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Am 29. November 1915 – also an dem Zeitpunkte, da die deutsch-österreichisch-bulgarische Offensive gegen Serbien durch völlige Besiegung dieses Landes endete – enthielt die Zeitung The Daily News einen Germany and peace überschriebenen Leitartikel, der Englands prinzipiellen Standpunkt zur Frage über Friedensverhandlungen und Friedensschluß ohne chauvinistisches Prahlen, aber mit ungewöhnlicher Vollständigkeit und Aufrichtigkeit kennzeichnet.
Zuerst wird betont, daß Deutschland sicherlich nach Frieden trachte oder richtiger, nach Frieden umhertaste – jetzt, gleichwie nach Beendigung seiner früheren großen Offensiven in Frankreich und Rußland. »Ganz Deutschland wünscht Frieden,« fährt die Zeitung fort Ich übersetze nach einem in meinem Besitze befindlichen Exemplare der Zeitungsnummer und lasse gewisse Worte und Ausdrücke gesperrt wiedergeben um die Aufmerksamkeit des Lesers darauf hinzulenken., »und zwar aus sehr guten Gründen. Das Volk will Frieden haben; denn, auch abgesehen von allen möglichen Übertreibungen und Irrtümern, ist es ganz gewiß, daß der Krieg Massen von Deutschen einzig dastehende Entbehrungen und Leiden auferlegt. Und die deutschen Staatsmänner wollen Frieden haben, denn es muß ihnen ebenso klar sein wie uns anderen allen, daß Deutschland jetzt den Höhepunkt seiner militärischen Erfolge erreicht hat.
»In England aber ist die Lage ganz anders. Es sind keine Anzeichen vorhanden, daß Deutschland geneigt sein würde, die Friedensbedingungen anzunehmen, welche Herr Asquith mit Zustimmung fast des ganzen englischen Volkes wiederholt als das unumgängliche Minimum, womit England sich zufrieden geben könne, formuliert hat. Der Verlauf des Krieges und die Kriegführung der Deutschen haben mehr die Tendenz gehabt, diese Bedingungen noch zu erhöhen, als die, sie herabzusetzen, und eher die, den Entschluß der Nation, sie durchzusetzen, noch zu verstärken, als die, ihn abzuschwächen. Reines Rachegefühl gibt es unter den Beweggründen der Friedensbedingungen der Entente nicht und darf es auch nicht geben. Aber den Forderungen der Gerechtigkeit muß genügt werden, und sie können hinsichtlich der Verbrechen, die Deutschland während der letzten achtzehn Monate begangen hat, nicht klein sein.
Es handelt sich jetzt nicht mehr bloß darum, daß Belgien Genugtuung gegeben werde. Serbien, Polen und Armenien fordern Strafe wegen des unerträglichen Unrechts, das an ihnen begangen worden ist. Es gilt nicht nur, Frankreich vor der Aggressivität eines ruhmsüchtigen Nachbarn zu schützen. Entschädigung muß gegeben werden für die grauenhafte Verwüstung, die in Frankreich angerichtet ist, und für die ungeheueren Verluste, die das Land durch die Invasion erlitten hat. Und jetzt ist es nicht mehr bloß Preußens Militärgewalt, die »ganz und endgültig vernichtet« werden muß. Es ist nicht mehr möglich, die Herrschaft des Türken zu dulden, sei es in Europa, sei es in Asien. Er muß in der zivilisierten Welt als politischer Machthaber zu existieren aufhören. Schließlich darf man dem im Verfalle befindlichen österreichischen Kaisertume nicht länger erlauben, weiterhin als öffentliche, dauernde Bedrohung des europäischen Friedens zu existieren. Auch hier müssen die ›Rechte der kleinen Nationen‹, die der Tschechen, Ruthenen, Serben und Rumänen, in endgültiger Weise formuliert und anerkannt werden.
