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Der als Napoleonbiograph und durch sein berühmtes Buch The Development of the European Nations 1870-1900 bekannte Geschichtsprofessor in Cambridge, J. Holland Rose, hielt im Herbst 1914 eine Reihe Vorlesungen über den Weltkrieg unter dem Titel The Origins of the War. In der dritten Vorlesung, Germany's World-policy, spricht er sich unter anderem über die deutschen Reichseinheitsbestrebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus, die er mit the Pan-German movement in Verbindung bringt – eine Bezeichnung, die er, obgleich mit zweifelhafter Berechtigung, auf die Theoretiker und Agitatoren des gegenwärtigen deutschen Imperialismus im allgemeinen anwendet. Die jetzigen »Pangermanen« oder die Alldeutschen sind nur der politisch bedeutungslose extreme Chauvinistenflügel des in viele »Zweige« zersplitterten heutigen Imperialismus.
»Die Pangermanen«, sagt Rose Op. cit. Seite 63-64. Ich habe gewisse Stellen gesperrt wiedergegeben., »streben irgendeine Art Vereinigung aller Völker, die Deutsch oder gewisse Dialekte dieser Sprache sprechen, an. Dies ist kein neuer Gedanke. Viele Studentengenerationen hatten die berühmte Zeile in dem Arndtschen Nationalliede von 1813: Das ganze Deutschland soll es sein! mit Begeisterung gesungen. Und 1848-49 sah es kurze Zeit so aus, als ob ein größeres Deutschland hätte zustande kommen können. Daß der demokratische Imperialismus in diesem Lande erfolglos blieb, das ist eines der größten Unglücke des 19. Jahrhunderts. Denn die damals beabsichtigte Föderation hätte sowohl die Forderung der nationalen Einheit wie auch die der Volkssouveränität befriedigt. Außerdem hätte das deutsche Volk, nachdem es so eine passende politische Organisation erhalten, auf einen Anteil an den überseeischen Gebieten, die damals leicht zu erlangen waren, Beschlag legen können. In solchem Falle wäre wohl das Britische Imperium jetzt nicht ganz so groß geworden, wie es jetzt ist, aber wir hätten wahrscheinlich auch nicht den gegenwärtigen Weltkrieg zu erleben brauchen, der, in kolonialpolitischer Hinsicht, der planmäßig angelegte Versuch des Kaisers und seines Volkes ist, Gebiete an sich zu reißen, welche früher gestartete Mitbewerber im Wettrennen des Imperialismus sich schon angeeignet haben. – – – Deutschland hat hierbei Grund zur Klage, und darin liegt die Stärke der pangermanischen Bewegung – – – – .«
Deutschland bedürfe, wenigstens in Zukunft, eines Kolonialreiches von ganz anderem Typus, als es bisher habe erlangen können, meint Rose. Und er schließt das Kapitel mit folgenden Worten Op. cit. S. 67. Auch hier habe ich einige Zeilen in Sperrdruck wiedergegeben., die nicht nur den Ententevölkern und ihren Lenkern, sondern auch neutralen, demokratischen Ententepolitikern und Antideutschenfanatikern vom Schlage Brantings zur Beherzigung anempfohlen werden können.
» Wir müssen daher den Gedanken aufgeben, daß wir nur gegen eine Regierung, die ihre Untertanen verblendet hat, Krieg führen. Die Tatsachen der Lage beweisen, daß es sich anders verhält. Wir kämpfen auch nicht gegen eine herrschende Militärkaste, die nach einigen Niederlagen gestürzt werden kann. Wir bekriegen ein fast ganz einiges Volk. Die Begeisterung, mit welcher eine Welle der alten Männer des deutschen Landsturms und der Jünglinge nach der anderen bei Ypern der beinahe unvermeidlichen Vernichtung entgegenstürmte, muß uns die Tatsache erkennen lassen, daß wir einem ganzen Volke in Waffen Auge in Auge gegenüberstehen, einem Volke, das entschlossen ist, zu siegen, koste es, was es wolle. Denn der Siegespreis ist ein Weltimperium (› a World-Empire‹), während die Niederlage bedeuten wird, daß die deutsche Bevölkerungsfrage auf die schrecklichste aller Arten gelöst wird, nämlich durch Entvölkerung.«
Eine etwas gediegenere Sachkenntnis, als der Professor Rose sich bei dieser Gelegenheit zu leisten geruht hat, muß jeden halbwegs vorurteilslosen oder unparteiischen Beobachter davon überzeugen, daß man den Weltkrieg, von seiner Ursprungsseite gesehen, durchaus nicht als den »planmäßig angelegten Versuch« (» The deliberate attempt«) »des Kaisers und seines Volkes, Gebiete an sich zu reißen, welche früher gestartete Mitbewerber im Wettrennen des Imperialismus sich schon angeeignet haben«, bezeichnen kann. So einfach war, wie Professor Rose wissen dürfte, die kolonialpolitische und diplomatische Lage vor dem Weltkriege nicht. Und Professor Rose wird wohl zugeben, daß irgendwelche unmittelbare kolonialpolitische Ursache zum Ausbrechen des Weltkrieges überhaupt nicht vorhanden war. Er entstand erwiesenermaßen dadurch, daß die führenden Staatsmänner Rußlands den nach dem Morde in Serajewo unvermeidlichen lokaleuropäischen Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit unerschütterlicher Folgerichtigkeit und ohne den geringsten Versuch wirksamen Verhinderns von seiten Englands und Frankreichs zu einem kriegerischen Zusammenstoße zwischen den beiden großen Koalitionen Europas, der mitteleuropäischen und der west-osteuropäischen, erweitert haben.
