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Den zum Kriege notwendigen Staatskredit haben die Sozialdemokraten sowohl im deutschen Reichstage wie im französischen Parlamente bewilligt. Aber Unterschiede sind vorhanden, und sie sind in hohem Grade charakteristisch.
Bei der Abstimmung des deutschen Reichstages am 4. August 1914 über den ersten, 5 Milliarden Mark betragenden Kriegskredit gab die sozialdemokratische Parteigruppe nach Verabredung nur Jastimmen ab. Aber bei der vorbereitenden Besprechung der Frage in der Gruppe waren ein Sechstel bis ein Siebentel der Mitglieder entgegengesetzter Meinung gewesen und hatten erklärt, daß die Bewilligung der Mittel zu einem solchen Krieg »die Sozialdemokratie mit sich selbst in Widerspruch setzen« heiße und »auf die Arbeiter anderer Länder den schlechtesten Eindruck machen, in der Internationale der Arbeiter die größte Verwirrung stiften« werde Bernstein, op. cit., S. 20..
Im »Social-Demokraten« (Stockholm) vom 17. Oktober 1914 wurde über die Auffassung dieser Minderheit in folgender Weise ausführlich berichtet:
»Zuerst muß vielleicht, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, als selbstverständlich betont werden: daß das Recht und die Verpflichtung zu nationaler Selbstverteidigung und Selbstbehauptung auch von seiten der Minderheit keinen Augenblick in Frage gestellt worden ist. – Hierüber hat also vollständige Einigkeit geherrscht. Dagegen hat die Minderheit es als Pflicht der deutschen Reichstagsfraktion angesehen, in schärfster Form jede Verantwortung für diesen Krieg abzulehnen, der durch eine von uns stets bekämpfte Politik hervorgerufen ist, eine Politik, an der Deutschlands herrschende Klassen mitschuldig sind und die, allgemein gesehen, die Folge der kapitalistisch-imperialistischen Entwicklung ist, welche wir grundsätzlich bekämpfen. – Nur die schärfste Form des Protestierens konnte hier nützen. Aber durch Bewilligung des Kriegskredites hat die deutsche sozialdemokratische Reichstagsfraktion, trotz aller Vorbehalte, die in ihrer Erklärung stehen, auch ihren Anteil an der Verantwortlichkeit übernommen. – Dieser Fehler war um so größer, je weniger die deutsche offizielle Darstellung dessen, was den Krieg unmittelbar veranlaßt hat, die ganze Wirklichkeit enthält und je mehr es sich um einen Präventivkrieg von deutscher Seite hat handeln können, ja um einen Krieg, der sogar nach Ansicht gewisser Kreise ein Eroberungskrieg, ein kapitalistischer Expansionskrieg, werden soll. Es ist überflüssig, hier auseinanderzusetzen, daß jede Annexion eine fortdauernde Friedensgefahr für die Zukunft und keineswegs eine Friedensgarantie sein würde.
