Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wie wir gesehen haben, ist auf seiten der Entente hier und da wenigstens der Versuch gemacht worden, den um die Weihnachtszeit 1915 kundgegebenen guten Willen, den Krieg bis zur »vollständigen Zertrümmerung Deutschlands« fortzusetzen, wenigstens teilweise dadurch zu motivieren, daß man auf die Worte des deutschen Reichskanzlers im deutschen Reichstage über die Friedensaussichten und Deutschlands Friedensbedingungen hinwies. Es ist daher notwendig, daß wir uns den Inhalt jener hochoffiziellen deutschen Gesichtspunkte hinsichtlich der Lage der Dinge wieder ins Gedächtnis rufen.
Dabei handelt es sich zunächst um Bethmann-Hollwegs Rede am 9. Dezember 1915. Aber auch seine Aussprüche in der am 19. August 1915 abgehaltenen Reichstagssitzung sind in dieser Verbindung außerordentlich wichtig. Und die Kritik, die auch dieser Äußerung des leitenden deutschen Staatsmannes über die Grundbedingungen eines künftigen Friedensvertrages von seiten der Entente und der neutralen Ententefreunde zuteil geworden, ist so charakteristisch und der Kritik über die Rede vom 9. Dezember so gleichartig, daß es sich wirklich verlohnt, mit der Augustrede zu beginnen.
Diese Rede behandelt die Grundfrage, die Frage des Verantwortlichseins für den Weltkrieg, nach der einzig zulässigen Methode – d. h. durch Hinweisung auf die Grundzüge der europäischen Staatsentwicklung und der Diplomatie während der dem Schicksalsjahre 1914 unmittelbar vorhergehenden Jahrzehnte Da ich selbst in meinem Buche »Weltkrieg und Imperialismus« diese Untersuchungsmethode anzuwenden versucht habe, bin ich ein halbes Jahr vor der Rede des deutschen Reichskanzlers zu denselben Resultaten in den Hauptpunkten gelangt wie er..
Die Koalitionspolitik, die seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Frankreich und Rußland gegen Deutschland und seit Anfang dieses Jahrhunderts von England mit Frankreich und Rußland gegen Deutschland betrieben worden war, hatte die deutschen Bestrebungen einer endgültigen Annäherung an sowohl Frankreich wie England vereitelt und überdies weder mehr noch weniger bedeutet, als daß Deutschland schließlich in allen seinen diplomatischen Angelegenheiten, nicht nur mit jedem dieser Staaten, sondern auch mit jedem anderen Staate, mit einem feindlichen russisch-französisch-englischen »Ringe« hatte rechnen müssen. Deutschlands künftige Entwicklung in allem Wesentlichen, das eine Erweiterung der deutschen Einfluß- und Machtsphäre außerhalb der Grenzen Deutschlands berührte, war unter die tatsächlich durchgeführte Vormundschaft der russisch-französisch-englischen Koalition gestellt worden. Dies ist das, was die Deutschen Englands » Einkreisungspolitik« nennen – denn der »Ring« um Deutschland und seine Zukunft wurde durch Englands (und seines Verbündeten, Japans) diplomatisch organisiertes Zusammengehen mit der deutschfreundlichen Brüderschaft Rußland-Frankreich geschlossen.
Diesen feindlichen »Ring« um Deutschland hatten belgische Diplomaten schon frühzeitig wahrgenommen und als große Gefährdung ihres eigenen, militärgeographisch zwischen Deutschland und Frankreich-England eingeklemmten Landes aufgefaßt. Und daß »der Ring« Wirklichkeit sei, das hatte sich Ende Juli und Anfang August des Jahres 1914 grauenhaft deutlich gezeigt, als Deutschland Frankreichs und Englands Neutralbleiben verlangt hatte, damit der durch den österreichisch-serbisch-russischen Konflikt drohende Krieg auf diese Staaten beschränkt und ein russisch-deutscher Krieg möglicherweise verhindert werde. Da antwortete Frankreichs Regierung, daß »Frankreich tun werde, was ihm seine Interessen geböten«, und der englische Minister des Auswärtigen weigerte sich, sich auf irgendeine Weise Deutschland gegenüber die Hände zu binden, seine »freien Hände« – seine schon mit denen Frankreichs und Rußlands in gemeinsamer, deutschfeindlicher Interessenpolitik fest verbundenen Hände.
Interessant ist in dieser Verbindung die Anführung des deutschen Reichskanzlers, daß Deutschland schon 1912 (bei den Verhandlungen mit Haldane in Berlin) eine klare, bindende Vereinbarung mit England über gegenseitige Neutralität zustande zu bringen versucht habe. Doch Sir Edward Grey habe sich geweigert – um nicht die unter deutschfeindlichem Gesichtspunkte so teure Freundschaft mit Frankreich-Rußland zu trüben!
Auch mit Rußland habe die deutsche Regierung kurz vor dem Weltkriege eine Verständigung anzubahnen versucht, in der Überzeugung, »daß freundliche Beziehungen zu den einzelnen Ententegenossen die allgemeine Spannung mildern könnten«. »Wir waren«, fährt hier der deutsche Reichskanzler in seiner Augustrede fort, »dabei in Einzelfragen mit Rußland zu einer guten Verständigung gelangt – ich erinnere an das Potsdamer Abkommen – und die Beziehungen von Regierung zu Regierung waren nicht nur korrekt, sondern von persönlichem Vertrauen getragen. Aber die Gesamtlage wurde dadurch nicht geheilt. Die war bis in die Wurzeln vergiftet, weil die chauvinistischen Revanchegedanken Frankreichs und die kriegerischen, panslawistischen Expansionsbestrebungen in Rußland durch die antideutsche Politik der Balance of power des Londoner Kabinetts nicht sowohl beschwichtigt als unausgesetzt aufgestachelt wurden und frische Nahrung erhielten. Die Spannung wurde so groß, daß sie eine ernste Belastungsprobe nicht mehr vertrug.«
Es kann, soweit ich zu sehen vermag, auch nicht der geringste Zweifel darüber herrschen, daß die französische und die englische Regierung es unterlassen haben, gegen Rußland das einzige wirksame Mittel zur Verhinderung des Ausbrechens eines Weltkrieges anzuwenden – nämlich ihm rund heraus zu erklären, daß sie ihm in einem Kriege, welcher der seine sei, um Serbiens und seiner Großserben willen nicht gegen Österreich und Deutschland beistehen würden. Dagegen unterließ es die Regierung Englands nicht, Deutschland in sehr anmaßendem Tone aufzufordern, daß es die entsprechende Methode zur Vermeidung des Weltkrieges gegen Österreich anwende. Und die von englischen Ministern geleitete Kriegsagitation gegen Deutschland bediente sich im August 1914 fleißig der Behauptung, daß Deutschland die Schuld an dem Kriege trage, weil es Sir Edward Greys Konferenzvorschlag zurückgewiesen und unterlassen habe, Österreich zurückzuhalten, ja Österreichs Angriffslust und Kriegsbegierde geradezu gesteigert habe.
