Sans-Regrets Hand und fragte, ob er schon auf dem Wege sei, in die Audienz zu gehen, die er sich vom Konsul erbeten. Sans-Regret schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich habe mich anders besonnen. Ich bin nicht mehr geneigt, meinen Abschied zu fordern. Ich habe zwar gehört, daß der Konsul mir ihn nicht gerne bewilligen dürfte, allein das würde mich wenig kümmern. Am meisten beunruhigt mich, welchen Aufenthalt ich zu wählen hätte. Marseille? Dort würde mich die Erinnerung an eine tadelnswerte Jugend ärgern. Die Bretagne? In St. Colombe würde mich alles an meine gute Suzon mahnen. Wahrhaftig, zuzeiten wünsche ich, daß der selige Capet noch am Leben, alles beim Alten geblieben und ich im Invalidenhause versorgt wäre. Das Leben einer Auster ist so süß für denjenigen, der tiefe Wunden in der Brust trägt. Keine rauhe Luft dringt durch die feste Schale zu dem kranken Fleck, und darum ist auch der Sarg zuletzt noch die tüchtigste Muschel, weil der kühnste Räuber, wenn er sie aufbricht, auch nicht einmal den elenden Rest eines Austerlebens darin findet.«
»Sei doch vernünftig,« ermahnte ihn Viktor; »Du bist ein so pünktlicher und klarer Mann, was das praktische Leben betrifft, und dennoch so ausschweifend, wenn du deiner Einbildungskraft den Zügel schießen lässest; ungerecht zu gleicher Zeit. Ich werde dich sicher nicht tadeln, wenn du im Dienst unseres ruhmreichen Konsuls verharrst, der, wie ich weiß, dich zu befördern gedenkt; wie aber magst du im entgegengesetzten Fall einen Augenblick in der Wahl deines künftigen Aufenthalts zweifelhaft sein? Steht nicht hier mein Haus? Ist es nicht auch das deinige? Hast du es nicht oft ein Paradies genannt? Mars hat es mir erbaut, teile es mit mir, du Jünger des Mars!«
Sans-Regret erwiderte trocken: »Wahrhaftig, ich habe nicht gelogen, als ich dieses Eigentum ein Paradies nannte, aber von seiner Schwelle jagt mich ein zürnender Engel mit feurigem Schwert, darum ist es besser, ich bleibe in meiner Kaserne, unter meinen Kameraden, und spiele den Philosophen unter den leichtsinnigen Leuten, die noch immer Lieder von Freiheit und Gleichheit singen, während sie am Vorabend des Tages stehen, wo man ihnen ein ganz anderes Tedeum einbläuen wird.«
Viktors Stirne hatte sich bei Sans-Regrets Rede verdüstert, weil er ahnte, wovon der Invalide reden wollte. Der Widerwille Adelens gegen den Alten war ihrem Gatten schon längst kein Rätsel mehr. Dieses Mißverständnis hatte ihn oft sehr bekümmert und ihm zugleich die peinlichste Rolle aufgezwungen; die Pflicht, stets vermittelnd und ausgleichend nach allen Seiten hin zu arbeiten, bald den gekränkten Freund zu beruhigen, bald die aufbrausende Gattin zu beschwichtigen und sich selbst, um nur den Frieden zu erhalten, als das Ziel aufzustellen, wohin sich jede Klage und jeder Vorwurf richteten. Auch heute versuchte er den Freund zu besänftigen und wollte ihn wieder zum hundertsten Male mit denselben Gründen trösten, als ein unvermutet hinzukommender Gast eine unvermutete Verhandlung aufs Tapet brachte. Es kam nämlich durch den Garten ein Offizier auf das Boskett zu, sah sich unruhig und spähend nach allen Seiten um und näherte sich dem Eigentümer des Hauses, nachdem er ihn endlich gewahrt, mit allen Zeichen der Ungeduld. Viktor schien fast betreten, als er in dem Fremden den General Montchoisy erkannte, Adelens Vater, der ohne Zweifel gekommen war, den aufgedrungenen Eidam zur Rechenschaft zu ziehen und somit Erläuterungen herbeizuführen, die Viktor sowohl sich als dem General willig erspart hätte. Des Generals Anrede war dieser Voraussetzung völlig entsprechend: kurz, hastig und scharf.