Aber auch unter rein nationalen Gesichtspunkten bedeutet der Beschluß der Reichstagsfraktion einen verhängnisvollen Mißgriff. Er hat Deutschlands militärische Stellung nur scheinbar gestärkt. Dieser Schritt riß alle Dämme nieder, die im Auslande noch dem Kriege der äußeren und inneren Solidarität der Massen mit dem Kriege widerstanden. – Hätte die deutsche Reichstagsfraktion sich anders verhalten, so wäre der Krieg niemals so populär geworden, wie er jetzt ist. In Frankreich, in Rußland und in England hätte eine andere Stimmung geherrscht. Sembat und Guesde wären nicht in die französische Regierung eingetreten, Englands Fachgenossenschaften ständen nicht billigend hinter den englischen Anwerbungen Freiwilliger. Mit einem Worte: es ergibt sich daraus, daß dies Auftreten der deutschen Sozialdemokratie in seinen Rückwirkungen die Feinde Deutschlands in höchst erheblichem Grade gestärkt haben muß. – Man hegt jetzt nur noch die einzige Hoffnung, daß es gelingen möge, während des Krieges die internationalen Kräfte heraufzubeschwören, die dem Kriege entgegenwirken und die Lust, ihn fortzusetzen, schwächen können. Nach dieser Richtung hin müssen alle Bestrebungen gehen, zum Frommen jedes einzelnen Volkes und der ganzen Menschheit.«
Von seiten der Mehrheit der Parteigruppe (nominell der ganzen Gruppe) gab der Sprecher der Gruppe, Hugo Haase, folgende Erklärung ab:
»Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde, und die Gegensätze zwischen den Völkern sich verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft, und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern, namentlich im innigen Einvernehmen mit den französischen Brüdern (Beifall der Sozialdemokraten) für Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen. Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Parteien. (Lebhafter Beifall von allen Seiten.) Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und Kinder, die ihres Ernährers beraubt sind, denen zu der Angst um ihre Lieben die Schrecken des Hungers drohen. Zu ihnen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer gesellen. Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, diese unermeßliche Not zu lindern, erachten wir als zwingende Pflicht. (Stürmischer Beifall aller Parteien.) Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Siege des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. (Stürmischer Beifall bei den Sozialdemokraten.) Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. (Lebhafter Beifall.) Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich! (Stürmische Beifallskundgebungen aller Parteien.) Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. Wir fordern, daß dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. Wir fordern dies nicht nur im Interesse der von uns stets verfochtenen internationalen Solidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes. Wir hoffen, daß die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kredite.« (Lebhafter Beifall.)
Die hier, zum Teil von mir, gesperrt wiedergegebenen Ausdrücke und Sätze scheinen mir besondere Beachtung zu verdienen – und zwar sowohl unter allgemeinen politischen Gesichtspunkten wie im Lichte der späteren Begebenheiten des Weltkrieges.
Die Minderheit der deutschen sozialdemokratischen Reichstagsgruppe, die den Kriegskredit nicht bewilligen wollte, war von der Anschauung beseelt, daß der ausbrechende Krieg ein Kapitalisten- und Imperialistenkrieg sei, den das deutsche sozialdemokratische Proletariat mit einem »Protest in schärfster Form« abfertigen könne, und daß die Machthaber Deutschlands, ihrer brutalen Gesellschaftsauffassung gemäß und zur Förderung ihrer wirtschaftlichen und politischen Sonder- oder Klasseninteressen, den Krieg herbeiintrigiert und provoziert hätten, nachdem sie ihn durch ihre Kolonial- und Ausdehnungspolitik und ihre Kriegsrüstungen seit lange gründlich vorbereitet.
Daher hätte das Bewilligen der Kredite die deutsche Sozialdemokratie »in Widerspruch mit sich selber« gebracht. Echt deutsch und sehr rührend ist überdies, in einem solchen Augenblick die Besorgnis wegen des »Eindruckes auf die Arbeiter anderer Länder« und der befürchteten »Verwirrung in der Internationale«. Irgendein starkes, waches vaterländisches Empfinden spricht wahrlich nicht aus der Auffassung dieser sozialdemokratischen Minderheit; um so deutlicher aber ein verknöcherter, wirklichkeitsfremder Doktrinarismus und ein an Fanatismus grenzendes Vorurteil gegen die Machthaber im eigenen Lande – als die am meisten, wenn nicht geradezu allein am Ausbrechen des Krieges Schuldigen.
Geradezu entsetzlich naiv oder leichtgläubig und wirklichkeitsfremd wirkt die Anschauung, die in dem ausführlichen Berichte über die Ansicht der Minderheit z. B. in den Worten Ausdruck erhält: »Hätte die deutsche Reichstagsfraktion sich anders verhalten, so wäre der Krieg niemals so populär geworden, wie er jetzt ist,« und »es ergibt sich daraus, daß dies Auftreten der deutschen Sozialdemokratie die Feinde Deutschlands in höchst erheblichem Grade gestärkt haben muß«.
Weniger wirklichkeitsfremd, aber dennoch lange nicht sachlich genug, scheint mir Haases Kundgebung im Auftrage der Majorität zu sein.