Bethmann-Hollwegs Augustrede ist nicht zum wenigsten dadurch dokumentarisch wertvoll, weil sie ein neues Licht in diese Fragen bringt. In der mir vorliegenden Wiedergabe lautet die betreffende Stelle der Rede folgendermaßen. »In England wird neuerdings immer wieder behauptet, der ganze Krieg hätte vermieden werden können, wenn ich auf den Vorschlag Sir Edward Greys eingegangen wäre, mich an einer Konferenz zur Regelung des russisch-österreichischen Streitfalles zu beteiligen. Die Sache verhielt sich folgendermaßen: der englische Konferenzvorschlag wurde hier am 27. Juli durch den englischen Botschafter überbracht. Wie auch aus dem englischen Blaubuch hervorgeht, hat der Staatssekretär des Auswärtigen Amts in der betreffenden Unterredung mit Sir Edward Goschen, in der er den vorgeschlagenen Weg als unzweckmäßig bezeichnete, mitgeteilt, nach seinen Nachrichten aus Petersburg sei Herr Sasonow zu einem direkten Meinungsaustausch mit dem Grafen Berchtold geneigt. Er sei der Ansicht, daß eine direkte Aussprache zwischen Petersburg und Wien zu einem befriedigenden Ergebnis führen könne; es sei daher das Beste, zunächst das Ergebnis dieser Aussprache abzuwarten. Sir Edward Goschen meldete dies nach London und erhielt von dort eine telegraphische Antwort, in der Sir Edward Grey wörtlich folgendes erklärte: ›Solange Aussicht für einen direkten Meinungsaustausch zwischen Österreich und Rußland vorhanden ist, würde ich auf jede andere Anregung verzichten, da ich durchaus damit übereinstimme, daß dies das Verfahren ist, das allen anderen bei weitem vorzuziehen ist.‹
Sir Edward Grey schloß sich also damals dem deutschen Standpunkt vollkommen an und stellte seinen Konferenzvorschlag ausdrücklich zurück.
Ich habe es aber nicht, wie Sir Edward Grey, bei dem platonischen Wunsche bewenden lassen, es möge eine Aussprache zwischen Wien und Petersburg erfolgen, sondern ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, um die russische und die österreichisch-ungarische Regierung dem Gedanken zugänglich zu machen, sich in einem Meinungsaustausch von Kabinett zu Kabinett auseinanderzusetzen. Meine Herren, ich habe es an dieser Stelle schon einmal ausgesprochen, daß wir unsere Vermittlungsaktion, speziell auch in Wien, in einer Form betrieben haben, die, wie ich damals sagte, ›bis an das Äußerste dessen ging, was mit unserem Bundesverhältnis noch vereinbar war‹. Da diese meine vermittelnde Tätigkeit im Interesse der Erhaltung des Friedens immer wieder in England in Zweifel gestellt wird, will ich hier an der Hand der Tatsachen zeigen, wie nichtig diese Zweifel sind.
Am 29. Juli abends traf hier folgende Meldung des Kaiserlichen Botschafters in Petersburg ein: ›Herr Sasonow, der mich eben zu sich bitten ließ, teilte mir mit, daß das Wiener Kabinett auf den ihm von hier aus geäußerten Wunsch, in direkte Besprechungen einzutreten, mit einer kategorischen Ablehnung geantwortet habe. Es bleibe somit nichts anderes übrig, als auf den Vorschlag Sir Edward Greys einer Konversation zu Vieren zurückzukommen.‹
Da sich die Wiener Regierung inzwischen zu dem direkten Meinungsaustausch mit Petersburg bereit erklärt hatte, war es klar, daß hier ein Mißverständnis vorliegen mußte. Ich telegraphierte entsprechend nach Wien und benutzte gleichzeitig die Gelegenheit, um meiner Auffassung von der Gesamtsituation erneut bestimmtesten Ausdruck zu geben. Meine Instruktion an Herrn v. Tschirschky lautete folgendermaßen: ›Die Meldung des Grafen Pourtalès steht nicht im Einklang mit der Darstellung, die Eure Exzellenz von der Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung gegeben haben. Anscheinend liegt ein Mißverständnis vor, das ich Sie aufzuklären bitte. Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit St. Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Österreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Euere Exzellenz wollen sich gegen Grafen Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst in diesem Sinne aussprechen.‹
Herr v. Tschirschky meldete darauf am 30. Juli: ›Graf Berchtold bemerkte, es liege in der Tat, wie Eure Exzellenz annehmen, ein Mißverständnis, und zwar auf russischer Seite, vor. Nachdem er auch schon durch Graf Szapary – den österreichisch-ungarischen Botschafter in St. Petersburg – von diesem Mißverständnis Mitteilung erhalten und gleichzeitig unsere dringende Anregung erfolgt sei, in Konversation mit Rußland einzutreten, habe er Graf Szapary sofort entsprechende Instruktionen erteilt.‹
Meine Herren, ich habe, als in England kurz vor Ausbruch des Krieges die Erregung sich steigerte und ernste Zweifel an unseren Bemühungen um die Erhaltung des Friedens laut wurden, diesen Vorgang in der englischen Presse bekanntgeben lassen. Jetzt, nachträglich, tritt dort die Insinuation hervor, der Vorgang habe gar nicht stattgefunden und die Instruktion an Herrn v. Tschirschky sei nur fingiert worden, um die öffentliche Meinung in England irrezuführen. Sie werden mit mir darin übereinstimmen, meine Herren, daß diese Verdächtigung keiner Erwiderung bedarf. Ich will aber gleichzeitig auf das österreichisch-ungarische Rotbuch verweisen, das meine Darstellung lediglich bestätigt und erkennen läßt, wie nach Aufklärung des erwähnten Mißverständnisses die Konversation zwischen St. Petersburg und Wien in Fluß kam, bis sie durch die allgemeine Mobilmachung der russischen Armee einen jähen Abschluß fand. Meine Herren, ich wiederhole: wir haben die direkte Aussprache zwischen Wien und Petersburg mit dem äußersten Nachdruck und mit Erfolg betrieben. Die Behauptung, daß wir uns durch Ablehnung des englischen Konferenzvorschlages an dem Ausbruch dieses Krieges schuldig gemacht hätten, gehört in die Kategorie derjenigen Verleumdungen, hinter denen unsere Gegner ihre eigene Schuld verstecken wollen. Unausweichlich wurde der Krieg lediglich durch die russische Mobilmachung«: – – – – »Aber wir werden letzten Endes den Kampf gegen diese Verleumdungen ebenso siegreich bestehen wie den großen Kampf draußen auf den Schlachtfeldern.«
Soweit die Erklärung des deutschen Reichskanzlers in dieser Frage. Ich kann verstehen, daß bei einem so forcierten diplomatischen Notenwechsel, wie dem während der dreizehn Tage vor dem Kriegsausbruche zwischen Berlin, London, Petersburg, Wien und Paris stattfindenden, wirkliche Mißverständnisse entstehen können. Und ich kann noch besser verstehen, daß die ungeheuer starken nationalen Interessengegensätze und Vorurteile in einer solchen Krisis hinterdrein zu falscher Auslegung einiger Aussprüche und Dokumente führen können. Doch steht unsere Kultur wirklich so tief, daß man bewußte Lügen und absichtliche Täuschungen mit zu den entscheidenden Faktoren des Ausbrechens eines Weltkrieges rechnen muß? Oder sind solche Beschuldigungen in der Hauptsache nur Bestandteile einer in Kriegszeiten als notwendig angesehenen Demagogie oder Kriegshetzkunst? Und wenn dem so wäre, wo sind dann die Staatsmänner durch die innere politische Lage am meisten darauf angewiesen, sich einer solchen Demagogie zu bedienen? Im »demokratischen« England? Im »demokratischen« Frankreich? Oder im »brutal autokratischen« Deutschland?