Was man über unsere Friedensziele auch sagen möge – unbestimmt sind sie nicht. Weil sie so bestimmt sind, darum ist das Bemühen derjenigen, welche Frieden suchen und ihn gerade jetzt fördern wollen, ganz besonders vergeblich. – – – Was England anbetrifft, so kann nur dadurch Friede eintreten, daß Deutschland selbst den Mißerfolg seines Wagestückes eingesteht, daß es seinen verbrecherischen Ehrgeiz aufgegeben hat und bereit ist, für das begangene Unrecht Buße zu tun – – – .«
Das Ergebnis ist also, daß Deutschland, trotz anerkannter Geneigtheit zum Frieden, nicht einmal unter den Bedingungen, »welche Herr Asquith mit Zustimmung fast des ganzen englischen Volkes wiederholt formuliert hat«, Frieden erhalten kann. Darüber hinaus muß Deutschland sich unter anderem noch damit einverstanden erklären, daß es »Strafe wegen des unerträglichen Unrechtes«, das es Polen durch die Befreiung von dem schrecklichen russischen Sklavenjoche angetan hat, erleide, und daß es die »grauenhafte Verwüstung« in Frankreich bezahle, obwohl diese augenscheinlich in großem Umfange durch die dort praktizierten Kampfmethoden der Franzosen und der Engländer bedingt ist. Deutschland soll nicht nur mit einer solchen Kleinigkeit wie der völligen, endgültigen Vernichtung der »Militärgewalt Preußens«, sondern auch damit einverstanden sein, daß die Türkei als Staat zu existieren aufhöre (noch eine reine Bagatelle für Deutschland!), und ferner seine Zustimmung geben, daß dem österreichischen Kaisertum nicht länger erlaubt werde, als »Bedrohung des europäischen Friedens weiter zu existieren«, indem die »Rechte« seiner Tschechen, Ruthenen, Serben und Rumänen »formuliert und anerkannt« werden.
Diese Friedensziele Englands, versichern die Daily News, seien durchaus nicht »unbestimmt«, sondern, im Gegenteil, in hohem Grade »bestimmt« (» definitive«). Sollte dem wirklich so sein? Ist es gewöhnlichen Sterblichen so ganz klar, was mit » the military domination of prussia« gemeint ist und was man darunter versteht, daß sie » wholly and finally destroyed« werden müsse? Was soll sich ein Staatsmann unter diesen fetten, flapsigen Redensarten denken können? Und beabsichtigt man, die Habsburger Monarchie gänzlich wegzufegen, oder will man nur ihren slawischen Ländern das »Recht« schenken, ihrerseits vom Panslawismus, d. h. vom Moskowitertum, verschlungen zu werden, wie es schon mit so vielen anderen slawischen und nichtslawischen Völkern geschehen ist? Und warum fehlt jegliche Andeutung, daß Polens künftiges Schicksal nicht seinem bisherigen unter der Herrschaft Rußlands gleich sein dürfe? Geniert man sich im demokratischen London, ein offenes Wort mit den freiheitsliebenden Freunden in Petrograd zu reden?
Mir erscheint dieses ganze englische Friedensprogramm außerordentlich verschwommen in seinen Einzelheiten, während seine nicht eigens formulierten Hauptgedanken um so deutlicher hervortreten.
Deutschland soll die militärische Kraft genommen werden, Rußland aber wird sie gelassen. Die Türkei soll vollständig zwischen Rußland, England und Frankreich aufgeteilt werden. Hierdurch wird Deutschland völlig vom Oriente abgesperrt bleiben – zur großen Zufriedenheit aller, namentlich Englands. Die Stütze gegen Rußland, die Deutschland bisher an dem Bündnisse mit der Habsburger Monarchie gehabt, soll ihm dadurch radikal weggezogen werden, daß man diese Monarchie in ihre einzelnen Bestandteile auflöst – zur besonderen Zufriedenheit Rußlands. Russischer und englischer Imperialismus werden in Mitteleuropa reinen Tisch machen – und von einer Staatskonstellation, aus welcher sich wieder eine starke Mauer gegen russische Aggressivität und russische Barbarei aufbauen ließe, keinen Stein auf dem anderen lassen. Russischer und englischer Imperialismus werden die Levante endgültig monopolisieren und dem germanischen Mitteleuropa endgültig die Lustgärten des Orients verschließen. In Deutschland soll der moderne Imperialismus, besonders der koloniale und maritime Imperialismus, streng verboten sein – im Namen der »Gerechtigkeit«, der »Freiheit« und der »Humanität«; England aber soll seine koloniale und maritime Weltoberherrschaft behalten, während das Innere und der nördlichere Teil des europäischen Festlandes kosakischen Zukunftsperspektiven überlassen wird.
Dies ist, wie mir scheint, das wirkliche Friedensideal, der einzig wirkliche » definitive« Inhalt, der sich hinter dem in den Daily News in so autoritativer Weise aufgerollten Friedensprogramm entdecken läßt.