»Ein paar Minuten, Herr Bataillonschef. Ein paar Worte ohne Zeugen. Wär' es gefällig?«
Viktor nickte stillschweigend, zeigte auf den nahestehenden Pavillon und erwiderte kalt: »Gehen Sie voraus, mein General. Ich folge augenblicklich. – Du aber,« – fügte er zu Sans-Regret hinzu – »Du magst mich erwarten, bis ich zurückkehre. Wir müssen miteinander ins reine kommen, ich verlasse mich darauf, daß du bleibst.«
Sans-Regret war viel zu sehr an Subordination gewöhnt, als daß er nicht hätte bleiben sollen, sobald ein Offizier es ihm befahl. Aber die Jagd seiner Gedanken, die stürmischen Empfindungen, die bei ihm vorherrschten, ließen ihn nicht eine Minute auf einem Fleck. Er wandelte hin und her durch Gänge und Gebüsche und umkreiste von weitem den Pavillon, worin die Unterredung des Schwiegervaters und des Eidams statthatte. Ihm war manchmal zumut, als ob ein dienstfertiger Engel ihm zuredete, schnell von hinnen zu gehen; aber sogleich flüsterte ihm wieder eine andere Stimme zu, zu bleiben. Das Ahnungsvermögen, dieses sogenannte innere, zweite Gesicht, dessen er teilhaftig war, ließ ihn im Verlauf dieser Stunde etwas Übles vorempfinden; aber besorgt für seinen Freund Dammartin beschloß er auszuharren, um zur rechten Zeit bei der Hand zu sein, wenn die Worte der Herren in Tätlichkeiten ausarten sollten. Der General war als ein jähzorniger, gewalttätiger Mann bekannt, unter seinen grauen Haaren glomm ein Vulkan, und seine Leidenschaftlichkeit ließ, war sie auf einen hohen Grad gereizt, das Ärgste befürchten.
Sans-Regrets Vermutung in dieser Hinsicht schien sich zu rechtfertigen. Die Stimmen der Sprechenden wurden lauter, und so sehr sich auch der Grenadier in einer ehrfurchtsvollen Entfernung hielt, so mußte er doch am Ende, was man im Pavillon sprach, verstehen, und da ihn das Gehörte interessierte, rückte er auch näher zu dem Gartenhause und vernahm mit gespannter Aufmerksamkeit folgende Worte aus dem Munde des Generals: »Ei, zum Teufel, mein Herr, ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir mehr als eine Tochter geraubt haben. Um eine Tochter würde ich schwerlich so viel Aufhebens machen, ich bin kein Lot, kein Sardanapal, kein Mann mit einem Wort, der sich bizarren Neigungen hingibt, wie Sie anzudeuten belieben. Wenn ich Adele gern gehabt habe, so geschah es aus ernsteren Zwecken: ich wollte sie heiraten.«
»Heiraten? Sie, der Vater?« fragte Dammartin mit dem Ausdruck der höchsten Verwunderung.
Der General polterte dazwischen: »Ja doch, tausendmal ja. Ich durfte sie heiraten, zum Teufel. Sie ist ja nicht meine Tochter.«
Eine lange Stille unterbrach hier das Gespräch, dann hob der General wieder an, obschon mit gemäßigterem Ton: »Auf mein heiliges Ehrenwort, Adele ist nicht meine Tochter. Hätten Sie sich, wie der arme Croisier, nur allein an mich und nicht an den Unverstand des jungen Mädchens gewendet, so wüßten Sie schon längst die ganze Geschichte, und das Mädchen wäre demungeachtet Ihre oder lieber meine Frau. Ihre Geheimniskrämerei hat mir alles verdorben. Erfahren Sie denn. Sie erinnern sich, daß ich aus altem Hause bin, ich war in den Kolonien stationiert. Eine schöne Kreolin war meine Gattin geworden, aber kein Sprößling segnete die Ehe, vielmehr trat der Tod heran, sie zu trennen. Mein Weib starb, und wenige Tage nach ihrem Tode empfing ich in einem Schreiben aus Frankreich die Nachricht, daß mein wunderlicher Oheim, der Maltheserkomtur Beaulieu, ebenfalls das Zeitliche gesegnet und mir einen großen Teil seines bedeutenden Vermögens vermacht habe; unter der Bedingung jedoch, daß ich verheiratet und ein rechtmäßiges Kind als Erbe aufzuweisen imstande sei. Ging diese seltsamste aller Klauseln nicht in Erfüllung, so waren die Gerichte angewiesen, die beträchtliche Summe unter den übrigen Kusins zu verteilen. Was war da zu tun? Ich war jung, voll Lebenslust und geldbedürftig, hatte auch nicht die geringste Neigung, meinen lachenden Vettern das Feld zu räumen