Diese Frage hat ohne Zweifel als Kulturfrage Interesse, ganz abgesehen davon, daß die wirklichen Ursachen des Weltkrieges natürlich unendlich viel tiefer liegen, als ein Studium des dreizehntägigen diplomatischen Notenwechsels auch nur ahnen läßt.
Ihre größte politische Bedeutung erhielt die im August 1915 gehaltene Rede des deutschen Reichskanzlers jedoch durch ihre Formulierung der Kriegsziele Deutschlands. Mit Klarheit und Kraft spricht hier Bethmann-Hollweg den sowohl unter Deutschlands Gesichtspunkt wie unter dem seiner Feinde einzig und allein tragenden Grundgedanken aus: in der Beschaffenheit des Staatssystemes Europas vor dem Kriege liegt die Grundursache, daß es zum Kriege kam und kommen mußte. Daher müsse dieses Staatssystem nach dem Kriege anders aussehen – und zwar so, daß es schon durch seine Art und seinen Aufbau selber eine starke, möglichst starke Bürgschaft künftigen Weltfriedens gebe. Die scheinbare oder wirkliche Übermacht der Deutschland feindlichen Koalition sei es gewesen, die sie dazu verlockt habe, bis zum letzten Augenblicke während jener dreizehn Tage ihr diplomatisches Spiel mit dem von Rußland und seinen Freunden »zum Tode verurteilten« Österreich und seinem diplomatisch so gut »eingekreisten« Verbündeten zu treiben. In dem neuen europäischen Staatssysteme nach dem Kriege müsse Deutschland also, sowohl um des Weltfriedens willen wie seiner eigenen Lebensinteressen halber, politisch so stark sein, daß seine ungünstige militärgeographische Lage nicht wieder eine neue russisch-englisch-französische Koalition zu einem gemeinsamen Versuche, »den deutschen Militarismus zu zertrümmern«, d. h. Deutschlands politische Machtlosigkeit vor 1870 wiederherzustellen, verlocken könne.
Die hierher gehörenden Teile der Rede des Reichskanzlers lauteten bekanntlich folgendermaßen.
»Dieser Krieg wird, je länger er dauert, ein zerrüttetes, ein aus tausend Wunden blutendes Europa zurücklassen. Die Welt, die dann erstehen wird, soll und wird nicht so aussehen, wie unsere Feinde es sich träumen. Sie streben zurück nach dem alten Europa mit einem ohnmächtigen Deutschland in der Mitte als dem Tummelplatz fremder Ränke und, wenn nötig, als dem Schlachtfeld Europas, einem Deutschland, in dem kraftlose Einzelstaaten auf fremde Winke lauern, ein Land mit zertrümmerter Industrie, nur mit Kleinhandel auf den eigenen Märkten und ohne Flotte, die das Meer von Englands Gnaden befahren könnte. Ein Deutschland als Vasallenstaat des russischen Riesenreiches, das den ganzen Osten und Südosten Europas beherrschen und alle Slawen unter dem Zepter Moskaus vereinen soll. So träumte man im Anfange des Krieges in Paris, in London und in Petersburg.
Nein, meine Herren, dieser ungeheuere Krieg, der die Fugen der Welt klaffen macht, wird nicht zu alten, vergangenen Zeiten zurückführen. Ein Neues muß erstehen! Soll Europa jemals zur Ruhe kommen, so kann das nur durch eine starke unantastbare Stellung Deutschlands geschehen. Die Vorgeschichte dieses Krieges redet eine harte Sprache. Mehr als zehn Jahre lang ist das Sinnen und Trachten der Ententemächte einzig darauf gerichtet gewesen, Deutschland zu isolieren, es auszuschließen von jeder Mitverfügung über die Welt. Die englische Politik der balance of power muß verschwinden; denn sie ist, wie es der englische Dichter Bernard Shaw neulich genannt hat, ein Brutofen für Kriege. Bezeichnend ist in dieser Beziehung eine Bemerkung, die Sir Edward Grey zu unserem Botschafter, dem Fürsten Lichnowsky, machte, als er sich von diesem am 4. August 1914 verabschiedete. Er sagte nicht ohne Betonung, der zwischen England und Deutschland ausgebrochene Krieg werde es ihm ermöglichen, uns beim Friedensschlusse wertvollere Dienste zu leisten, als die Neutralität Englands ihm gestattet hätte. Vor dem Auge des englischen Ministers erstand also wohl schon hinter dem geschlagenen Deutschland die Riesengestalt eines siegreichen Rußlands, und dann wäre ein geschwächtes Deutschland wieder gut genug gewesen, Vasall und Helfer für England zu sein. Meine Herren, Deutschland muß sich seine Stellung so ausbauen, so festigen und stärken, daß den anderen Mächten die Neigung vergeht, wieder Einkreisungspolitik zu treiben. Wir müssen zu unserem wie zum Schutz und Heil aller Völker die Freiheit der Weltmeere erringen, nicht um die Meere, wie es England will, allein zu beherrschen, sondern damit sie allen Völkern in gleicher Weise dienstbar sein können. Wir sind es nicht, die die kleinen Staaten bedrohen. Wir wollen sein und bleiben ein Hort des Friedens, der Freiheit der großen und der kleinen Nationen. – – –
Wohl kein großes Volk hat in den letzten Jahrhunderten solche Leiden zu tragen gehabt wie das deutsche. Und doch können wir das Schicksal lieben, das uns mit solchen Leiden den Ansporn zu unerhörten Leistungen gegeben hat. Für das endlich geeinte Reich war jedes Friedensjahr ein Gewinn. Ohne Krieg kamen wir am glücklichsten vorwärts. Wir brauchten ihn nicht. Nie hat Deutschland die Herrschaft über Europa angestrebt. Sein Ehrgeiz war es, in dem friedlichen Wettbewerb der Nationen, in den Aufgaben der Wohlfahrt und der Gesittung voranzustehen. Dieser Krieg hat es an den Tag gebracht, welcher Größe wir fähig sind, gestützt auf die eigene sittliche Kraft. Und die Macht, die uns unsere innere Stärke gab, können wir auch nach außen hin nur im Sinne der Freiheit gebrauchen. Die von den fremden Regierungen gegen uns in den Krieg gehetzten Völker hassen wir nicht. Aber wir haben die Sentimentalität verlernt. Wir halten, meine Herren, den Kampf durch, bis jene Völker von den wahrhaft Schuldigen den Frieden fordern, bis die Bahn frei wird für ein neues, von französischen Ränken, von moskowitischer Eroberungssucht und englischer Vormundschaft befreites Europa.«