Hierin wird ganz harmlos eingestanden, daß die Sozialdemokratie gegen die »imperialistische Politik« und eine »verhängnisvolle Entwicklung« der Berührung des deutschen Staates mit anderen Staaten »gekämpft« und »manifestiert« habe – ohne daß an die naheliegende Frage gedacht wird, ob eine Sozialdemokratie auf wissenschaftlicher marxistischer Grundlage einen unabänderlichen Hauptzug der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft »bekämpfen« könne, »ohne sich in Widerspruch mit sich selber zu bringen«. Es müßte ja die Aufgabe des Marxisten sein, eine derartige Entwicklung zu verstehen und das Proletariat mit möglichst heiler Haut und in intellektueller Hinsicht möglichst gut vorbereitet durch sie hindurchzulotsen, um nachher selbst die politische und wirtschaftliche Führung zu übernehmen.
Dies wäre ja etwas anderes, als unter sorgfältig bewahrter Unkenntnis gegen Kolonialpolitik und Imperialismus zu »manifestieren«. Weshalb denn nicht ebenso gern die ganze sozialdemokratische Politik auf das »Manifestieren« gegen den Kapitalismus überhaupt beschränken?
Indessen sah die Mehrheit der Parteigruppe doch ein, daß »der Sieg des russischen Despotismus« die »Freiheit und Zukunft« des deutschen Volkes aufs Ernstlichste bedrohen würde. Hiermit aber war es auch mit der realpolitischen Klarheit zu Ende.
»Jedes Volk hat das Recht auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung.« Doch »jeder Eroberungskrieg wird verurteilt«. Also auch dann, wenn er die einzig mögliche Art und Weise, auf welche sich die Selbständigkeit einer Nation erringen oder sichern läßt, die einzig mögliche Art und Weise ihrer wirksamen »Selbstverteidigung« und die einzige Art und Weise, den dauerhaftesten Friedenszustand für die Zukunft zu erreichen, sein sollte!
Die Oberflächlichkeit, mit welcher auch die deutsche Parteimajorität argumentiert, tritt gerade hier besonders hervor. Man wagt nicht der naheliegenden Wahrheit ins Gesicht zu sehen, daß gewisse Umänderungen auf der politischen Karte Europas – Umänderungen, die von der Parteiminderheit, von der Schriftleitung des Vorwärts, von Dr. Liebknecht und von Herrn Branting als deutsche »Eroberungen« abgestempelt werden – sich unerläßlich notwendig erweisen können, um gewissen Völkern, z. B. den Polen und den Finnen, »nationale Selbständigkeit« wiederzugeben, anderen aber, z. B. dem deutschen selbst, die »nationale Selbständigkeit« zu sichern und um eine Koalition wie die russisch-französisch-englische von künftigen Friedensverletzungen abzuschrecken.
Welches Prinzip soll nun den Vortritt haben? Das Prinzip »keine Eroberungen« – hinter welchem wohl das Prinzip liegen müßte, daß die Karte Europas vor dem Weltkriege das Ideal des Rechtes in vollendeter Weise verwirklicht habe? Oder das Nationalitätsprinzip? Oder das Prinzip des künftigen Garantierens des Friedens?
Die kriegerischen »Friedens«töne der Entente um die Weihnachtszeit 1915 und zur Jahreswende 1916 beweisen ja nunmehr, daß Deutschlands »Gegner« nicht »zum Frieden« geneigt waren, nachdem Deutschland sein Kriegsziel, die »eigene Sicherung«, erreicht hatte. Und wie soll Deutschland einen Frieden, »der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht«, schließen können, wenn es diesen beliebt, als unerläßliche Friedensbedingungen Forderungen aufzustellen, welche mit der »Selbständigkeit« des deutschen Volkes, seiner »Freiheit«, seiner »Zukunft« und der Möglichkeit künftiger »Selbstverteidigung« absolut unvereinbar sind?
