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Erstes Kapitel.
An der rauschenden See

Das große alte, einer häßlichen Scheune gleichende Drumgooler Haus, vor dessen Haupteingang ein moosbekleideter Triton auf einer Schneckenmuschel bläst, wird umrauscht vom Tosen des Meeres.

Von den obersten, nach vorn gelegenen Fenstern sieht man den im Sommer blauen, im Winter grauen, in Stille oder Sturm gewaltigen Atlantischen Ozean, und das ewige Brausen der meilenlangen Wellen klingt über die verkrüppelten, die Front des Hauses schützenden Kiefern herüber, je nach der Stimmung des Hörers gleich einem Wiegenlied oder einer Drohung.

Die ganze Umgegend von Drumgool erweckt den Eindruck unermeßlicher Großartigkeit. Hinter Drumboyne im Osten, jenseits des goldenen Ginsters, der düster schwarzen Moorsümpfe und der purpurfarbigen Strecken blühender Heide, läßt die Sonne mit einem Pinselstrich eine Hügelkette von dreißig Meilen Länge erstehen.

Weit ausgedehnte, ewig wechselvolle, stets schöne Berge, die, eben noch im treibenden Nebel und Regen verborgen, jetzt den Wolkenschleier lüften und – zauberhaft in der Schönheit einsamer Ferne – vom duftigen Blau sich abhebende sonnige Klippen und rötliche Schluchten enthüllen.

Noch nistet der Goldadler in diesen Bergen, und lagert man sich an einem Sommertage auf dem Moor, so kann man wohl sehen, wie der Wanderfalke, der oben in der Luft schwebt, verschwindet, während der Schrei des Birkhuhns ertönt, das er niedergestoßen hat, um seinen Kopf im Heidekraut zu zerhacken.

Hier draußen im Sonnenschein auf dem Moor, an einem Tage wie heute, befindet man sich in der angenehmen Gesellschaft von Müßiggang und Einsamkeit, von Sommer und unendlicher Weite. Der Ginsterduft vermischt sich mit dem Seegeruch und das Schweigen der fernen Berge mit dem Klang der Brandung, die in den Felsenhöhlen donnert.

Außer dem Meer und dem Seufzen des Windes in den Heideglöckchen gibt es weder Laut, noch irgend ein Lebenszeichen von Menschen, abgesehen von dem sich kräuselnden blassen Torfrauch dort drüben vor den Bergen, wo das Dorf Drumboyne liegt, und dem Gebäude im Westen nahe der See, nämlich Drumgool House.

Die Eisenbahn endet fünfzehn Meilen östlich von hier in Cloyne, als wage sich die Zivilisation nicht näher heran.

Wenn man nun aufsteht, seine Augen beschattet, gen Norden und über Drumgool House hinwegblickt, so wird man einen Unterschied im Gelände wahrnehmen. Dort beginnt eine vier Meilen lange samtartige Grasstrecke, wie man sie nirgends in der ganzen weiten Welt wiederfinden wird. Die beste Trainierbahn, die es gibt.

Die Frenchs von Drumgool (mit keinen andern Frenchs verwandt) haben manchen Sieger auf diesem Boden trainiert. Einstmals waren jene großen Stallungen hinter Drumgool House voller Pferde. Einstmals – ist das nicht das traurige Motto Irlands?

An diesem Morgen, einem so schönen Septembermorgen, wie man nur wünschen kann, hielt ein von einem mutigen Esel gezogener Rollstuhl vor der Drumgooler Haustreppe.

Neben dem Kopf des Esels stand Moriarty, eine lange fuchsähnliche, übel ausschauende Persönlichkeit in Gamaschen, einen Schwarzdornstock in der Hand und einen Strohhalm im Munde. Er hielt den Esel am Zaum, während Mrs. Driscoll, Köchin und allgemeines Faktotum im Drumgooler Hausstand, Miß French beim Einsteigen behilflich war.

Miß French trug einen mit einer zerzausten Straußenfeder geschmückten schwarzen Filzhut. Unter diesem Aufbau zeigten ihr blasses unbedeutendes Gesicht und ihre großen dunkeln Augen einen entschieden koboldartigen Ausdruck. Sie hatte auch einen Mantel an, der unter dem Kinn mit einer Tarabrosche geschlossen wurde, und obwohl der Tag wahrhaftig warm war, wickelte Mrs. Driscoll ihr noch eine Federboa um den Hals.

Miß French litt an einer Schwäche des Rückgrats, die sich auf ihre Beine erstreckte. Die Ärzte hatten diesem Zustand einen langen lateinischen Namen gegeben, aber die Landbevölkerung wußte viel besser als jene, was bei dem Kinde nicht in Ordnung war. Es war ein Wechselbalg. Wäre Miß French vor hundert Jahren als Kind armer Leute geboren worden, so würde ihr bei ihrem Eintritt in diese Welt ohne Zweifel ein warmer Empfang bereitet worden sein, denn man hätte sie auf einer heißen Schaufel ausgesetzt, damit die Feen sie wieder zu sich nähmen. Sie war ein Wechselbalg und sah auch so aus, wie sie – »mit Augen ganz wie 'ne Eule« – in ihrem Rollstuhl saß, während Mrs. Driscoll ihr die Boa um den Hals legte.

»Behalten Sie die Boa nur um,« sagte Mrs. Driscoll, »und gehen Sie nich auf die Klippen, Moriarty, sondern bleiben Sie im Schutz der Bäume und fahren Sie sachte mit ihr. Aber vor allem, was Sie auch tun, bringen Sie sie nich auf die Klippen.«

Moriarty gab mit seinem Schwarzdornstock dem Esel einen Schlag auf die Rippen, gerade wie ein Trommler die Trommel schlägt, mit einigermaßen ähnlichem Resultat, was den Ton betrifft, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.