Die Rede des deutschen Reichskanzlers veranlaßte das neutrale Oberhaupt der neutralen schwedischen Sozialdemokratie, Herrn Branting, sich unter dem Titel »Deutschlands Verteidigungsrede« im »Social-Demokraten« vom 21. August 1915 unter anderem so auszusprechen:
»Während ich dies schreibe, ist über den Kommentar der Debatte noch nichts bekannt. Doch wie er auch ausfalle – über die Wirkung der Rede auf das außerhalb des deutschen Kreises stehende Europa kann gar kein Zweifel herrschen. – In den Ländern der Entente wird sie, außer flammender Entrüstung, aufrichtiges Erstaunen über den Zynismus sein, worin man den hervortretendsten Zug der Verteidigungsrede sehen wird. Englands Führer werden die Antwort auf die Anklagen, eine Vereinbarung, die der Welt den Frieden sichern sollte, unmöglich gemacht zu haben, ganz gewiß nicht schuldig bleiben. Und die Version, daß Grey seinen Vorschlag einer Konferenz der vier Mächte ›ausdrücklich zurückgenommen‹ und sich in jenen kritischen Tagen auf den deutschen Standpunkt gestellt habe, wird sicherlich auch gründlich beleuchtet werden. – Aber noch stärker, und wahrlich nicht zum Frommen des Friedens, werden die vom Reichskanzler bezeichneten Ziele des Krieges wirken. Ein so starkes Deutschland, daß von irgendwelchem Machtgleichgewicht nie wieder die Rede sein kann, ein ›unangreifbares‹ Deutschland, das jedem denkbaren Zusammenschlusse anderer Mächte überlegen wäre – kann man, so wird es heißen, deutlicher die Weltherrschaft als Ziel des Krieges verkünden; und läßt es sich auf unverschämtere Weise herausfordern, wird man hinzufügen, als dadurch, daß man die Stirn hat zu behaupten, daß eine derartige Ordnung ein ›Schutz des Friedens und der Freiheit‹ sein werde?
Wir Neutrale haben ja andere Voraussetzungen zur sachlichen Prüfung dessen, was beide Seiten vorbringen können. Doch auch mit aller gebührenden Berücksichtigung dessen, was die belgischen Archive an Kompromittierendem hinsichtlich der antideutschen Politik des verstorbenen Edward des Siebenten haben enthalten können, müssen wir uns sagen, daß damit gar nichts gegen die Aufrichtigkeit des Friedenswillens Haldanes, Asquiths und Greys im Jahre 1912 bewiesen werden kann. Was Bethmann über die Neutralitätsverpflichtungen, die man damals zu erlangen gesucht, anführt, kann von neutralem Horizonte aus unmöglich die englischen Staatsmänner schuldig erscheinen lassen, die sich damals geweigert haben, England dazu zu verpflichten, daß es gänzlich abseits stehe, wenn ›Deutschland zu einem Kriege gezwungen sein sollte‹. Deutschland ist ja jetzt, nach seiner eigenen Überzeugung, zum Kriege ›gezwungen‹ worden. Welch beredteres Beispiel läßt sich dafür anführen, daß jene deutsche Formel, gerade wie von englischer Seite eingewendet wurde, ein einseitiges Fesseln Englands bedeuten sollte, während es Deutschland (und seinen Bundesgenossen) freistand, nach Belieben zu handeln! – – –«
Da der neutrale Herr Branting in der Darstellung des leitenden deutschen Staatsmannes von dem Bestreben Deutschlands zur Erhaltung des Friedens während der verhängnisvollen diplomatischen Verhandlungen Ende Juli 1914 nur eitel »Zynismus« sieht, kann man sich ja nicht wundern, daß er die Worte des Reichskanzlers, daß Deutschlands Befreiung von Englands Einkreisungspolitik und die Befreiung der Weltmeere von der Alleinherrschaft Englands »zum Schutz des Friedens und der Freiheit« ausgenutzt werden sollen, als »unverschämtes Herausfordern« bezeichnet.
»Deutschland ist seit lange die größte Militärmacht der Erde und sollte nun auch noch die Weltmeere beherrschen«, sagt Herr Branting, – wobei er augenscheinlich die kleine friedliche russische Militärmacht (in der Ententesprache einst so hoffnungsvoll »Dampfwalze« genannt) vergißt und auch wohl Englands Fähigkeit, sich selbst dann noch eine ziemlich große Flotte zu halten, wenn die Weltmeere von Englands jetziger Alleinherrschaft befreit sind, in etwas grotesker Weise unterschätzt.
Herrn Brantings Neutralität reicht augenscheinlich nicht so weit, daß sie deutschen (und österreichischen) Staatsinteressen ebensoviel Wichtigkeit zugestehen könnte wie englischen, russischen und französischen. Letztere sind ihm unter demokratischen Gesichtspunkten den deutschen unbedingt überlegen, da diese ja, nach englisch-französischer Formel, nur als Vertreter des »zynischen«, nach der »Weltherrschaft« strebenden »deutschen Militarismus« gelten.
Das stockblinde Vorurteil des schwedischen Sozialistenführers gegen Deutschland und sein Köhlerglaube an die demokratische Zuverlässigkeit der russisch-englisch-französischen Weltkriegspolitik haben zum Glück auch bei verschiedenen seiner eigenen schwedischen Parteigenossen starkes Bedenken erregt – sogar bei solchen, die ihn an »antimilitaristischer« und radikaldemokratischer Orthodoxie noch weit übertreffen.