Doch Professor Rose hat, abgesehen von seiner ein wenig dilettantenhaften bevölkerungstheoretischen Argumentation, in seiner Auffassung, daß Deutschland auf kolonialpolitischem Gebiete »Grund zur Klage« habe und daß »hierin die Stärke der pangermanischen Bewegung liege,« unwiderleglich recht. Und zahlreiche deutsche Meinungsäußerungen während des Krieges beweisen, daß dieser eine kolonialpolitische Bedeutung erhalten hat, nachdem er Deutschland in einem ganz anderen Zusammenhange aufgezwungen worden war – ganz gegen den Wunsch und Willen des »Kaisers und seines Volkes«, wenn auch ganz gewiß zur Zufriedenheit einer relativ kleinen Anzahl chauvinistischer, aber politisch einflußloser »Alldeutscher« und fanatischer Kriegspolitiker.
Unklare Schwärmer und schädliche Schwätzer des letzteren Typus findet man erwiesenermaßen in allen kriegführenden Ländern. Aber in England und Rußland, sogar auch in Frankreich stehen sie in unvergleichlich viel stärkerem Zusammenhange mit den tiefsten nationalen und politischen Instinkten der breiten Volksschichten als in Deutschland. Nicht zum wenigsten aus dem Grunde, weil die tatsächlich existierenden englischen, russischen und französischen Kolonialreiche durch ihre Entstehung die mächtigsten Volkserzieher zu gerade der betreffenden Art eines tiefeingewurzelten, im Alltagsleben halb unbewußten Chauvinismus gewesen und es durch ihr bloßes Dasein auch geblieben sind.
Dagegen ist es reiner Irrtum oder (natürlich nicht bei Rose) reine Fälschung, die den Nachbarn lebensgefährliche Eroberungslust oder geradezu Weltherrschaftsträume als Hauptfaktor in den sorgfältig ausgearbeiteten politischen Aktionsplänen des »Kaisers und seines Volkes« vor dem Weltkriege darzustellen. Und was die »Weltherrschaft« anbetrifft, so fehlt es der Entente und ihren neutralen Freunden auch jetzt, nachdem der Weltkrieg anderthalb Jahre gedauert, natürlich an allem realen Grunde zu ihrem hysterisch-agitatorischen Geschwätze, daß jeder andere Ausgang des Krieges, als Deutschlands vollständige zerschmetternde Niederlage, die »Pläne des Kaisers« zu einer die Menschheit in Sklaverei bringenden Weltoberherrschaft zu Lande und zu Wasser verwirklichen und Deutschland, wie Lloyd George am 28. Februar in Bangor gesagt hat, zum »Weltdiktator der auswärtigen Politik« machen würde Through Terror to Triumph, London 1915. S. 86. Diese Rolle muß ja in den Händen Englands bleiben, dessen auslandspolitische Interessen glücklicherweise immer mit den Geboten der (englischen) Religion und Moral und mit den höchsten Interessen der ganzen Menschheit (durch die englische Brille betrachtet) identisch sind.
Doch es liegt allerdings nahe, daß Deutschland durch einen ihm günstigen Ausgang des Weltkrieges eine sowohl festländisch-europäische wie kolonialpolitische und handelspolitische Machtstellung erlangen kann, die seinen Entwicklungskräften besser entspricht und es Rußland und England ebenbürtiger macht, als es vor dem Ausbruche des Krieges war. Falls Professor Rose unter dem » World-Empire« als dem von Deutschland angestrebten »Siegespreise« des Weltkrieges nicht eine militärisch und politisch höchste Herrschaft über die Welt, was ja Unsinn wäre, oder auch nur ein solches Oberimperium, wie England es hundert Jahre hindurch auf Grundlage seiner maritimen Alleinherrschaft zu verwirklichen versucht hat, versteht, sondern nur eine besonders in kolonialpolitischer Hinsicht erheblich stärkere Weltmachtstellung als Deutschlands bisherige, dann glaube ich, daß er nunmehr recht hat – dank der umwälzenden Einwirkung des Weltkrieges auf die deutsche Volksmeinung und auf das Arbeitsprogramm der leitenden deutschen Staatsmänner.
Will man sich ein wirklichkeitsgetreues Bild wirklicher deutscher Meinung und wirklicher deutscher Bestrebungen auf den Gebieten der auswärtigen Politik verschaffen – anstatt mit den kriegführenden und neutralen Feinden Deutschlands die übertriebenen Äußerungen politisch einflußloser deutscher Theoretiker und Agitatoren noch mehr zu übertreiben – und will man zu der in dieser ebenso verwickelten wie politisch bedeutungsvollen Frage enthaltenen Wahrheit Vordringen, dann dürfte es in erster Reihe erforderlich sein, daß man zwischen der deutschen öffentlichen Meinung vor dem Kriege und der Meinung, wie sie sich unter dem Eindrücke der ungeheueren Opfer und der bedeutungsvollen militärischen Erfolge der achtzehn Kriegsmonate gestaltet hat, einen Unterschied mache. Vieles, was vor dem Krieg nur Theorie war, ist jetzt praktisches Arbeitsprogramm.
Ein Krieg ums Dasein gegen eine so fürchterliche Koalition, wie die russisch-englisch-französisch-japanisch-italienische mit ihren willigen neutralen Helfern, kann nicht das Schicksal eines großen Volkes werden, ohne daß dies Volk die Grundgedanken zur Regulierung seines künftigen Zusammenlebens mit näheren und ferneren Nachbarn auf tiefgehendste Weise umgestaltet und mit aller Energie feststellt. Diese Grundgedanken müssen »imperialistisch« sein – mögen auch alle pazifistischen, demokratischen, neutralen und anderen Deutschfeinde jetzt noch so laut über diese schreckliche Tatsache jammern, die sie ruhig gutheißen, sobald es sich um England, Rußland, Frankreich, Japan usw. handelt. Denn es gilt der Regelung des Lebensverhältnisses zwischen einem Imperium, one imperial race, und den anderen. Dieses Lebensverhältnis kann, so wie es war, nicht gut gewesen sein – weil der Weltkrieg gekommen ist. Also: wie wird Deutschlands imperialistisches Friedens- und Zukunftsprogramm aussehen?