Es darf indessen nicht übersehen werden, daß das angeführte Programm, nach eigenem Eingeständnisse, nichts anderes ist als die im November 1915 zeitgemäße Verschärfung des durch Asquith in den ersten Monaten des Weltkrieges aufgestellten Friedensprogrammes. Rufen wir uns daher auch die Hauptzüge dieses Friedensprogramms ins Gedächtnis zurück – wie wir sie in den vom englischen Premierminister während der Monate August, September und Oktober gehaltenen Reden wiederfinden, in jenen Reden, die in schlechten Übersetzungen umsonst in neutralen Ländern verteilt worden sind, wobei ein halbes Dutzend Exemplare auch in meine unwürdigen Hände gerieten. Es sind der Zahl nach fünf Reden, und sie wurden gehalten: im Unterhause am 1. und am 27. August, in Edinburg am 18. September, in Dublin am 25. September und in Cardiff am 2. September, alles 1914; also nacheinander in England, Schottland, Irland und Wales, um in allen Ländern des Vereinigten Königreiches den Leuten die richtige Auffassung des »Krieges, seiner Ursachen und seiner Bedeutung« einzuschärfen. Die Dokumentensammlung läßt sich passenderweise durch Asquiths Rede im Unterhause am 6. August 1914 vervollständigen, und man kann auch noch Sir Edward Greys dort am 3. August 1914 gehaltene Rede hinzufügen, die beide in der Beilage des englischen »Weißbuches« (auch in dem Blaubuche » Great Britain and the European Crisis«) enthalten sind.
Was entdecken wir nun für Friedensideale in diesen, in der internationalen Agitation zum Besten der Sache der Entente so energisch ausgenutzten Reden des englischen Ministerpräsidenten und des englischen Ministers des Auswärtigen? Wir entdecken das Friedensideal der imperialistischen Selbstsucht und der Aggressivität in seiner spezifisch englischen Gestaltung – aber auf englische Weise hinter einem dichten Schleier schöner Redensarten über den reinsten politischen Idealismus und über die unschuldsvollste Friedensliebe versteckt.
»Wir befinden uns«, sagte Asquith am 18. September 1914 in Edinburg, »aus drei Gründen im Kriege. Erstens, um die Heiligkeit vertragsmäßiger Verpflichtungen und das, was man mit Recht das allgemeine Gesetz Europas genannt hat, zu verteidigen; zweitens, um die Unabhängigkeit freier, relativ kleiner und schwacher Staaten gegen Übergriffe und Gewalt von seiten des Starken zu behaupten und aufrechtzuerhalten; und schließlich, um, wie wir glauben, nicht nur im besten Interesse unseres eigenen Reiches, sondern auch in dem der ganzen Zivilisation den übermütigen Ansprüchen entgegenzutreten, welche eine einzelne Macht auf Beherrschung der Entwicklung der Geschicke Europas erhebt.«
In seiner am 2. Oktober 1914 in Cardiff gehaltenen Rede fügt er jenen Behauptungen folgende denkwürdigen Worte hinzu: »Wir bilden einen großen, weltumfassenden, den Frieden liebenden Komplex. Durch die Weisheit und den Mut unserer Vorfahren, durch die Großtaten des Heldenmutes und der Unternehmungslust zu Wasser und zu Lande, durch die Einsicht, die vereinigte Weisheit und wohlbewährte Erfahrung vieler Generationen haben wir ein Reich erbaut, das von den beiden Pfeilern Freiheit und Gesetz getragen wird. Wir sind weder eitel noch töricht genug, um zu glauben, daß im Laufe einer langen Entwicklung nicht Fehler gemacht seien oder nie etwas Schlimmeres als Fehler vorgekommen sei und daß unser Reich heute so dastehe, wie es unter idealistischem Gesichtspunkte hätte werden können und wozu es, wie wir glauben, bestimmt ist. Doch so haben wir es empfangen, und so hoffen wir es behalten zu dürfen. Wir trachten nicht nach dem Gebiet irgendeines anderen Volkes. Wir streben nicht danach, fremden Bevölkerungen unser Regiment aufzuzwingen. Uns genügt das britische Reich, alles, was wir gewünscht haben, alles, was wir jetzt wünschen, ist, daß man uns erlaube, unsere eigenen Hilfsquellen in Frieden zu konsolidieren, innerhalb des Reiches das Niveau, wo allen jede Gelegenheit offen steht, zu erhöhen, die Bande der Zuneigung und des Vertrauens zwischen seinen Teilen fester zusammenzuziehen und es überall zu einem würdigen Heime der besten Überlieferungen britischer Freiheit zu machen. Geht daraus nicht hervor, daß es nirgends auf der Welt ein Volk gibt, das stärkere Beweggründe hat, Krieg zu vermeiden und Frieden zu suchen und anzustreben? Weshalb aber schmiedet denn das britische Volk so lang und so weit, wie unsere Macht reicht, die Pflugschar in ein Schwert um? Weshalb vertauschen die besten unserer kriegsfähigen Männer Felder, Fabriken und Kontore gegen Rekrutendienst und Exerzierplatz?«
Die Antwort ist schon gegeben: Deutschland macht »übermütige Ansprüche auf Beherrschung der Entwicklung der Geschicke Europas«. Und nun fügt der englische Ministerpräsident hinzu: »In Buchstaben des Blutbades und der Plünderung sehen wir jetzt klar und deutlich die wirklichen Absichten und Methoden geschrieben, welche diesen lange vorbereiteten, gut organisierten Plan gegen Europas Freiheit und Recht kennzeichnen.« Und Sir Edward Grey bedient sich derselben Fragestellung, als er am 3. August 1914 im Unterhause von » unmeasured aggrandisement« einer gewissen Großmacht und der Notwendigkeit redet, zu »verhindern, daß das ganze England gegenüberliegende Westeuropa unter die Herrschaft einer einzigen Macht gerate«.