So spricht zum Beispiel der Führer jener »radikalen« Richtung, Herr Z. Höglund, in seiner Zeitung »Die Sturmglocke« seine Mißbilligung über »den einseitig frankophilen Standpunkt« aus, »den Branting zum Weltkriege eingenommen hat und gegen welchen wir die wirklich sozialistische Auffassung festhalten, die der in kapitalistischem und militaristischem Geiste geführten Politik der Regierungen aller Länder die Schuld gibt«. In einem Artikel über »die Verantwortung für den Weltkrieg« fährt er folgendermaßen fort:
»Daß die französische Regierung den Frieden erhalten wollte, jedenfalls den Frieden in jenem Augenblicke, ist sehr glaubhaft. Aber, wenn etwas, so ist gerade dies eine ›Vereinfachung historischer Probleme‹, wenn man nur nach dem Verhalten der Regierungen an dem Zeitpunkte, als die Krisis akut wurde, urteilen will. Daß Frankreich, das seine dreijährige Wehrpflicht noch ebensowenig hatte durchführen können, wie es seinem Bundesbruder Rußland gelungen war, seinen großen Flottenplan zu verwirklichen, gerade jetzt nicht gut auf den Krieg vorbereitet war und deshalb den Frieden zu bewahren suchte, verhindert nicht, daß diese Mächte durch ihre vorhergehende Politik ebensowohl wie Deutschland die ungeheuere Verantwortung für den Weltkrieg tragen. Ist es ein ›Armutszeugnis‹, so zu urteilen, dann sind die ganze sozialistische Wissenschaft und die Beschlüsse der Internationale reine Armutszeugnisse, denn sie haben diese Weltkatastrophe vorausgesagt, und zwar nicht als Folge der böswilligen Machthaber eines einzigen Landes, sondern als Resultat der imperialistischen Politik, die sämtliche Großmächte getrieben haben. Und diese Theorie ist sicherlich haltbarer als das erhitzte Gefühlsdenken, das nur einer Seite alle Schuld und alle Verantwortung zuschieben will – eine Stimmung, die freilich wegen der vielen verabscheuenswürdigen Taten der deutschen Kriegsführung, die uns alle empören, erklärlich ist, die aber doch wenig mit der materialistischen Geschichtsauffassung, zu der Branting sich früher bekannt hat, übereinstimmt.
Es gilt, nicht nur deutschen Militarismus und Kapitalismus, sondern in allen Ländern Militarismus und Kapitalismus zur Strecke zu bringen, das muß unsere Losung sein. Französische Nationalisten oder englische Nationalisten sein ist nicht besser, als deutsche Nationalisten zu sein. Nein, nichts von alledem! Nur mit einem Vaterlande sympathisieren wir: dem Sozialismus! Nur einen Krieg billigen wir: den Klassenkampf! Nur eine Fahne erheben wir: die der Internationale!«
Diese Art programmatisch korrekter Argumentation hätte man mit unbestreitbarem Rechte von einem sozialdemokratischen Führer eines neutralen Landes, wo der Weltkrieg noch keine rein nationalen oder nationalistischpolitischen Leidenschaften gegen irgendeine der kämpfenden Nationen hat entzünden können, erwarten sollen. Anstatt dessen hat Herr Branting vom ersten Tage des Weltkrieges an die schwedische Sozialdemokratie in eine grundsätzlich deutschfeindliche und ententefreundliche Politik hineinbugsiert, welche die fundamentalen sozialdemokratischen Gesichtspunkte, die an die große Weltkrise anzulegen sind, gänzlich beiseiteschiebt.
Ich werde in der Folge reichlich Gelegenheit haben, dieses in Beziehung auf die Frage nach dem Einflusse des Weltkrieges auf die künftige Entwicklung des europäischen Demokratismus so beachtenswerte Verhalten näher zu beleuchten. Nun gehe ich zu der zweiten großen Aussprache des leitenden deutschen Staatsmannes über Deutschlands grundsätzliche Mindestanforderungen an den Inhalt eines Friedensschlusses über.
In seiner am 9. Dezember 1915 im deutschen Reichstage gehaltenen Rede konnte der Reichskanzler auf eine Reihe neuer, den Mittelmächten sehr günstiger und für ihre Lage bedeutungsvoller Kriegsereignisse zurückblicken. Die starke gerade Schützengrabenlinie im Osten (Dünaburg-Czernowitz) war nun schon eine »alte« strategische Tatsache. Serbien war vollständig besetzt. Der Weg zwischen Mitteleuropa und Vorderasien war erschlossen – mit allem, was dies an Möglichkeiten, um dem von den Weltmeeren abgesperrten Deutschland Lebensmittel und Rohstoffe zuzuführen und die Türkei mit Kriegsmaterial und Truppenführern zu versehen, mit sich bringt. Das Säubern der Gallipolistellungen vom Feinde und das Beginnen einer Offensive unten am Persischen Meerbusen und gegen Suez waren nur noch Zeitfragen. Über die gegen Rußland und Serbien nicht länger notwendigen Truppenmassen ließ sich nun anderweitig verfügen. Gewaltige Offensivversuche des Feindes in Frankreich und auf der italienischen Seite hatten vor kurzem ihre aller Welt bekanntgegebenen Zwecke, nämlich zu einem »entscheidenden Durchbruche« nach Art des Durchbruchs der Mittelmächte in Galizien und Serbien zu führen, vollständig verfehlt.
Nachdem er über diese Lage Bericht erstattet hatte, beantwortete der Reichskanzler eine von sozialdemokratischer Seite vorgebrachte Interpellation: ob der Reichskanzler bereit sei, sich darüber zu erklären, unter welchen Bedingungen er auf Friedensverhandlungen eingehen werde. Die Antwort war, ebenso wirklichkeitsgetreu wie tragisch, unvermeidlicherweise diese: Die Feinde Deutschlands seien nicht in der Gemütsverfassung, daß sie einen deutschen Friedensvorschlag diskutieren würden, denn sie erklärten einstimmig, daß sie sich nicht mit weniger als der »Zertrümmerung Deutschlands« oder der »Vernichtung des deutschen Militarismus« begnügen könnten. Jedes deutsche Friedensangebot werde als ein Geständnis deutscher Schwäche aufgefaßt und entflamme daher die Kampflust und die Siegesgewißheit des Feindes noch mehr – verlängere also den Krieg.
»Wenn ich hier über eigene Friedensbedingungen sprechen soll,« sagte der Reichskanzler, »muß ich mir erst die Friedensbedingungen der Feinde ansehen. Unsere Feinde haben im ersten Rausch der Hoffnungen, die sie zu Beginn auf diesen leichten Krieg setzen zu können meinten, die ausschweifendsten Kriegsziele aufgestellt, haben die Zertrümmerung Deutschlands proklamiert. In England wollte man, wenn nötig, für diesen Zweck 20 Jahre lang kämpfen. Inzwischen ist man dort über eine solche Dauer des Krieges etwas besorgt geworden. Aber das Endziel ist trotz aller Ereignisse der Zwischenzeit dasselbe geblieben. Ich verweise auf die kürzlich von der vielgelesenen › National Review‹ aufgestellten Kriegsziele. Und so geht es mit wenigen Ausnahmen fast durch die ganze englische Presse. Der › Statesman‹, ein als gemäßigt bekämpftes liberales Blatt, nennt unter den Friedensbedingungen die Zurückgabe Elsaß-Lothringens, die Vernichtung des preußischen Militarismus, die Vertreibung der Türken aus Europa, die Herstellung eines Großserbiens mit Bosnien. Der frühere Minister Masterman verlangt die Abtretung der linken Rheinseite und des ganzen deutschen Kolonialbesitzes. Und der › Labour Leader‹ meint, mit diesen Forderungen habe die Regierung einen Fühler ausstrecken wollen. Es bleibt eben alles beim alten: Deutschland muß vernichtet werden.