Also – auch bei der Mehrheit der deutschen sozialdemokratischen Parteigruppe schimmert die vorgefaßte Meinung hervor, daß von Deutschlands Feinden nie ein »Eroberungskrieg« zu befürchten sei, geschweige denn das Aufstellen derartiger Friedensforderungen, welche mit Deutschlands »Sicherung« unvereinbar seien oder die »Freundschaft« mit den »Nachbarvölkern« nicht ermöglichten. Wiederum gewahren wir die für Deutschland jetzt erwiesenermaßen lebensgefährliche Geneigtheit, die politischen Naturen und Bestrebungen der »Nachbarvölker« in rosigem Lichte zu sehen, den politischen Charakter des eigenen Landes aber und sein Streben mit schwarzem Mißtrauen zu betrachten. Und das tut man, wenn man von solchen »Nachbarvölkern«, wie England, Frankreich und Rußland sind, umgeben ist, – und obgleich man von den Vätern der Partei, Marx und Engels, wenigstens über die politische Natur und die politischen Bestrebungen Rußlands warnende Aufklärungen erhalten hat!
Eine Phrase wie diese – »nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel« – charakterisiert einen von einer großen politischen Partei auf die Dauer unhaltbaren Standpunkt des doktrinären Negativismus, prinzipieller Unkenntnis und einer teilweise selbstverschuldeten Einflußlosigkeit im Verhältnis zur auswärtigen Politik des Landes. Ich meine damit einen Standpunkt in der Vergangenheit, deren Folgen man am 4. August 1914 leider zu tragen hatte.
Mehr oder weniger ist dies der Standpunkt all und jeder Sozialdemokratie gewesen. Man glaubte, daß er zum wahren Internationalismus und Proletarismus gehöre.
In der französischen Sozialdemokratie ließen sich jedoch schon beim Kriegsausbruche wesentlich andere Töne vernehmen. Doch erst noch ein paar Worte zur vorbereitenden Orientierung.
Diejenigen, welche Jean Jaurès und seine einzig dastehende Tätigkeit als Politiker in Frankreich am besten gekannt haben, betonen auch am stärksten, daß sein am 31. Juli 1914 in Paris durch Mörderhand erfolgter Tod den alles Deutsche hassenden Revanchepolitikern Frankreichs ebensosehr in höchstem Grade gelegen gekommen sei wie der russischen Kriegspartei mit ihren Ansprüchen auf Frankreichs Beteiligung an dem Kriege gegen Deutschland, der über Berlin und Wien zu einer gründlichen »panslawistischen« Umorganisierung Österreichs und des Balkans und zum Einzuge des Zaren in das von allen rechtgläubigen Russen so lange vergeblich ersehnte Konstantinopel führen sollte.
Jaurès hatte nämlich mit der ganzen Macht seiner gewaltigen Persönlichkeit an der Sicherung des Weltfriedens auf die einzige Weise gearbeitet, die einem französischen Politiker, dem es wirklich ernst mit seiner Sache war, offen stand – also dadurch, daß er ein ehrliches Eingehen von französischer Seite auf Deutschlands Versuche zur endgültigen Aussöhnung der beiden Nationen energisch anstrebte. Mit anderen Worten: er wollte die Revanche und das Russenbündnis auf immer aufgehoben wissen. Während der kritischen Tage unmittelbar vor seinem Tode scheint Jaurès von der französischen Regierung gefordert zu haben, daß sie auf die bei Rußland einzig und allein wirksame Art und Weise für den Frieden eintreten solle – d. h. durch die Drohung, den Bündnisvertrag aufzukündigen und neutral zu bleiben Bernstein, op. cit., S. 24-25..
Ich muß indessen gestehen, daß die Berichte, die ich über die Äußerungen Jaurès während der Krisis vor dem Ausbrechen des Krieges gelesen habe, auf mich einen gemischten Eindruck machen. Sie atmen ein so unbedingtes Vertrauen zu der felsenfesten Friedensliebe und erhabenen politischen Weisheit der französischen sowohl wie der englischen Regierung, daß es mir schwer wird, in ihnen eine völlig getreue Wiedergabe der wirklichen Äußerungen eines Politikers seiner Charakteranlage und Erfahrung zu sehen. War er jedoch wirklich so naiv und oberflächlich, wie jene Zeitungsberichte aus Belgien und Paris Einige dieser Berichte sind in Bernstein op. cit. und in Humphrey op. cit. wiedergegeben. ihn darstellen, so hatte er den wirklichen Charakter des Krieges, den die allgemeine Mobilmachung Rußlands an demselben Tage, als er ermordet wurde, unvermeidlich machte, ganz gewiß nicht durchschaut.