Dies ist sehr eigentümlich und – sehr englisch. Über den eigentlichen Kernpunkt der weltgeschichtlichen Lage – den allgemeinen imperialistischen Macht- und Expansionskampf – wird nichts gesagt. Vielmehr stellt man die Welt als ungewöhnlich friedlich und wohlgeordnet dar – wenn nur Deutschland das Krakeelen lassen wollte. Und dies »Krakeelen« Deutschlands wird, in direktem Gegensatze zur Wahrheit und Vernunft, als ein Trachten nach Unterjochung ganz Westeuropas hingestellt – obgleich Deutschlands Sicherheits-, Entwicklungs- und Erweiterungsbedürfnisse mit aller nur möglichen Deutlichkeit allerlei Veränderungen im Osten und Südosten und Süden verlangen, teilweise auf Kosten der russischen und der englischen Expansionsbestrebungen.
Doch Asquith und Grey lag daran, ein Reden über die Pläne des Panslawismus auf Österreich, die Balkanhalbinsel, Konstantinopel und die Südküste des Schwarzen Meeres zu vermeiden. Es galt, jedes Wort über Englands eigene Kap-Kairopläne und Kairo-Kalkuttapläne (quer über die südliche Türkei und Südpersien hinweg) zu vermeiden. Denn es wäre dann ja unmöglich gewesen, in demselben Atemzuge zu versichern: »Wir trachten nicht nach dem Gebiete irgendeines anderen Volkes«.
Als sich England, zur Förderung seiner eigenen wohlverstandenen imperialistischen Interessen gegen Deutschlands steigende imperialistische Machtentwicklung, in den lange vorbereiteten Eroberungs- und Rachekrieg Rußlands und Frankreichs gegen die Mittelmächte stürzte, glaubten seine leitenden Minister nach alter, guter englischer Tradition von keinen anderen Argumenten als den demokratischsten, friedensfreundlichsten und unimperialistischsten Gebrauch machen zu dürfen. Diese vom Ausland »Heuchelei« und von den Engländern »Moral« genannte Tradition gebot, daß »wir« gerade jetzt ganz verschweigen und für den Augenblick, wenn möglich, wirklich vergessen, daß »wir« drei Jahrhunderte hindurch und noch bis vor wenigen Jahren »uns« in einem in der Weltgeschichte einzig dastehenden Umfange die »Gebiete« unzähliger anderer Völker unterworfen haben und daß »wir« gerade jetzt in Arabien und Südmesopotamien die englische Herrschaft über eine Reihe »Gebiete« zwischen dem türkischen »Gebiete« Ägypten und den persischen »Gebieten«, die nach Vereinbarung mit Rußland im Jahre 1908 zur »englischen Interessensphäre« erklärt worden sind, auf verschiedene Weise vorbereitet haben. Es wäre, nach englischem Normalmaße öffentlicher Moral, zuviel verlangt gewesen, daß ein englischer Minister bei dieser Gelegenheit mit einem Hauche verraten hätte, daß eben diese neuesten Spekulationen Englands auf die »Gebiete« anderer Völker unwillkürlich einen Konflikt mit Deutschland heraufbeschworen, weil sie einem deutschen Handels- und Kolonialimperialismus, der nicht nötig hätte, von englischen »Konzessionen« oder englischer Gnade zu leben, den einzigen gangbaren Weg versperrten.