Und so klingt es auch aus der französischen Presse heraus. Noch immer wird Elsaß-Lothringen gefordert. Herr Hanotaux hat noch kürzlich im › Figaro‹ im Gegensatz zu der sonst üblichen Legende von dem überfallenen Frankreich das offene Bekenntnis abgelegt, Frankreich habe den Krieg gemacht, um Elsaß-Lothringen zu erobern. Mir schien, daß der Herr Abgeordnete Scheidemann andeuten wollte, solche Presseäußerungen gäben die wahre Stimmung des Volkes nicht wieder. Es mag sein, daß bei den Feinden einzelne nachdenkliche Männer, die sich Rechenschaft von der militärischen Lage geben, im Grunde ihres Herzens wünschen, daß dem entsetzlichen Blutvergießen bald ein Ende gemacht werde. Aber ich sehe nicht, daß diese Männer in den spärlichen Fällen, wo sie zum Worte kommen, auch durchdringen. Vielleicht gehört ihnen einmal die Zukunft, die Gegenwart sicher nicht. – – –
Unter der Protektion der Regierungen hat man die Völker von Anfang an über die Wirklichkeit getäuscht, durch die fabrikmäßige Herstellung und Verbreitung von Lügennachrichten aller Art unauslöschlichen Haß gegen uns gesät. Nun sieht man, daß mit alledem keine Siege erfochten werden. Man hat reichliche militärische und diplomatische Niederlagen erlitten, Hekatomben geopfert, man kann es nicht mehr verbergen, daß wir weit in Feindesland stehen, im Osten und im Westen, daß wir den Weg nach dem Südosten geöffnet haben, und daß wir sehr wertvolle Faustpfänder in der Hand haben. Aber das Ceterum censeo, daß Deutschland zertrümmert werden soll, soll trotzdem nicht aufgegeben werden. Man hat sich so fest darauf verbissen, daß man davon nicht mehr loskommen kann. Und deshalb müssen weitere Hunderttausende auf die Schlachtbank getrieben werden. – – –
Wenn einmal die Geschichte über die Schuld an diesem ungeheuerlichsten aller Kriege und seine Dauer urteilen wird, dann wird sie das entsetzliche Unheil aufdecken, das Haß, Verstellung und Unkenntnis angerichtet haben. Solange diese Verstrickung von Schuld und Unkenntnis bei den feindlichen Machthabern besteht und ihre Geistesverfassung die feindlichen Völker beherrscht, wäre jedes Friedensangebot von unserer Seite eine Torheit, die nicht den Krieg verkürzt, sondern verlängert. Erst müssen die Masken fallen. Noch wird der Vernichtungskrieg gegen uns betrieben. Damit müssen wir rechnen. Mit Theorien, mit Friedensäußerungen von unserer Seite kommen wir nicht vorwärts und nicht zu Ende. Kommen uns unsere Feinde mit Friedensangeboten, die der Würde und Sicherheit Deutschlands entsprechen, so sind wir allezeit bereit, sie zu diskutieren. In dem vollen Bewußtsein der großen, von uns erstrittenen und unerschütterlich dastehenden Waffenerfolge lehnen wir jede Verantwortung für die Fortsetzung des Elends ab, das Europa und die Welt erfüllt. Es soll nicht heißen, wir wollten den Krieg auch nur um einen Tag unnötig verlängern, weil wir noch dieses oder jenes Faustpfand erobern wollen.
In meinen früheren Reden habe ich das allgemeine Kriegsziel umrissen. Ich kann nicht sagen, welche Garantien die Kaiserliche Regierung z. B. in der belgischen Frage fordern wird, welche Machtgrundlagen sie für diese Garantien für notwendig erachtet. Aber eines müssen sich unsere Feinde selbst sagen: je länger und verbitterter sie diesen Krieg gegen uns führen, um so mehr wachsen die Garantien, die für uns notwendig sind.
Wollen unsere Feinde für alle Zukunft eine Kluft zwischen Deutschland und der übrigen Welt aufrichten, dann sollen sie sich nicht wundern, daß auch wir unsere Zukunft danach einrichten. Weder im Osten noch im Westen dürfen unsere Feinde von heute über Einfallstore verfügen, durch die sie uns von morgen ab aufs neue und schärfer als bisher bedrohen. Es ist ja bekannt, daß Frankreich seine Anleihen an Rußland nur unter der ausdrücklichen Bedingung gegeben hat, daß Rußland die polnischen Festungen und Eisenbahnen gegen uns ausbaute. Und ebenso ist es bekannt, daß England und Frankreich Belgien als ihr Aufmarschgebiet gegen uns betrachteten.
Dagegen müssen wir uns politisch und militärisch und wir müssen auch wirtschaftlich die Möglichkeit unserer Entfaltung sichern. Was dazu nötig ist, muß erreicht werden. Ich denke, es gibt im deutschen Vaterlande niemanden, der nicht diesem Ziele zustrebte.«
Einem gewöhnlichen Menschenverstande, der die Darstellungen der Ententekritiker und der Ententepresse über die Vorgeschichte des Kriegsausbruches nicht ganz unkritisch mit Haut und Haar verschluckt und dazu die am tiefsten liegenden weltgeschichtlichen Ursachen des Krieges wie seine vor dem Juli 1914 liegenden diplomatischen Vorbereitungen unparteiisch durchforscht hat, wird diese maßvolle Darstellung des deutschen Reichskanzlers hinsichtlich der Stellung Deutschlands zur Friedensfrage im Dezember 1915 schwerlich als etwas anderes erscheinen können denn als selbstverständlicher Ausdruck der gegebenen Lage. Die Feinde schwören, jetzt wie im ersten Augenblicke des Krieges, hoch und heilig, daß sie nicht anders als unter gewissen, für Deutschland geradezu wahnsinnig unannehmbaren Bedingungen an Frieden denken werden. Was bleibt da einem Staatsmanne anderes übrig, als ganz ruhig zu erklären, daß Deutschland sich nur an einem Frieden beteiligen könne, der dem Deutschen Reiche wirksamen Schutz gegen die gegenwärtige und künftige Verwirklichung dieser ursprünglichen, auch jetzt noch festgehaltenen Kriegsziele des Feindes gewähre?