Jaurès gestand indessen in seinem letzten Artikel in der Zeitung l'Humanité ein, daß Deutschland bis zum 31. Juli eine für Deutschlands Aussichten in dem Zweifrontenkriege außerordentlich wertvolle Zeit habe verloren gehen lassen und daß diese Zeit sowohl von Rußland wie von Frankreich benutzt worden sei Humphrey, op. cit., S. 78-79..
Nachdem Frankreich das Neutralitätsgesuch Deutschlands am 1. August abgelehnt und am 3. Deutschlands Kriegserklärung erhalten hatte und nachdem es den englisch-französisch-belgischen Heeren Ende August gänzlich mißlungen war, die Deutschen am Eindringen in Nordfrankreich zu verhindern, sodaß sich der französisch-russisch-englische Krieg gegen Deutschland also, allen Berechnungen zuwider, in einen Krieg auf Frankreichs eigenem Boden verwandelt hatte, wurde das französische Parteiministerium in ein »Nationalverteidigungsministerium« umgestaltet. Die Sozialdemokraten Jules Guesde und Marcel Sembat traten nun ins Ministerium ein.
Beide waren alte Gegner eines französischen Revanchekrieges. Sembat hatte in seinem Buche Faites la paix, sinon faites un roi nachgewiesen, daß Frankreich sich noch nicht zu einem wirklichen Frieden mit Deutschland verstanden habe und sich gerade deshalb auf der schiefen Ebene der immer drückender werdenden Militärlasten befinde – die unmittelbar vor dem Weltkriege denn auch ganz richtig mit der kulturell und wirtschaftlich unhaltbaren Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit ihren Gipfel erreichten. Man habe, meinte Sembat, nur die Wahl zwischen wirklicher Versöhnung mit Deutschland oder einem Militarismus, der die logische Forderung einer Monarchie anstatt der Republik stelle – sowie auch die des fortfahrenden engsten Zusammenarbeitens mit dem zaristischen Militarismus des heiligen Rußlands!
Im französischen Ministerium befanden sich schon zwei Sozialisten, aber ehemalige, die bis vor kurzem noch von den rechtgläubigen bitterlich gehaßt worden sind – nämlich Millerand und Briand, letzterer berühmt wegen seiner drakonischen Maßnahmen gegen den Streik der französischen Eisenbahner im Jahre 1910.
Auf Grund des gemeinsamen politischen Arbeitens der großen Revolutionäre Guesde und Sembat in dem »kapitalistischen« Ministerium Viviani mit den jetzt sehr gemäßigten ehemaligen Sozialisten Millerand und Briand sowie mit einer Reihe unbestreitbarer »Kapitalisten« und »Bourgeois« wurde am 28. August 1914 ein ausführliches sozialistisches Parteimanifest erlassen, woraus folgendes angeführt sei Bernstein, op. cit., S. 27. Im Original gesperrt gedruckt.:
»Das Oberhaupt der Regierung war der Ansicht, daß für die Organisation eines Kampfes, der mit größter Hartnäckigkeit geführt werden muß, die Zusammenarbeit aller notwendig sei, und vor allem auch die Mitwirkung jener, die zur Entwicklung des Proletariats die Unterdrückung des Despotismus für notwendig halten. – – – Da ist die Anwesenheit unserer Freunde im Schoße unserer Regierung für alle eine Gewähr, daß die republikanische Demokratie bereit ist, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.