Mit einer Weisheit, die grell gegen die zahlreichen, reklameartigen Programmäußerungen besonders der englischen Staatsmänner absticht, haben die leitenden deutschen Staatsmänner trotz der gerade ihnen durch die Kriegslage dargebotenen Versuchungen, sich in möglichstem Maße enthalten, der Welt zu erzählen, wie sie das Fell zu verteilen gedenken, bevor der Bär wirklich erlegt ist. Und sie haben nicht zu öffentlichen Kannegießereien nach dieser Richtung hin ermuntert. Natürlich aber war es nicht zu vermeiden, daß es sowohl von seiten der großen politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen wie vieler Privatpersonen zu mehr oder weniger klaren Andeutungen und mehr oder weniger autoritativen Äußerungen gekommen ist. Und ebenso natürlich war es, daß diese oft in mehr oder weniger entstellter Form oder auch als rein apokryphische Dokumente Gegenstand der moralisch, politisch und wirtschaftlich empörten Kommentare der Feinde werden mußten.
»Nunmehr, nachdem der Krieg entbrannt ist, sind wir uns und der Welt die Antwort auf die Frage schuldig: Wofür kämpft Deutschland?« schreibt der bekannte Nationalökonom G. v. Schulze-Gaevernitz in seiner Broschüre Freie Meere! Berlin 1915, S. 23. Geschrieben im Februar 1915. »Deutschland«, antwortet er, »erklärt jenen Zustand für kulturwidrig und menschheitsfeindlich, wonach es in das Belieben einer Macht gestellt ist, die Weltwirtschaft zu unterbinden, das Dasein aller anderen Völker damit ins Herz zu treffen und Not und Elend bis in die entlegensten Hütten zu tragen. Deutschland kämpft für die Freiheit der Meere, also für die Menschheit – auch für Frankreich. Deutschland erstrebt für sich keine Seeherrschaft, wozu es gar nicht die Kräfte hätte, sondern einen Zustand maritimen Gleichgewichts mehrerer Seemächte, in welchem Deutschland der stärksten Macht gleichberechtigt und gleichwertig zur Seite steht. Unter dieser Bedingung – aber auch nur unter dieser Bedingung, die allein das Dasein seiner Kinder und Enkel sichert – weist Deutschland auch heute noch Abrüstungsgedanken nicht von der Hand.
Des weiteren erklärt Deutschland jenen Zustand für kulturwidrig, wonach eine Macht in der Lage ist, die kolonialen Rohstoffgebiete der Welt nach Belieben für sich vorwegzunehmen, ihren Günstlingen zuzuteilen und anderen zu entziehen. Kolonialpolitik ist kein Luxus, sondern ein Lebensbedürfnis alteuropäischer Industrie- und Gläubigerstaaten mit beschränkter territorialer Basis. Für sich erstrebt Deutschland als Industrie- und Gläubigerstaat eine genügend breite, geographisch nicht zu entlegene koloniale Ausweitung. Der belgische Kongo böte die Möglichkeit einer solchen Ausweitung ohne ernstliche Beeinträchtigung der französischen oder britischen Kolonialinteressen.
Forderungen wie diese sind nicht etwa nur Gedanken eines einzelnen oder einer Klasse, sondern Forderungen des gesamten deutschen Volkes. Vor allem ist die deutsche Arbeiterschaft mehr als andere Volksklassen am freien Weltverkehr interessiert: an der Zufuhr von Nahrung, der Ausfuhr von Industrieerzeugnissen, dem Besitz von Rohstoffgebieten.
Zusammenfassend: Deutschland erstrebt Gleichberechtigung für sich und kämpft damit zugleich für die Befreiung der Menschheit.«
Also: Deutschland kämpft für seine Gleichberechtigung (vor allem in kolonialpolitischer Hinsicht mit England) und damit auch für die Befreiung der ganzen Menschheit (von der wirtschaftlichen Abhängigkeit von England).
In einer der Hauptsache nach ähnlichen Richtung scheint sich der ehemalige deutsche Kolonialminister Dernburg schon während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten nach dem Kriegsausbruchs ausgesprochen zu haben. In den Times vom 4. Dezember 1914 finde ich ein Telegramm aus Neuyork, nach welchem Dernburg erklärt hätte, daß Deutschlands Friedensbedingungen keine berücksichtigungswerten Landerwerbungen in Europa umfassen würden, wohl aber gewisse koloniale Erweiterungen, sowie eine wirtschaftliche Interessensphäre von den Dardanellen bis zum Persischen Meerbusen und die Beseitigung der maritimen Alleinherrschaft Englands. Er soll sich in dieser letzteren Frage folgendermaßen geäußert haben. Da England jetzt die Nordsee gesperrt habe, erweise es sich als notwendig, ein mare liberum herzustellen. Es sei unmöglich, Englands Theorie, daß die Weltmeere die Grenzgebiete des englischen Imperiums bildeten und alle Meere bis an die Dreimeilengrenze von der Küste anderer Staaten englische Gewässer seien, noch länger zu dulden. Folglich müßten die Gewässer vor den Küsten Englands, Frankreichs, Belgiens und Hollands auch für Kriegszeiten neutralisiert werden; und die Forderung der Vereinigten Staaten und Deutschlands, daß Privateigentum sich während des Krieges desselben Schutzes zu Wasser erfreue wie zu Lande, müsse durchgesetzt und von allen Nationen garantiert werden.
