Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Crowsnest liegt auf einem Hügel. Es besteht aus einem Postamt, einem winzigen Fleischerladen, einer Gemüsehandlung, einem italienischen Warenhaus und einer Kirche. Die Landstraße nach London steigt die Anhöhe hinan, windet sich durch das Dorf, senkt sich den Hügel hinab und verschwindet hinter Bäumen. Hundertjährige Ulmen verdecken sie. Als die Urgroßväter dieser Ulmen jung waren, hatte die Römische Straße, die über den Hügel an die See führt, bereits ein hohes Alter erreicht; wie sie damals war, so ist sie noch heute und so wird sie sein, wenn diese Ulmen als Sargbretter die Knochen lang vergangener und vergessener Menschen umschließen.
Am Fuße der Anhöhe fließt ein Fluß ohne Namen vorüber; die Römische Straße überschreitet ihn auf einer Brücke, deren Steinpfeiler so alt sind, wie die Straße selbst. Wenn man an einem Sommernachmittag seine Ellenbogen behaglich auf das moosbewachsene Geländer dieser Brücke stützt, so halten Fluß und Straße gemeinsam die Sinne gefangen: der Fluß, der hier im kellerähnlichen Dämmerlicht des Laubdachs, dort unter den durch die Blätter dringenden Sonnenstrahlen gleich einem hellglänzenden Diamant über die algengrünen Steine rauscht – und der ruhige stille Weg, der sich in seinem Schweigen selbst von der Autohupe nicht stören läßt, einem Schweigen, das seit Tiberius' Zeiten vom Leben genährt und großgezogen worden ist.
An dieser Stelle herrscht schwirrendes, zitterndes Leben. Die Bachstelze am Ufer, das Wasser selbst, die im Winde tanzenden Blätter, die Vögel zwischen den Zweigen, die durchsichtig blaue Libelle, die ewig spielenden Mücken, sie alle vereint begleiten den flötenähnlichen Gesang des Flusses. Und dann plötzlich, während man nachsinnt, verlieren die tausend freien und frohen, die Schönheit eines Sommernachmittags ausmachenden Einzelheiten des Lebens ihre Eintagsnatur und verwandeln sich, wie von einem Zauberstab berührt, in ihr unsterbliches Selbst.
»Sie waren alt, als ich noch jung war. Ihr vom Winde getragenes Lied drang schon den Legionen ins Ohr; der Schmetterling floh vor der Phalanx und die Bachstelze vor den glitzernden Adlern.«
So redet die Straße zum Fluß, und das verleiht der Stätte einen Reiz, den sogar die Fuhrleute verspüren, wenn sie an einem Sommernachmittag mit ihren Pferden hier Rast halten.
Zu beiden Seiten des Wegs erstrecken sich Waldungen – freundliches englisches Gehölz, Nußbüsche, Buchenlichtungen, Weidenbrüche – die Heimat des Eichhörnchens, des Fasans und der Holztaube. Der kullernde Schrei des Fasans beantwortet die poetische Klage der Taube, jenen kosenden, schmeichelnden, dünkelhaften, schlaftrunkenen Ton. Im Frühling kommen die Crowsnester Kinder hierher, um die zwischen dem braunen Laub des vergangenen Herbstes blau hervorleuchtenden wilden Veilchen zu pflücken; purpurfarbige Hyazinthen bedecken die Lichtungen und der Ruf des Kuckucks klingt einem für alle Zeiten unvergeßlich in die Ohren. Im Herbst holen die Kinder die Nüsse. Keine von Menschen erdachte Melodie oder Dichtung vermag die Poesie dieser Waldungen annähernd zu beschreiben, kein Gemälde ihre schlichte Schönheit wiederzugeben; von Oberon und Titania werden sie bewohnt und Oberst Bingham hat sie gepachtet.
Dieser lebt, oder lebte, als diese Geschichte spielte, in The Hall, dem größten Haus in der Umgegend, einer Gegend, die in kleine Landsitze aufgeteilt war. Letztere, die aus einem Haus und etwa zwei Morgen Land zu bestehen pflegten, breiteten sich rings um die Hügel von Crowsnest aus und stiegen sogar an den südlich gelegenen Höhenzügen empor.
Auf diesen lag auch die Villa The Martens, zu der ein guter Weg hinaufführte. Wenn man auf der Veranda der Villa stand, erblickte man die Dächer der untenliegenden Landhäuser, die sie eingrenzenden Steinwälle und vermittels eines guten Fernglases selbst die in ihren Gärten umherspazierenden Eigentümer.
Von hier oben gesehen glich die Römische Straße einem weißen Baumwollbande, und die Hölzungen und Gärten, die nicht größer als Billardtische erscheinenden Tennisplätze und die mit roten Ziegeln gedeckten, Kaninchenställen ähnelnden Häuser gaben ein so hübsches Bild ab, daß es sich wohl verlohnte, darüber nachzusinnen, während man an einem warmen Nachmittag seine Zigarette rauchte. Die Leutchen dort unten schienen »Leben« zu spielen und, nach ihrer Umgebung zu urteilen, mußte das eine recht angenehme Beschäftigung für sie sein. Sogar durch ein Glas betrachtet, sahen sie sehr klein aus.
Wenn man den Blick plötzlich von diesen Spielzeughäusern, diesen winzigen saubern Rasenplätzen, diesen mit dem Rot des Geraniums durchzogenen Gärten erhob, überschaute man Sussex in seiner ganzen Ausdehnung, gerade wie einem unten am Fluß an der Römischen Straße die ganze Vergangenheit vor Augen stand. Gehölz hinter Gehölz, Dome und Schluchten von Laub und im Süden die Fortsetzung des Höhenzuges, auf dem man sich befand.
Emanuel Ibbetson hatte die Villa und die Ställe in einem Moment des Enthusiasmus für Rennsport erbaut. Jedenfalls war es eine Gegend, die sich vorzüglich zum Trainieren von Pferden eignete. Gerade hier war der Boden so flach, wie das Herz eines Mannes es nur wünschen kann. Eine große grasbewachsene Ebene, ein Hochplateau, auf dem sich nichts bewegte als weidende Schafe, Wolken- und Vogelschatten, erstreckte sich von den Stallungen direkt nach Süden hin und endete an einem Kreidelager und einer Bodenerhebung, die zu den Schutz gegen den Wind bietenden höheren Dünen und zum Meere führte.
Stallraum für sechs Pferde war vorhanden; alles an dem Anwesen war vom Besten, von den Bausteinen bis zum Dach, von der Patentkrippe bis zum Patentschloß der Türen. Da war eine Patenteinrichtung mit einer Zinke, um das Heu vom oben befindlichen Speicher in die Krippen hinunter zu befördern. Diese Zinke hätte fast Garryowen in seine plötzlich emporgeworfene Nase gestochen, und Moriarty, der alles, was patentiert war, inklusive Medizin, verachtete, zerstörte den Mechanismus – dies nur beiläufig.
Das Haus, wo die menschlichen Wesen Unterkunft fanden, war weit weniger vollkommen in seinen Einrichtungen. Für einen Junggesellen und dessen Freunde gebaut, enthielt es gerade genügend Räume für die Frenchs und noch ein Zimmer für Mr. Dashwood.
Dies ist die flüchtige Skizze des Besitztums, das – Gott weiß, weshalb – The Martens genannt wurde. Es lag auf einer Anhöhe oberhalb Crowsnest, inmitten einer höchst achtbaren Nachbarschaft, die noch nichts davon wußte, daß das Anwesen vermietet – oder richtiger gesagt verliehen – war, und noch weniger von dem, der es geliehen hatte.