Die ersten Prüfungen und der Enthusiasmus der Mobilisierungstage geben uns die Gewißheit, daß wir nicht nur für die Größe Frankreichs, sondern für die Freiheit, für die Republik – für die Zivilisation kämpfen. Wir kämpfen, damit die Welt, befreit von der erstickenden Umarmung des Imperialismus und allen Kriegsgreueln, endlich den Frieden in der Achtung vor den Rechten aller genieße. Diese Überzeugung werden die sozialistischen Minister der ganzen Regierung einflößen. – – – Und durch ihre Ausdauer, durch ihren Schwung der Begeisterung werden sie zugleich das Heil des Vaterlandes, den Fortschritt der Menschheit sichern.«
So klingt es, wenn revolutionäre französische Sozialdemokraten offiziell sich und ihre Partei zur Beteiligung an einem unbestreitbar kapitalistischen Kriege verpflichten, zur Beteiligung an einem unzweideutig imperialistischen Kriege, einem Revanchekriege (zur Wiederherstellung des » Rechtes in Elsaß-Lothringen«) auf seiten Rußlands! Sie halten »zur Entwicklung des Proletariats« die » Unterdrückung des Despotismus« für notwendig. Natürlich nicht die Unterdrückung des zarischen Despotismus in Rußland oder auch nur die des Despotismus des Kapitales in Frankreich – sondern nur die des Despotismus des »Kaisers« in dem tief unglücklichen, herabgewürdigten Deutschland!
Die Anwesenheit der revolutionären (annehmbarerweise einstmals auch kriegsstreikagitierenden) Sozialdemokraten im bürgerlichen Ministerium bietet »eine Gewähr«, daß die (kapitalistische) Republik »bereit ist«, »bis zum letzten Blutstropfen« ihrer Proletarier zu kämpfen – und zwar auf seiten des Zaren und mit glühender Hoffnung auch auf seinen möglichst gründlichen Sieg.
Und dieser Kampf, nach einer Deutschland verweigerten Neutralität, mit dem Zarismus gemeinsam ist ein Kampf »nicht nur für das Bestehen des Vaterlandes, nicht nur für Frankreichs Größe« (also auch für Frankreichs Größe!), sondern für die ( kapitalistische) »Freiheit«, für die ( kapitalistische) »Republik«, für die ( kapitalistische) »Zivilisation«!
»Die Welt« soll durch die notorisch imperialistischsten Imperien – Rußland, England und Frankreich – von der erstickenden Umarmung des Imperialismus befreit werden. »Diese Überzeugung werden die sozialistischen Minister dem ganzen Ministerium einflößen!«
Dies wenigstens unter sozialdemokratischem Gesichtspunkte, außerordentlich sonderbare französische sozialdemokratische Parteimanifest wurde von Herrn Branting in seiner Zeitung » Social-Demokraten« (Jahrgang 1914, Nr. 207) äußerst kurz und unklar wiedergegeben, dagegen aber auf sehr interessante und dem damaligen Herrn Branting, meiner Ansicht nach, zur Ehre gereichende Weise besprochen. Ich gebe daher seinen Kommentar mit besonderem Vergnügen in extenso wieder.
»Schwedischen Lesern des französischen Standpunktes«, schreibt Herr Branting, »fällt dabei auf, daß man dort Deutschland viel zu wenig kennt, obgleich guter Wille zum Verstehen vorhanden ist, und daß die Kraft der Hilfe, auf welche man rechnet, uns wie eine unglückliche Illusion erscheinen muß. Doch – wir haben uns nicht als anspruchsvolle Schiedsrichter aufzublähen. – Das Verzweifelte aber ist, gegen die Hoffnung, die unsere deutschen Parteigenossen auf schnelle Verständigung im Westen unter anständigen Bedingungen gehegt haben, um dann alle Kraft gegen das Zarentum vereinigen zu können, jetzt feststellen zu müssen, daß diese Taktik gegenwärtig entschieden keine energischeren Gegner hat als gerade die französische Sozialdemokratie. – Brecht die Offensivkraft des gefährlichen Bundesgenossen des Zarenreiches, aber keine Eroberungspolitik, kein Volkskrieg zwischen Deutschland und Frankreich, schließt anstatt dessen einen Sonderfrieden – so hat das taktische Programm der deutschen Sozialdemokratie gelautet, und hierin hat es vielleicht bis zu einem gewissen Grade auch die deutsche Regierung auf seiner Seite gehabt, obwohl die letzten Äußerungen der Berliner Presse nach einer anderen Richtung gehen.