Außerdem sollen Dernburgs Friedensforderungen noch das politische Selbstbestimmungsrecht Finnlands, Polens und Ägyptens umfaßt haben, sowie auch die Aufhebung der Neutralität Belgiens, »die sich als praktische Unmöglichkeit erwiesen«, da Belgien »Frankreichs und Englands Vasall« geworden sei. Deutschland müsse daher irgendeine Garantie dafür haben, daß die belgischen Häfen in Zukunft nicht wieder als Stützpunkte eines englischen oder französischen Angriffes gegen Deutschland benutzt werden könnten.
Diesen Grundgedanken, daß ein für Deutschland annehmbarer, dauerhafter Friede nur auf Grundlage der Befreiung der Weltmeere von Englands maritimer Alleinherrschaft und Deutschlands maritimer Gleichberechtigung mit den übrigen stärksten Handels- und Seemächten denkbar sei, habe ich oft angetroffen, nicht nur in der gewaltigen deutschen Kriegsliteratur, sondern auch, im persönlichen Gedankenaustausche, bei vielen führenden deutschen Politikern und Geschäftsleuten. Keine deutsche Weltsuprematie irgendeiner Art anstatt der englischen. Diese soll die letzte gewesen sein. Aber eine durch internationale Abmachungen garantierte und geschützte Freiheit für alle Völker zur Förderung ihrer wirtschaftlichen und nationalen Wohlfahrt durch Befahren der Weltmeere. Diese dürfen nicht so, wie das trockene Land zwischen den Staaten geteilt sein muß, politisch beherrscht oder geteilt werden.
Wenn das englische Imperium ohne die gegenwärtige autokratische Waffenmacht über die Weltmeere nicht lebensfähig ist, so steht dies Imperium nicht nur Deutschlands freier Entwicklung, sondern auch der aller anderen nichtenglischen Völker im Wege. Nichts kennzeichnet die gegenwärtige Lage deutlicher als die Unfähigkeit der Engländer und ihrer mit Deutschenhaß erfüllten Bewunderer, sich irgendeine andere Alternative zu denken, denn Deutschland an Stelle Englands als alleiniger Beherrscher der Weltmeere! Nach sich selbst beurteilt man andere.
Kein klarsehender, sachlich urteilender Nationalökonom wird meines Erachtens bestreiten können, daß diese Grundforderung des deutschen Friedens – freie Meere! – ihre Berechtigung haben muß, einerlei ob man die handelspolitische Zukunft im Freihandel und in der »offenen Tür« oder im Zeichen der geschlossenen Interessensphären und der wirtschaftlich selbstgenügenden Produktionsgebiete erblickt.
Es mag ganz richtig sein, daß zollpolitische Verbände zwischen Mutterländern und ihren Kolonien nach dem Weltkriege gewaltige »geschlossene Handelsstaaten« erschaffen werden. Doch etwas ganz Bestimmtes hierüber oder über die Zukunft des Freihandels und des Protektionismus überhaupt können wir unmöglich wissen. Und – was noch schwerer wiegt – der Überseeverkehr muß zwischen den Mutterländern und Kolonien der »geschlossenen« Handelsstaaten, sowie zwischen diesen Handelsstaaten untereinander und zwischen ihnen und den kleineren Staaten, die keine oder nur unbedeutende Kolonien haben oder selbst überseeische Rohstofferzeuger sind, in ungeheuerem Umfange fortfahren und beständig zunehmen.
Es wäre reine Utopie, auf die Theorie der zukünftigen geringen Bedeutung des überseeischen Handelsverkehrs zu bauen, selbst wenn die kommende Periode der »geschlossenen« Handelsstaaten absolute Gewißheit wäre. Denn die innere wirtschaftliche Entwicklung dieser Staaten muß, in Analogie mit gleichzeitigen wirtschaftlichen Erscheinungen, als quantitativ und qualitativ so üppiger, wechselvoller Art angenommen werden, daß Geringfügigsein, geschweige denn Überflüssigsein des wirtschaftlichen Verkehrs zwischen ihnen nie zu erwarten ist – wie weit auch die Staatsmänner der Zukunft in ihrem Bestreben, diese Staaten handelspolitisch gegeneinander »abzuschließen«, gehen mögen.
» Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser«, wie sich auch die Handelspolitik und Kolonialpolitik der Zukunft gestalte. Was die Frage der Land- und Seemacht anbetrifft, so kann im Rahmen riesiger Maße und superlativer Lebensnotwendigkeiten nur von einem »Sowohl – als auch« und einem »Mehr oder weniger« die Rede sein.
Freie Meere ist eine deutsche Grundforderung, selbst wenn der »geschlossene« Handelsstaat der herrschende handelspolitische Staatstypus der Zukunft wird. In dieser gegen England gerichteten Friedensbedingung scheint Deutschland mir auch sehr einig zu sein. Nachher aber gehen natürlich die grundsätzlichen Freihändler und die grundsätzlichen Schutzzöllner, die Kolonialpolitikschwärmer und die Kolonialpolitikfeinde, sowie die eine wirtschaftliche Interessengruppe und die andere weit auseinander.
Es wäre übrigens bei allen der ungereimteste Mißgriff, wenn sie übersähen, daß der eigene Verlauf des Weltkrieges einen entscheidenden Einfluß auf Deutschlands wirtschaftlich-politische Zukunftspläne und damit auch auf die betreffenden Friedensbedingungen Deutschlands ausüben muß. Andererseits ist es auch klar, daß hinter wenigstens einem Zuge des deutschen Kriegsplanes ein großer wirtschaftlich-politischer Zukunftsgedanke, ein staatsmännischer Gedanke allerersten Ranges liegt.