Die neutrale Leitung der neutralen schwedischen Sozialdemokratie war jedoch anderer Meinung. Denn ihr neutraler Gedankengang ist so: Rußland-England-Frankreich kämpfen für das Recht und für die Humanität, wenn sie für ihre Staatsinteressen kämpfen; Deutschland aber ist so beschaffen, daß es für nichts anderes als Unrecht und Unmenschlichkeit kämpfen kann, wenn es für seine Staatsinteressen kämpft.
Bethmann-Hollwegs Worte über »notwendige Garantien« empören die neutrale Zeitung »Social-Demokraten« aufs tiefste und veranlassen sie, folgendes zu schreiben:
»Deutschland muß ›Garantien‹ haben, und diese Garantien bestehen in Eroberungen im Osten sowohl wie im Westen. Die ›Einfallstore‹, worüber man den Feind nicht verfügen lassen darf, sind nicht genauer bezeichnet fremde Landgebiete, die unter deutsche Herrschaft gebracht werden sollen, und die Größe der Garantien wird in direkter Proportion zur Vollständigkeit der militärischen Erfolge stehen. – Dies ist ein so offenes Eingeständnis des Annexionskrieges, daß es durch einige vorangehende oder nachfolgende Stilblüten wie ›Kampf um unser Leben und unsere Freiheit‹ oder die sonderbar herausfordernde, aber vollständig unbewiesene Behauptung, daß ›Frankreich und England Belgien als ihr Aufmarschgebiet betrachteten‹(!), nicht zu verwischen ist.
Das Gute hat also die sozialistische Interpellation mit sich gebracht, daß der Reichskanzler gezwungen war, sich deutlicher auszusprechen, über die Art der kaiserlich deutschen Kriegsziele kann von nun an kein Zweifel herrschen, wenn auch das detaillierte Annexionsprogramm einstweilen noch nicht vorliegt. – Deutschlands Krieg ist offen ein Krieg zur Machterweiterung geworden. Die Parteien, die in der Folge die deutsche Regierungspolitik stützen, können sich nach diesem noch weniger als früher damit entschuldigen, daß es ihnen an Kenntnis des Zieles, das von ihr angestrebt wird, fehle.«
Der »Social-Demokraten« ist in so extremem Grade neutral, friedensfreundlich, annexionsfeindlich und volksfreiheitsfreundlich, daß er fortfahren muß, gegen Deutschland zu hetzen, obgleich der deutsche Reichskanzler versichert, daß er jedes Friedensangebot, welches mit Deutschlands Würde und seiner zukünftigen Sicherheit vereinbar sei, diskutieren werde. Und die Zeitung fährt fort, warm mit Rußland und seinen Freunden England und Frankreich zu sympathisieren, obwohl diese seit sechzehn Monaten durch ihre verantwortlichen Staatsmänner versichert haben, daß sie von keinem anderen Frieden als einem solchen wissen wollen, der gewaltige Annexionen deutscher und österreichischer Gebiete nebst der gröbsten Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes in inneren politischen Fragen (»Vernichtung des Militarismus«, Zerstörung der Reichseinheit usw. in Deutschland) enthalte.
Es kann ja den Anschein haben, als ob ein Grundsätzlich-Neutraler und grundsätzlicher Friedensfreund wie Herr Branting, wenn nicht aus Deutschfreundlichkeit, so doch aus gewöhnlicher »Humanität«, vor den entsetzlichen weiteren Blutopfern zurückscheuen müßte, welche das Durchsetzen der Annexions- und Unterwerfungspläne der Entente gegen Deutschland selbstverständlich kosten wird, wenn der Ausgangspunkt des Siegeszuges in strategischer Hinsicht so ungünstig ist wie die Lage der Entente am Ende des Jahres 1915.
Keineswegs! Das moralische Entsetzen des neutralen Pazifisten Branting vor einem deutschen Erfolge und sein heiliges Herbeisehnen eines gründlichen Russen- und Ententesieges lassen ihn den Blutpreis, um welchen solche Herrlichkeit und solcher Segen erkauft werden müssen, ganz vergessen.
Ungleich solchen engelhaften Staatswesen wie Rußland, England und Frankreich ruht Deutschland, wie Herr Branting meint, seit 1870 auf unheiligem Grunde. Die Menschheit kann keinen Frieden in ihrer Seele finden, bevor nicht das in der Weltgeschichte absolut einzig dastehende Verbrechen, das Deutschland 1871 gegen Frankreich begangen hat, gesühnt worden ist – gesühnt nach dem gegenwärtig gegen Deutschland aufgestellten Siegesprogramm der Entente! Der neutrale schwedische Arbeiterführer schreibt nämlich im »Social-Demokraten« vom 17. Dezember 1915 unter dem Titel »Die Voraussetzungen des Friedens« (und auf Veranlassung der Dezemberrede Bethmann-Hollwegs) auf folgende ebenso friedfertige wie geschichtlich-neutrale und tiefsinnige Weise:
»Wie nie vorher in der Geschichte der Welt,« sagt er, »ist es Massen unter den kämpfenden Völkern klar, daß, wenn jetzt das Unglück über sie hereinbricht, eine Lösung zu finden sein muß, die es mit sich bringt, daß sich dies nicht wiederholen darf und daß der unheimlichste, größte aller Kriege auch der letzte ist. – Doch eine solche Lösung, ein dauerhafter Friede läßt sich nur auf allgemeiner Anerkennung der in unserer gegenwärtigen Entwicklungsperiode allgemeingültigen Rechtsgrundsätze aufbauen. Die Heiligkeit der zerrissenen Verträge muß wiederhergestellt werden. Der Friede kann niemals daraus hervorgehen, daß ein gewisses Volk für sich eine unangreifbare Machtstellung, die unter Zertreten des Rechtes kleinerer Nachbarvölker auf Selbstbestimmung erlangt werden soll, beansprucht.
Solange derartige Ansprüche festgehalten und sogar mit der Drohung, daß die Bedingungen des Siegers um so drückender werden sollen, je länger der Widerstand dauert, verschärft werden, kann Verzweiflung über die Schrecken des Krieges nie zu dem Frieden, nach welchem der gute Wille ruft, führen. Denn noch lebt, zur Ehre unseres Geschlechtes, bei Kleinen und Großen im tiefsten Innern das Freiheitsgefühl, das da sagt: lieber Tod als Sklaverei. Und wenn dieser oder jener kleine vertrocknete Winkelprädikant nichts von dem erfaßt, was die Zeit mit donnernder Stimme einschärft, daß überall der Einzelmensch willig zurücktritt, sobald es sich um Leben und Tod der Nation handelt, und wenn fortfahrend, wie vor der Wirklichkeit des Ernstes, diese oder jene höhnische Stimme fragt, was es dem Proletariats nütze, für das sogenannte Vaterland zu fallen, so hat die Arbeiterwelt in allen kriegführenden Ländern, wo man weiß, daß man für das Recht des Volkes, frei und ungekränkt zu leben, kämpft, oder wo man dafür zu kämpfen geglaubt hat, millionenfach gezeigt, daß sie, sobald es wirklich darauf ankommt, mit jenen Stimmen nichts gemeinsam hat. – Der Wille zum Frieden und der Wille zur Freiheit dürfen weder voneinander isoliert betrachtet werden, noch kann man sie überhaupt so sehen. Ein Friede, der nur die Unterdrückung legalisieren würde, wäre ein permanentes Verbrechen, aber auch als Friede von geringem Werte. Er würde nur ein Waffenstillstand sein, ein Sammeln der Kräfte, unter neuem Rüsten zu neuen Abrechnungen mit neuen Hekatomben an Blutopfern.