Mr. French hatte manchen Sieger trainiert und Moriarty war seine rechte Hand in allen Stallangelegenheiten; was Moriarty nicht von Pferden wußte, war kaum der Erwähnung wert.

Sehr wenig Leute kennen das wahre Innere eines Pferdes – sein Temperament, seinen Geist, die Kraft, die es in Reserve hält, und was es unter diesen und jenen Umständen zu leisten vermag.

Ein Pferd ist mehr als ein Tier auf vier Beinen. Um ein Rennen zu gewinnen, bedarf es nicht allein der Beine, wenn sie auch zweifellos sehr wesentlich sind. Es ist die Seele und das Temperament des Gauls, die ihn die letzte Strecke von Rowley Mile entlang tragen, bei Tattenham Corner das Feld zurücklassen und am Ziel mit höchster Anstrengung den Sieg um eine Halslänge erringen.

Die instinktive Kenntnis der Psychologie des Pferdes macht einen großen Trainer oder großen Jockey aus. Moriarty besaß diese Kenntnis, aber er besaß auch viele andre Eigenschaften. Er war geschickt in allem, was er anfaßte: Aufstellen von Kaninchenfallen, Fasanenzucht, Vogelfang, Hundekuren, Tischlerei.

»Moriarty,« sagte Miß French, als sie sich außer Hörweite des Hauses befanden.

»Ja, Miß,« sagte Moriarty.

»Fahr mich auf die Klippen.«

Moriarty antwortete nicht, sondern versetzte dem Esel noch einen an eine Trommel gemahnenden Schlag auf die Rippen, zog am Zügel und lenkte das Gefährt in die angegebene Richtung.

»Die Sachen werden verloren gehen,« bemerkte Moriarty, ohne den Kopf zu wenden, während er zur Seite des Esels den steilen Klippenpfad mühsam emporklomm.

»Mich kümmert's nicht, ob ich sie verliere,« sagte Miß French, »überdies können wir sie aufsammeln, wenn wir zurückkommen – weg mit dir!« Diese Anrede galt der Boa, die dem großen Hut folgte, dessen klatschendes Zu-Boden-Fallen Moriartys Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Von ihren Hüllen außer dem Mantel befreit, setzte Miß French sich aufrecht hin. Jetzt, als der Wind ihr durch die Locken fuhr und ihre braunen, seegrasfarbigen Augen voller Lust und Licht strahlten, war sie eine viel ansehnlichere und kindlichere Erscheinung.

»Nun, Moriarty,« fuhr Miß French fort, nachdem sie sich klar zum Gefecht gemacht hatte, »gib mir die Zügel.«

Moriarty löste die Zügel vom Sattel und legte sie in die kleinen Hände seiner Herrin, die, einer nachträglichen Überlegung folgend, die Brosche aufknipste und den Mantel hinabgleiten ließ.

»Potztausend, was haben Sie nu gemacht?« sagte Moriarty, indem er auf die hingestreut liegenden Kleidungsstücke zurückblickte, als entdecke er jetzt erst, was das Kind getan habe. »Ehre sei Gott, Sie haben wahrhaftig die Hälfte von sich auf dem Weg zurückgelassen – was für 'ne Art is das, sich zu benehmen? Hören Sie, ich sage das ein für allemal, wenn Sie noch einen Stich mehr auftrennen, fahren Sie mit den Esel und allens nach Hause und Mistreß Driscoll kann dann das Anziehen besorgen – Donnerschlag, von Ihnen hat man mehr Mühe, als von all seinem Geld – nachgeben mit die Zügel und den Esel nich ins Maul reißen

Der letzte Satz wurde laut geschrieen, während Moriarty noch gerade rechtzeitig zum Kopf des Esels hinlief, um Unheil zu verhüten.

Moriarty sprach manchmal zu Miß French, als wenn sie ein Hund, manchmal, als wenn sie ein Pferd, und manchmal, als wenn sie seine junge Herrin wäre. Doch niemals ohne Respekt. Nur irische Dienstboten bringen es fertig, derartig auf verschiedene Weise zu ihrer Herrschaft zu reden.

»Ich reiße ihn nicht ins Maul,« erwiderte Miß French. »Meinst du, ich könne nicht fahren? Aber wenn du willst, kannst du dich am Zügel festhalten und, hör mal, du kannst auch rauchen, wenn du Lust hast.«

»Wenn ich Lust hätte, würde ich Sie nich fragen,« entgegnete Moriarty, indem er den Esel auf einer leidlich ebenen Strecke des Wegs anhielt, um seine Pfeife anzuzünden, bevor sie auf die Klippenhöhe in den Bereich des Seewindes gelangten.

Miß French beobachtete das Beginnen mit kritischer Miene. Der Ton der letzten Worte hatte sie nicht im mindesten gekränkt. Moriarty war ein Original. Mit andern Worten: er besaß Charakter. Selbst dem Vizekönig von Irland gegenüber würde er um keinen Fußbreit zurückweichen. Moriarty war kein Dienstbote, sondern ein Angehöriger. Es ist wahr, er bezog ein Gehalt, aber um dessentwillen arbeitete er nicht; er arbeitete einfach für das Wohl der Familie French. Er besaß eine große Fähigkeit, stets das Rechte zu treffen, und ein gewisses Geschick, alles, was er tat, gut zu machen.

Letzteres bewies er gerade jetzt dadurch, daß er seine Pfeife mit einem einzigen Zündholz in Brand setzte, obwohl der Seewind trotz des Schutzes der Klippen rings um ihn wehte und wirbelte.

Als die Pfeife angezündet war, setzte er den Esel wieder in Bewegung, und in der nächsten Minute waren sie auf der Höhe der Klippen angelangt.


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