Ich meine natürlich die Balkanoffensive durch Serbien hindurch, die nicht nur einen Weg zu notwendiger Zufuhr während des Krieges freimachte, sondern auch einen Weg zu künftiger wirtschaftlicher und politischer Entwicklung erschloß – einen Weg, der allerdings die Straßen in Englands teilweise verwirklichtem, teilweise aber noch bloß ersehntem Imperium drunten um den Nil und den Euphrat herum schneidet. Doch gerade dies ist ja eines der innersten ursächlichen Geheimnisse des Weltkrieges – daß das englische Imperium sich überall da quer vor den Weg gelegt hat und sich immer noch legt, wo Deutschland annehmbarerweise nach demselben Systeme, das England nebst Frankreich und Rußland in ihrer imperialistischen Entwicklung angewandt haben und noch anwenden, »vorzudringen« beabsichtigen könnte.
Eine der bedeutungsvollsten deutschen Friedensforderungen außer den freien Meeren wird vielleicht die sein, daß England, Rußland, Frankreich, Italien und Serbien einen politischen und wirtschaftlichen Verband zwischen Deutschland und dem Türkischen Reiche als zukunftsgültige politische Neubildung anerkennen sollen – einen Verband, woran auch Österreich-Ungarn und Bulgarien, sowie Serbien auf verschiedene Art beteiligt sind.
Es hat den Anschein, als ob der Weltkrieg schon, wenn er, außer den freien Meeren, zu einem Ergebnisse dieser Art führte, Deutschlands berechtigte Ansprüche auf Befreiung von Englands willkürlicher Weltbevormundung sowohl wie auf die äußeren geographisch-politischen Vorbedingungen zu gesicherter wirtschaftlicher Entwicklung und politischer sowie kultureller Expansion typisch moderner Art recht wesentlich befriedigen würde.
Aber die Schwierigkeiten eines Erlangens der Anerkennung einer solchen Friedensbedingung von seiten des Feindes scheinen ungeheuer groß zu sein. Denn das »geschlossene« Wirtschaftsgebiet und der politisch-wirtschaftliche »Block« Deutschland-Österreich-Ungarn-Bulgarien-Serbien-Türkei könnten weder errichtet werden noch existieren, ohne sowohl den großrussischen Vormundschafts- und Eroberungsplänen gegen die Balkanslawen und die nördliche Asiatische Türkei, wie auch den englischen Eroberungsplänen gegen die südliche Asiatische Türkei den Lebensfaden abzuschneiden. Und was nun Konstantinopel und die Dardanellen anbetrifft, so kreuzen sich dort, wie bekannt, die russischen und die englischen Weltherrschaftsgelüste.
Wieder tritt eine der tiefsten Ursachen des Weltkrieges hervor und entpuppt sich als fürchterliches Hindernis eines Friedens, über den Deutschland, als seiner würdig, verhandeln könnte. Englands und Rußlands unersättliche imperialistische Aggressivität gewährt Deutschland den nötigen Spielraum zur Verwirklichung seiner unerläßlichen Entwicklungsforderungen nicht ohne blutigen Kampf.
Noch düsterer erscheinen natürlich die Aussichten zur Befriedigung dieser Entwicklungsansprüche auf anderem Wege als dem der Besiegung Rußlands, Englands und Frankreichs durch die Macht der Waffen, wenn man das Bedürfnis eines gutgelegenen zusammenhängenden afrikanischen Kolonialgebietes als rohstofferzeugendes Anhängsel des mitteleuropäisch-türkischen Staatenblockes zwischen den Mündungen der Elbe und des Euphrats ins Auge faßt.
Indessen muß ja anerkannt werden, daß der Weltfriede sich nicht stärker garantieren läßt als durch Beseitigen der Kriegsursachen. Und welche Ursache des Weltkrieges ist im Grunde in beiden kämpfenden Lagern allgemeiner anerkannt als die, daß die Entwicklungsforderungen Deutschlands mit den bereits verwirklichten sowohl wie mit den als Wechsel auf die Zukunft gezogenen englischen und russischen Weltherrschaftsbestrebungen zusammenprallen?
Was fordern wohl, im allertiefsten Grunde, England und Rußland (und auf seine Weise auch Frankreich) anderes von Deutschland, als daß es sein Recht auf eine der ihren gleichberechtigte Weltstellung, das sie auf immer zu gewisser Beschränkung ihrer eigenen Erweiterungsbestrebungen zwingen müßte, durch Macht beweise? Dies – oder ein flügellahmes Dasein im Schatten der englischen und russischen Reiche, mehr oder weniger nach ihren gemeinsamen Beratungen und von ihrer »Gnade«! Eine »Gnade«, von welcher die Vereinbarungen über Persien, Marokko, Ägypten, Mesopotamien und den Kongostaat adäquate Proben geben. Und natürlich kämpfen England, Rußland und Frankreich mit heiliger Begeisterung für dieses letztere »Ideal«! Und ihre neutralen Bewunderer sehen darin den Triumph des »Rechtes« über die »Macht«!
Erst dann, wenn man sie auf diesem von weltgeschichtlicher Logik geprägten und in den größten Maßen der Weltgeschichte zugeschnittenen Hintergrunde – dem Friedensprogramme: freie Meere und der wirtschaftlich-politische Staatenblock von der Nordsee bis an den Persischen Meerbusen mit einem zentralafrikanischen Kolonialgebiet – betrachtet, erhalten die anderen deutschen Friedensprogramme und andere Gerüchte über Deutschlands Friedensbedingungen ihre richtigen Proportionen.