und gar nichts für mich aus der reichen Erbschaft zu fischen, um so mehr, als der Erblasser recht böswillig die Klausel hatte zufügen lassen, weil mein Leichtsinn allbekannt und nicht vorauszusetzen war, daß ich mich bereits in das solide Joch einer Ehe begeben. Ohne zu wissen, was vor dem Parlamente zu tun sei, aber fest entschlossen, durch irgendeinen verschmitzten Streich mein Legat mir zu sichern, ging ich zu Schiffe, den Kopulationsschein mit meiner Seligen in der Tasche. Ich rechnete auf die lange Seereise, die mir Muße genug vergönnen sollte, aus dem Schachte meiner Verschlagenheit und List ein treffendes Mittelchen herauszuziehen, und – wie das Glück dem Kühnen hold ist, so war mir auch der Zufall günstig. Es reiste ein junger Kommis von Guadeloupe auf demselben Schiffe nach Frankreich, ein lockerer, leichtfertiger Mensch wie ich. Wir lernten einander bald näher kennen, tauschten einzelne Episoden unseres Lebens gegeneinander aus, und ich bemerkte bald, daß meinem guten Reisegefährten der Überfluß an Posterität ebenso quälend am Herzen lag, wie mir der Mangel daran. Der junge Ladenschwengel hatte nämlich in der Kolonie eine Sklavin gekauft, geliebt und zur Mutter gemacht. Narzisse, eine jener Mulattinnen, deren Formenschönheit zum Sprichwort geworden ist, hatte ihrem Liebhaber ein Mädchen geboren, das schon in den Windeln viele Anmut verriet, und war hierauf an einem pestartigen Fieber verblichen. Ihr Tod traf den jungen Kommis wie ein Donnerschlag und ein Zweiter war ihm der Befehl, schnell in die Heimat zurückzukehren, der bald hierauf erfolgte. Trotz seinem Leichtsinn konnte er es nicht über sich gewinnen, seine kleine Adonide in treulosen Händen zurückzulassen. Er nahm das Kind mit und verschwendete daran alle Vatersorge, aber nichtsdestoweniger hegte er entsetzliche Furcht vor dem Empfang seiner Familie, die ihm das Heidenkind nie verzeihen würde. Genug, wir machten einen Tausch, oder besser, ich nahm ihm das ab, was er zu viel hatte. Damals galt der Adel noch alles und der gute junge Mann glaubte sein Kind für alle Zeiten geborgen, sobald er es nur in eine bedeutende Familie eingeschwärzt hatte. Aus Adonide ward Adele, und an der Hand dieses Kindes gewann ich meinen Prozeß. Die gerichtlichen Spitzbübereien jener Zeit sind allberüchtigt. Die Kusins bedienten mich mit den niederträchtigsten Schikanen und mein Advokat brauchte dieselben Waffen gegen sie. Kurz und gut, ich gewann und Adele war von jener Zeit an meine Tochter und ich hätte mich der Sünde gefürchtet, wenn ich das arme Kind verstoßen hätte. Ich vermählte mich nicht mehr, verlor mein Vermögen in der Revolution, gewann mir von neuem Geld und achtete, im Kriege vollauf beschäftigt, nicht auf das Emporblühen meiner Adele, bis Croisier um ihre Hand anhielt und ich später bemerken mußte, wie sehr der Überbringer von Croisiers Reliquien von den Vendéerzeiten her in des Mädchens Achtung stand. Da fand ich denn, daß meine Adele sehr hübsch geworden war und in dem Herzen des Veteranen regte sich die Liebe. Wären Sie mir nicht zuvorgekommen, ich hätte ohne Zweifel das Mädchen überredet und mich wenig gescheut, vor ganz Frankreich die seltsame Weise darzutun, wie ich Adele adoptiert hatte. Die Parlamente existieren nicht mehr, meine Vettern leben nicht mehr, der Reichtum ist dahin und nebenbei auch das Leben von Adelens wirklichem Vater, dem armen Lefebre, den in einem blutigen Duell die Hand eines Feindes auf dem Marseiller Strand niederstreckte.«
Eisige Kälte überfiel Sans-Regret bei diesen Worten. Alle Furien des Gewissens und die zürnenden Manen Lefebres drohten ihm durch die Schleier banger Erinnerung. Aus seinem Körper schien das Blut zu weichen, und gewaltsam nach dem Gehirn zu steigen, dessen Pulsschläge wie Glockentöne an sein Ohr pochten. Er glaubte ohnmächtig niederstürzen zu müssen, raffte sich jedoch gewaltig zusammen und verließ, so schnell ihn seine Füße tragen mochten, den Garten seines Freundes.