Eben trifft nun die Nachricht ein, daß die drei Mächte der Entente sich fester denn je verbunden haben, nämlich durch das Versprechen, daß keine von ihnen für sich und vorzeitig Frieden schließen werde. Und für diese Taktik des Durchhaltens, für diesen Kampf bis aufs Äußerste tritt in Frankreich hauptsächlich die Sozialdemokratie ein, die darin nur alle revolutionären Überlieferungen ihres Landes fortsetzt. – So folgen denn die Arbeitermillionen auf beiden Seiten der Kampffront ihren respektiven Linien, die nie Zusammentreffen, in der tiefsten Überzeugung, ihre Pflicht nicht nur gegen ihr Vaterland, sondern auch gegen die künftige Freiheit der Welt und den Frieden der Zukunft zu erfüllen. Und keiner versteht den Blick des anderen auf die Dinge, aber beide spannen ihre Kräfte bis aufs Äußerste an, um einander ganz zu vernichten!
Niemals hat die Welt ein verhängnisvolleres Einschlagen einer verkehrten Richtung durch Kräfte gesehen, die vereinigt und miteinander im Einverständnisse eine neue Zeit erschaffen hätten, nun aber anstatt dessen anscheinend auf Frankreichs künftigen Schlachtfeldern verbluten werden.«
So schrieb der Führer der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ende August oder Anfang September 1914 – ehe er sich die haßerfüllten, demagogisch verzerrten Darstellungen der Entente über deutsche Kriegsführung, deutsche Kriegsziele und den deutschen politischen Charakter überhaupt hatte aneignen können.
Ich will mir bloß erlauben, hinter Herrn Brantings Behauptung, daß die französischen Sozialdemokraten jetzt »nur alle revolutionären Überlieferungen ihres Landes« fortsetzten, ein Fragezeichen zu machen.
Diese Äußerung läßt den späteren Herrn Branting durchblicken. »› Revolutionäre Überlieferungen‹ – dadurch ›fortgesetzt‹, daß Sozialdemokraten ihr Vaterland verteidigen, trotzdem es eine chauvinistische, imperialistische, der sozialrevolutionären Arbeiterbewegung todfeindliche Kapitalistenrepublik ist, die vermittels finanzieller und diplomatischer Machenschaften ihren derb aggressiven Imperialismus auf den kultur- und freiheitsfeindlichen zaristischen Imperialismus in Osteuropa stützt! Nein – einen solchen Entschluß kann man verstehen, aber nur als ein Aufopfern ›revolutionärer Überlieferungen‹, ein trotz allem aus alter guter Vaterlandsliebe gebrachtes Opfer – das aber ist zum wenigsten das gerade Gegenteil eines ›Fortsetzens‹ der ›revolutionären Überlieferungen‹ der Sozialdemokratie, die ja auch in Frankreich Ahnen hat.
Diese Worte hat der bürgerlich altradikale Herr Branting gesprochen – der im Laufe des Weltkrieges auch immer mehr zu Worte kommen sollte. Der französische Republikanismus wird verherrlicht – obwohl dies allen »revolutionären Überlieferungen« der Sozialdemokratie geradezu widerstreitet.
So waren, mit ihren charakteristischen Verschiedenheiten, die Kundgebungen der französischen und der deutschen Sozialdemokratie im ersten Abschnitte des Weltkrieges.
In Deutschland verhehlte man sich die grundsätzliche Schwierigkeit, einen nationalen Standpunkt in einer kapitalistischen Gesellschaft überhaupt mit dem sozialdemokratisch-internationalistischen in Einklang zu bringen, nicht. Eine deutsche Parteiminderheit – die sich später vergrößert hat – versuchte sogar, die internationalistische, rein sozialdemokratische Forderung kräftig hervorzuheben.
In Frankreich war es anders. Der sozialdemokratische Internationalismus wurde sofort mit Haut und Haar von der Flut des französischen Nationalgefühls verschlungen – von einer Flut, die mit den Wassern der heißen Quellen des französischen »Nationalismus« stark vermischt war. Frankreichs Sache ist die Sache der Internationale – sowie auch die Sache der »Menschheit«, die Sache der »Zivilisation«, die Sache der »Freiheit«, die Sache des »Rechtes«, die Sache der »Kultur«, die Sache der »Humanität« usw.
So hat es in der Folge mit ständig zunehmender nationalistischer Betonung bei der französischen Sozialdemokratie geheißen. Wenn ich hier auf weitere Beispiele verzichte, so geschieht es nur aus Raummangel und weil ich schon im 6. Kapitel zureichend sprechende Beweise vorgelegt habe.