Es ist selbstverständlich, daß Deutschland, sowohl im Interesse des künftigen Weltfriedens wie in dem seiner eigenen Sicherheit, von militärischem Gesichtspunkte aus einige Änderungen gewisser Grenzverhältnisse und staatlicher Anordnungen im Osten und Westen anstreben muß. Die von der Natur und durch Völkerwanderungen nun einmal gegebenen und dem Deutschen Reiche ungünstigen, unklaren geographischen Grenzverhältnisse verbieten nicht allein, daß das Elsaß wieder französische Provinz werde, sondern auch, daß Belgien je wieder politisch und militärisch unter deutschfeindlichen Einfluß gerate.
Doch jedem, der Ohren hat, zu hören, und der das Hetzen gegen Deutschland nicht zu seiner politischen Religionsübung gemacht hat, muß es klar sein, daß die entscheidende politische Meinung in Deutschland erst dann für Annexionen in Europa gewonnen werden kann, wenn sie durch einen bis aufs Äußerste fortgesetzten Versuch, den in London, Petrograd und Paris so oft und so laut verkündeten Vernichtungskrieg gegen Deutschlands Volk, Deutschlands Staat und Deutschlands Volkswirtschaft durchzuführen, dazu gezwungen sein wird.
Daß die deutsche Besetzung Belgiens, Nordfrankreichs und Westrußlands irgendwie bewiese, daß Deutschland diese Gebiete »erobern« will, ist teils ein Stück leichtbegreiflicher englisch-russisch-französischer Demagogie, teils, bei gewissen Demokraten, Pazifisten und Neutralen ein Stück so grotesker Einfältigkeit, daß man sie eigentlich gar nicht besprechen kann. Es gibt jedoch Leute, die so beschaffen sind, daß sie mit flammender Überzeugung glauben, ein Verteidigungskrieg höre auf ein Verteidigungskrieg zu sein, sobald er, dank militärischen Erfolgen, nicht mehr im eigenen Lande geführt zu werden braucht, und daß ein Eroberungs- und »Vernichtungs«krieg aufhöre, ein Angriffskrieg zu sein, wenn er infolge militärischer Mißerfolge auf dem Boden des eigenen Landes unter beständigem Versichern weitergeführt wird, daß der Krieg nicht eher enden dürfe, als bis der Feind gänzlich »vernichtet« und sein Land gründlich besetzt sei.
Sollte wirklich das Festhalten der Entente am »Vernichtungskriege« ein siegendes Deutschland schließlich in seinen Ansprüchen auf Garantien für seine Zukunft und den künftigen Frieden weiter treiben, als die deutsche Politik aus nur eigenem Antriebe vielleicht je hat gehen wollen, dann handelt es sich also sicherlich dennoch nicht um »Eroberungen« in Europa, sondern um neue Staatsbildungen außerhalb des Deutschen Reiches – um das Errichten von Pufferstaaten, besonders im Osten, und um das Organisieren eines noch größeren wirtschaftlichen und politischen Verbandes, als der deutsch-österreichisch-ungarisch-bulgarisch-serbisch-türkische Block an sich sein würde.
Nach dieser Richtung hin gehende Andeutungen sind in der Literatur sehr zahlreich. Ich brauche nur an die Namen Rohrbach, v. Liszt, Lamprecht, v. Wiese, Grabowsky, Dietrich Schäfer, Ernst Jäckh, Karl Mehrmann, Paul Lensch und Franz Köhler zu erinnern.
Besonders treten hier die Namen Jäckh, Rohrbach und Köhler hervor, indem der erste kräftig für den Gedanken an das deutsch-türkische Bündnis eingetreten ist und die beiden anderen versucht haben, dem Plane eines Bekämpfen des »Panslawismus« durch staatliches Anschließen der West- und Südslawen an Mitteleuropa feste Form zu geben. Beinahe als Folge des deutsch-türkischen Programmes tritt eine dritte Gedankenlinie hervor: die eines konsolidierten deutschen Kolonialgebietes in Zentralafrika mit geographischem Anschlusse durch den Sudan mit dem wieder mit der Türkei vereinigten Ägypten.
Der weitgereiste deutsche Orientkenner Dr. Ernst Jäckh veröffentlichte schon 1908 das vielbeachtete Werk: Der aufsteigende Halbmond; Auf dem Weg zum deutsch-türkischen Bündnis. Seitdem ist er als Publizist und Organisator unermüdlich für den deutsch-türkischen Zusammengehörigkeitsgedanken tätig gewesen, der noch 1908 phantastisch und mit unüberwindlichen Schwierigkeiten behaftet erschien, aber Ende 1914 durch die manch einem so unerwartet kommende Beteiligung der Türkei am Weltkriege an der Seite der Mittelmächte verwirklicht worden ist.
Er schreibt in jenem Buche, daß trotz aller damaligen inneren Schwäche der Türkei und ihrer Abhängigkeit von Rußland, England und Frankreich sich ein Weg zu einer deutsch-österreichisch-türkischen Vereinbarung auf Grundlage gemeinsamer Interessen erschließen werde, eine deutsch-österreichisch-türkische Gemeinschaft, die von Hamburg-Berlin über Wien-Budapest bis nach Konstantinopel-Bagdad einen breiten Keil zwischen Rußlands panslawistischen Druck und Englands arabisch-persische Maulwurfsarbeit schieben werde.
Jäckh betont mit Nachdruck, daß der für die Türkei scheinbar so unglückliche Ausgang des Balkankrieges (1912-13) sowohl den Weg zu ihrer wirklichen staatlichen Wiedergeburt wie auch zu türkisch-deutschem Zusammenwirken in der Weltpolitik gebahnt habe. Durch den Verlust fast aller ihrer europäischen Eroberungen habe die Türkei ungeheuer an nationaler und religiöser Einheitlichkeit gewonnen, und damit auch an Kraft, eine eigene Politik zu treiben, die nicht mehr die dilatorische, hoffnungslose Politik des »kranken Mannes« sei, sondern eine erfolgreich gegen russische und englische Eroberungspläne und französische und italienische Teilungshoffnungen gerichtete Politik. Wegen dieser Politik brauche die Türkei eine Stütze und finde sie vor allem an Deutschland, dem es seit lange ein viel klügerer Staatsgedanke erschienen sei, die Unversehrtheit der Türkei aufrechtzuerhalten, als sich an ihrer Aufteilung, die Rußland und England hätte Deutschland und Österreich von der Levante und den Landwegen nach Innerasien und Afrika absperren lassen, zu beteiligen.