Der muß blind sein, welcher nicht sieht, daß der jetzt tobende große europäische Krieg eine seiner tiefen Wurzeln noch in dem Unrecht hat, welches das siegreiche Deutschland 1871 beging, als Frankreich um zwei Provinzen verstümmelt wurde, ohne Rücksicht aus die ergreifenden Proteste ihrer Bevölkerung. Damals berief man sich auf militärische Gründe und ließ sie ausschlaggebend gegen das Selbstbestimmungsrecht sein – damals mußte wie jetzt ein ›Einfallstor‹ um Deutschlands künftiger Sicherheit willen mit festem Riegel versperrt werden. Damals aber sagte Karl Marx die verhängnisvollen Folgen einer solchen törichten Politik, die in letzter Hand nur dem freiheitsfeindlichen Zarentum nützen würde, voraus, und Bebel sowie Liebknecht der Ältere wanderten wegen ihres Einspruchs gegen das Recht der Gewalt ins Gefängnis. Jetzt will nur noch eine Minderzahl der so gewaltig angewachsenen deutschen Sozialdemokratie in der Frage Elsaß-Lothringens der Bevölkerung dieser Landesteile zugestehen, daß sie endlich selbst ihre Wahl treffe, und das Einverstandensein des einen Sprechers der Mehrzahl mit den Gesichtspunkten des Reichskanzlers gibt wahrlich geringe Hoffnung auf ernsten Widerstand gegen neues Annektieren neuer ›Einfallstore‹.
»Wie kann man sich dann darüber wundern, daß auch die flehentlichsten Friedensstimmen verklingen, ohne auf den Seiten Widerhall zu finden, wo man aus bitterer Erfahrung den geringen Wert eines Friedens kennt, den die Macht in Widerstreit mit dem tiefsten Rechtsgefühl des Volkes, das ihr Opfer wird, diktiert hat! Kann man sich wundern, daß Nationen, die schon soviel kostbares Blut vergossen und den Schrecken ins Auge gesehen haben, sich weigern, auch nur einen Augenblick daran zu denken, das Ende neue unheilbare Wunden zwischen den ersten Völkern Europas, neue Zwangsformationen, die früher oder später neue Krisen erzeugen würden, sein zu lassen! Und daß sie sich um so bestimmter weigern, weil sie Grund zu haben glauben, damit rechnen zu können, daß das Übergewicht einer viel größeren Kriegsbereitschaft sich, trotz allem, während der Dauer des Krieges immer mehr ausgleichen muß.«
Die Weltgeschichte der letzten Jahrzehnte (oder Jahrhunderte) hat bekanntlich keine anderen »zerrissenen Verträge« aufzuweisen als die, welche Deutschland, einzig und allein aus Brutalität und Schurkerei, zerrissen hat! Die Geschichte neuerer und älterer Zeiten hat keine anderen »rechts- und freiheitsverletzenden« Annexionen aufzuweisen, als die 1864 und 1871 von deutscher Seite erfolgten Annexionen jener Gebiete, die zum allergrößten Teile alte deutsche Reichsländer waren! Es gibt in der Gegenwart kein anderes Volk, als das deutsche jetzt eben durch seinen Reichskanzler, das »für sich eine unangreifbare Machtstellung beansprucht« hat oder beansprucht! Hier kann von England oder von Rußland – oder von Frankreich vor 1866-70 – gar keine Rede sein, denn sie haben ja nie, zu keiner Zeit und am allerwenigsten kürzlich, das »Selbstbestimmungsrecht« kleinerer Völker, besonders »kleinerer Nachbarvölker« zertreten!
»Lieber Tod als Sklaverei!« – ruft der pazifistische Herr Branting aus. da er so aus der Tiefe seines weltgeschichtlichen Wissens heraus das neutrale Bild der einzig dastehenden Schlechtigkeit Deutschlands und der weißen Unschuld Englands, Rußlands und Frankreichs aufmalt. Das Ende des Weltkrieges darf nicht »neue unheilbare Wunden zwischen Europas ersten Völkern, neue Zwangsformationen, die früher oder später Krisen erzeugen würden,« sein, und daher muß die Entente nach ihrem Programm siegen, nicht Deutschland nach seinem. Der neutrale Herr Branting scheint nämlich, obgleich er Sozialdemokrat ist, mit Sasonow, Grey und Poincaré befreundet genug zu sein, um vor Gott und der Weltgeschichte zuverlässig verbürgen zu können, daß von irgendeiner »unheilbaren Wunde« und irgendwelcher »Zwangsformation« sicherlich nicht die Rede sein wird, falls diese Herren nach ihrem Programme siegen.
Aber dieses Programm wird ja (natürlich »zum Frommen der Menschheit!« – aber dennoch, leider, nicht ganz mit der freien Zustimmung des deutschen Volkes!) doch Deutschland »unheilbare Wunden« schlagen und es in allerlei »Zwangsformationen« fesseln! Oder nimmt Herr Branting dies Programm nicht ernst? Sieht er es als weniger ernst gemeint an? Hegt er gar keine Besorgnis um z. B. Polen und Finnland oder um z. B. die orientalischen Staaten, denen Rußland, England und Frankreich, in gutem Einverständnis miteinander und unter grundsätzlicher Zurückweisung jeglicher Einmischung von deutscher Seite, gerade in den dem Weltkriege vorangehenden Jahren »unheilbare Wunden« beizubringen und »Zwangsformationen« anzulegen begonnen haben? Oder ist Herr Branting bei näherem Nachdenken doch damit einverstanden, daß man auch diese, seine eigene, »humanitäre«, so lebhaft an den Stil der um Soldaten und Kredit werbenden Ententepresse erinnernde Tirade, die ich mir hier anzuführen erlaubt habe, als weniger ernstgemeint ansieht?
Auf diese interessante Frage werde ich in einem späteren Kapitel zurückkommen, denn Herr Branting gibt uns ein außerordentlich feines Beispiel einer Parteiführerpolitik in einem neutralen Lande, wie sie während einer Weltkrise, die sowohl bei den Neutralen wie bei den Kriegführenden zu den umfassendsten, bedeutungsvollsten Veränderungen in der außenpolitischen Lage führen muß, nicht sein soll.