In Deutschland hat sich die Spaltung zwischen einer »gemäßigten« Mehrheit und einer wachsenden »radikalen« Minderheit immer mehr vertieft. Führer der realpolitischen Seite sind Männer wie Eduard David, Wolfgang Heine, Albert Südekum, Max Schippel, Paul Lensch, Heinrich Cunow, Carl Leuthner, Edmund Fischer und Paul Kampffmeyer gewesen. Auf der »radikalen« Seite haben Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, Hugo Haase, Franz Mehring, Ledebour und der Schriftleiter des Vorwärts die Hauptrolle gespielt.
Zur noch besseren Charakterisierung der realpolitischen sozialdemokratischen Auffassung genügt es, folgende Zeilen aus einem Artikel des Dr. Albert Südekum anzuführen, der im August 1914 im »Social-Demokraten« veröffentlicht wurde und teilweise auch die Eindrücke wiedergab, die Südekum bei einem seiner Besuche in Stockholm von den führenden schwedischen Sozialdemokraten erhalten hatte.
»Den ersten und tiefsten Eindruck, den ich bei der Unterhaltung mit schwedischen Parteigenossen erhielt«, schreibt Dr. Südekum, »war der, daß sie, ehe wir miteinander gesprochen, die Bedeutung dieses Krieges für Deutschland nicht voll erkannt hatten. Ihnen erschien dieser Krieg wie ein anderer, vielleicht wie der Deutsch-Französische 1870/71 oder der Russisch-Japanische. Doch nichts, was früher in der Geschichte vorgegangen, läßt sich mit diesem Kriege in Parallele bringen, alle Vergleiche sind vielmehr irreführend und gefährlich. Denn hier handelt es sich nicht um Kämpfe mit einem Anflug von Sport, hier haben wir's nicht mit einem Ritterturniere zu tun, um lange betriebene Rüstungen auszuproben. Nein, hier handelt es sich um einen Versuch der drei verbündeten Mächte, Rußland, Frankreich und England, Deutschland zu vernichten und aus dem Kreise der Großmächte hinauszudrängen. Es gilt einer Entscheidung über die Zukunft Deutschlands, vielleicht über Deutschlands Existenz überhaupt. Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.
Hat man dies erst klar erfaßt, dann ergibt sich alles andere von selbst. Man versteht dann die Haltung des deutschen Volkes, gleichwie das Verhalten der Sozialdemokratie. Solange aber, wie man sich über die Hauptsache nicht klar ist und nicht begriffen hat, um was es sich jetzt handelt, solange man noch von der verkehrten Ansicht ausgeht, daß dieser gewaltige Krieg keine ernste Gefahr für Deutschland sei, solange muß auch das Urteil über die Einzelheiten schwankend und voller Widersprüche sein.
Darum kann ich nicht stark genug unterstreichen, daß wir in Deutschland in allen Parteien und allen Schichten der Bevölkerung tief von der Überzeugung durchdrungen sind, daß wir jetzt siegen oder untergehen müssen. Nur hierdurch erklärt sich der furchtbar entschlossene Ernst, der die ganze Nation durchglüht, und die Tatsache, daß jetzt jeder als etwas ganz Selbstverständliches seine Pflicht und mehr als seine Pflicht tut – – –«.
In seiner Besprechung dieses Aktenstückes erklärt Herr Branting, gar nicht imstande zu sein, die Lage anders zu verstehen, als daß Deutschland beim Ausbrechen des Krieges »der Stärkste, nicht aber der am meisten Bedrohte« gewesen sei. Von irgendwelchem Rechte der Notwehr konnte also, nach Herrn Branting, bei Deutschland durchaus keine Rede sein. Später hat er ja seiner streng ententehaften Überzeugung, daß der Krieg Deutschlands Angriffs- und Welteroberungskrieg gegen Nachbarn sei, die mit größter Ehrlichkeit und Nachgiebigkeit bis zuletzt nach Erhaltung des Friedens gestrebt hätten, unzählige Male Ausdruck verliehen.