Besondere Beachtung scheint mir auch Franz Köhler wegen seines im Mai 1915 veröffentlichten Buches » Der neue Dreibund: ein politisches Arbeitsprogramm für das gesamte deutsche Volk und seine Freunde« zu verdienen.
Mit außergewöhnlicher Kraft und Folgerichtigkeit geht Köhler dem verwickelten, schwer zu lösenden geographisch-ethnographischen und wirtschaftlich-politischen Lebensprobleme des deutschen Volkes auf den Grund und sieht seine Lösung in einer politischen Zusammenorganisierung Deutschland-Österreich-Ungarns sowohl mit den West- und Südslawen wie mit der Türkei.
Die Habsburger Monarchie habe, nicht zum wenigsten während des Weltkrieges, die Notwendigkeit und Möglichkeit eines dauerhaft organisierten staatlichen Zusammenwirkens zwischen Deutschen und Magyaren und zwischen Deutschen und den westlichen Südslawen bewiesen. Einzig und allein staatlich mit einem kulturell hochstehenden, organisatorisch und militärisch kraftvollen Volke zusammenorganisiert könnten Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Serbo-Kroaten, Bulgaren und Ukrainer einer Zukunft mit selbständiger nationaler Entwicklung entgegensehen – anstatt der für sie sonst früher oder später unvermeidlichen Verrussung zu verfallen. Und in einer fortschreitenden Verrussung und politischen Moskowitisierung der West- und Südslawen liege die in Zukunft der Kultur, der Freiheit und dem Frieden Europas drohende Gefahr – seitdem die vor dreihundert Jahren so drohende Türkengefahr nun dadurch gänzlich geschwunden sei, daß die Türkei angefangen habe, sich dem mitteleuropäischen Staatsverbande politisch und wirtschaftlich einzuordnen.
Die zukunftsgültige Organisierung des Verhältnisses Europas zu Asien und dem halbasiatischen Großrußland müsse von dem Kernvolke Mitteleuropas ausgehen, das hierdurch nicht nur für seine eigene Sicherheit und sein eigenes Entwicklungsrecht sorge, sondern auch für ganz Europa – soweit wie Europa nicht halbasiatisch-moskowitisch sei und seine legitime Entwicklungslinie im Osten, nach Asien hinein, suchen müsse.
»Wir wollten keinen Eroberungskrieg und wurden gezwungen, einen Daseinskampf zu führen«, schreibt Franz Köhler Op. cit., Seite 18.. »Jetzt gilt es Vorsorge zu treffen, daß eine Wiederholung solchen Ringens auf viele Jahrzehnte hinaus zur Unmöglichkeit wird, indem wir unsere Grenzen selbst gegen den Gedanken eines Angriffs sichern. Eine vornehme Aufgabe wird es aber zugleich sein, diesen Frieden nicht nur uns zu bringen, sondern der ganzen Umwelt dadurch, daß wir gesunkene Völker, wie die Völker des Islams, zu einer höheren Kultur emporführen, daß wir den geknechteten Stämmen Rußlands die Freiheit bringen, daß wir andere, die mit dem Feuer des Weltbrandes gespielt haben, wie Belgier und Serben, höheren Zielen unterordnen und den Völkern und Stämmen, die sich unserer Führung anvertrauen, eine ihrer Macht, ihrer Zahl und ihren wirtschaftlichen Interessen entsprechende Stellung geben. Groß und erhaben über die Verlockung, aus einem glücklichen Ausgang des Kampfes eine reine Eroberungspolitik abzuleiten, die nicht der Höhe unserer Bestimmung, nicht unserem Volkscharakter und nicht den Lehren geschichtlicher Erkenntnis entspricht.«
Seine Auffassung, daß Deutschland durch ein vom Atlantischen bis zum Indischen Ozean hin zusammenhängendes Kolonialreich dem mitteleuropäischen Blocke sein tropisches, rohstofferzeugendes Gebiet geben müsse, gründet Köhler nicht nur auf wirtschaftliche, sondern auch auf politische Gründe. Die Türkei soll Ägypten wiedererhalten, wird dann den Weg zwischen Mitteleuropa und seiner großen deutschen Kolonie beherrschen und erhält an dieser Machtstellung eine Garantie der ehrlichen Absicht Deutschlands, die politische Selbständigkeit der Türkei zu achten.
Diesen Hauptpunkt der deutschen Orientpolitik – den türkischen Staat zu stärken und zu stützen, anstatt ihn zu schwächen und zu Fall zu bringen – hebt Köhler auf folgende Weise hervor Op. cit., Seite 110-111.:
»Das jedenfalls ist festzuhalten, daß es sich für uns niemals um eine politische Eroberung mohammedanischer Gebiete handeln kann, wenn wir uns an einem Aufbau des Osmanischen Reichs und darüber hinaus des islamitischen Weltreichs beteiligen wollen. Daß wir im Gegensatz zu allen anderen Großmächten Europas nirgends in die Welt des Islam mit politischen Ansprüchen hineingriffen, war es ja gerade, was uns die Freundschaft der mohammedanischen Welt und in erster Linie das Vertrauen des führenden türkischen Staates eintrug. Halten wir diesen Gedanken fest, dann wird auch die Aussöhnung des deutschen Volkes mit dem scheinbaren Fehlschlag unserer Marokkopolitik nicht allzu schwer fallen.
Gerade die Erinnerung an Marokko führt uns zu unseren eigenen politischen Wünschen und Plänen zurück. – – – – Die Richtung, in der sich unsere eigenen Pläne bewegen müssen, ist uns durch unsere bisherige afrikanische Politik bereits vorgezeichnet.«
Köhler wünscht in der Hauptsache ein Vereinigen Deutsch-Ostafrikas mit Kamerun vermittelst des bisher Belgien gehörenden Kongostaates und eine Erweiterung Deutsch-Ostafrikas nach Norden hin über Uganda und den östlichen Sudan bis an die Südgrenze des der Türkei wiedergegebenen Ägypten. So werde man dann von den deutschen Nordsee- und Ostseeküsten, über Österreich, den Balkan, Kleinasien, Syrien, Ägypten, ein zusammenhängendes Wirtschaftsgebiet bis an den Nyassasee im Südosten und die Mündung des Kongo im Südwesten erhalten.
Frankreich und England würden keine irgendwie erheblichen kolonialen Verluste erleiden – abgesehen davon, daß England der Türkei Ägypten wiedergeben und auf den Plan, sich den ganzen Länderblock zwischen dem Kap und Kairo anzueignen und durch Eroberungen in der südlichen Türkei und in Südpersien eine englische Landbrücke zwischen Ägypten und Indien herzustellen, verzichten müßte.
Die bedeutungsvollsten Züge dieses deutschen Friedensprogrammes scheinen mir die zu sein, daß es in der Hauptsache, und soweit wie es möglich ist, Deutschlands politische und wirtschaftliche Entwicklungsforderungen dadurch befriedigen will, daß ein bereits existierendes, freiwilliges Zusammenschließen zwischen mitteleuropäischen Staaten auch in Zukunft bei Bestand erhalten und ausgebaut werden soll, und daß es ferner, auch in seinem kolonialen Teile, weniger ein Eroberungsprogramm ist als ein politisches Organisationsprogramm, das große beabsichtigte Eroberungen endgültig unmöglich machen will – nämlich die von Rußland und England im vorderen Oriente geplanten und schon ein gutes Stück in Angriff genommenen.
Neben dem großen staatsmännischen Gedanken, Mitteleuropa einen Landweg nach dem vorderen Oriente und nach dem äquatorialen Afrika über ein politisch und wirtschaftlich wiedergeborenes, mit Europa endgültig versöhntes Osmanenreich zu erschließen, steht der für abendländische Völkerfreiheit und Kultur kaum weniger bedeutungsvolle staatsmännische Gedanke, Europa durch Erschaffung einer Schranke politisch freier, an Mitteleuropa angeschlossener west- und südslawischer Staaten vor dem blinden Expansionstriebe des moskowitischen Halbasiens endgültig zu schützen. Hierdurch hört die Habsburger Monarchie auf, eine von Rußland und England zum Tode verurteilte staatliche Abnormität zu sein, und wird anstatt dessen eine Entwicklungsstufe, die zur endgültigen, in großem Stile angelegten Lösung des verwickelten politischen Freiheits- und Organisationsproblemes des mitteleuropäischen, germanisch-slawischen Völkergemisches hinaufführt. Da Polens Befreiung durch die Macht der Waffen, Serbiens Eroberung und Bulgariens freiwilliger Anschluß an die Mittelmächte drei weitere, bereits zurückgelegte Schritte zur Verwirklichung des Programmes sind, verliert es viel von dem hypothetischen Charakter, der ihm sonst angehaftet hätte. Die großserbischen Träume lassen sich jetzt vielleicht in Form eines serbischen Totalstaates verwirklichen – aber nicht mit dem »panslawistischen« Rußland gegen die Mittelmächte, sondern mit den Mittelmächten gegen das »panslawistische« Rußland – was für die Zukunft der europäischen Freiheit und Kultur den größten Unterschied auf der Welt macht.
Und schließlich öffnet sich hier eine große, inspirierende kulturelle Perspektive – durch die Aussicht auf einen ungehinderten und geschützten, intensiven direkten Verkehr zwischen den Völkern Mitteleuropas und denen des vorderen Orientes, sowie auf ein intensives direktes Zusammenwirken beider. Die ältesten Kulturstätten der Menschheit können, nach Jahrhunderten der Isolierung und des Verfalles, auf eigenem nationalen Grunde und sowohl im Zeichen der politischen Selbständigkeit wie in dem des gesicherten Friedens und der Ordnung wieder zu neuer Blüte erweckt werden. Anstatt der beständige Gegenstand der Teilungspläne der europäischen Großmächte und damit eine beständige Gefahr für den Frieden Europas und der Welt zu sein, kann die wiedergeborene, freie Levante von neuem ein selbständiger Faktor der Wirtschaft, des Staatslebens und der Kultur der Welt werden.
Wenn der deutsche Friede uns dies, die Freiheit der Meere und das auf immer Verscheuchtwerden des Nachtmahrs des »Panslawismus« brächte, dann könnte die Tragödie des Weltkrieges sicherlich die Einleitung eines neueren, helleren, vor allem friedlicheren und kulturell fruchtbareren Abschnittes der Weltgeschichte werden, als die mit dem Juli 1914 abschließende Periode gewesen ist. Aber es ist schwer zu sehen, wie diese Begrenzung der vor dem Weltkriege noch vorhandenen Erweiterungs- und Eroberungsbestrebungen der englischen und russischen Imperien sich auf irgendeinem anderen Wege erreichen ließe, als durch den imperialistischen Lebenswillen eines militärisch starken und wirtschaftlich entwicklungskräftigen Mitteleuropas.