Es handelte sich für Asquith und Grey darum, sorgfältig zu verschleiern, daß dies der Kern des Friedens ist, den England Deutschland gönnen will. Ein Friede, der England auf immer die Alleinherrschaft zur See läßt und England außerdem noch gestattet, mit vollständiger Aufopferung der jedenfalls relativ bescheidenen imperialistischen Entwicklungsmöglichkeiten Deutschlands sein eigenes Imperium zu einem auch zu Lande weltumfassenden Oberimperium zu konsolidieren.
Der unerschütterlich sichere Instinkt, mit welchem die beiden leitenden englischen Staatsmänner den imperialistisch monopolitischen und aggressiven Kernpunkt des englischen Friedensideals bei allen öffentlichen Besprechungen der Kriegsursache und der Möglichkeiten und des Inhaltes des Friedens haben im Hintergrunde bleiben lassen, tritt vielleicht noch auffallender in einem späteren Dokumente hervor. Sir Edward Grey übernahm am 25. August 1915 in einem offenen Briefe die Beantwortung der Augustrede des deutschen Reichskanzlers im Reichstage. Wir finden dort folgende Fragen und Antworten.
»Und was ist Deutschlands Programm, wie es in der Rede des Reichskanzlers und in den öffentlichen Aussprüchen in Deutschland hervortritt? Deutschland soll Kontrolle über die Geschicke aller anderen Nationen ausüben, soll ›ein Hort des Friedens, der Freiheit der großen und kleinen Nationen‹ sein. Dies sind die Worte des Reichskanzlers – ein bewaffneter Friede und Freiheit unter preußischem Schutze und unter deutscher Oberhoheit. Deutschland, das allmächtige Deutschland allein, würde frei sein, frei, um internationale Verträge zu brechen, frei, um andere niederzuschlagen, sobald es ihm gefiele, frei, um jeden Einspruch zurückzuweisen, frei, um Krieg zu beginnen, wenn es ihm paßte, frei, um, sobald es Krieg begonnen, sich wieder gegen alle Regeln der Zivilisation und der Menschlichkeit zu Wasser und zu Lande zu vergehen, und während es dies tun darf, soll sein Handel auf den Meeren in Kriegszeit ebenso frei bleiben, wie aller Handel in Friedenszeit ist.
Die Freiheit der Meere kann nach diesem Kriege ein sehr geeigneter Gegenstand der Besprechung, Feststellung und Übereinkunft zwischen den Nationen werden, aber nicht an und für sich allein, nicht so lange, wie es kein Freisein von Kriegen und deutschen Kriegsmethoden zu Lande und keine Sicherheit dagegen gibt. Wenn Garantien gegen einen künftigen Krieg aufgestellt werden sollen, so müssen es in gleicher Weise bindende, wirksame Garantien sein, die Deutschland ebenso gut binden wie andere Nationen, uns selbst einbegriffen.
Deutschland soll übermächtig werden. Die Freiheit der anderen Nationen wird die ihnen von Deutschland zugemessene sein. Diesen Schluß kann man offenbar aus der Rede des deutschen Reichskanzlers ziehen, und dem fügt der deutsche Finanzminister noch hinzu, daß die schwere Bürde vieler tausend Millionen Jahrzehnte hindurch getragen werden müsse, nicht von Deutschland, sondern von denen, welche es ihm beliebt die Urheber des Krieges zu nennen. Mit anderen Worten: Deutschland fordert, daß alle die Nationen, die seine Widersacher gewesen, noch Jahrzehnte arbeiten sollen, um ihm in Gestalt einer Kriegsentschädigung Steuern zu zahlen. Unter solchen Bedingungen kann kein Friede geschlossen werden, wenn das Leben anderer Nationen als der deutschen frei oder auch nur erträglich sein soll. Die Reden des deutschen Reichskanzlers und des deutschen Finanzministers lassen deutlich erkennen, daß Deutschland um die Oberherrschaft und das Tributrecht über andere kämpft. Wenn dem so ist und solange dem so ist, kämpfen unsere Verbündeten und wir für das Recht zu leben, nicht unter deutscher Herrschaft, sondern in wirklicher Freiheit und Sicherheit zu leben, und müssen wir dafür kämpfen.«
Wenn wir einen Augenblick von den in einem ernsten politischen Dokumente ungehörigen, hitzig agitatorischen Schreckphrasen über die Kriegführung der Deutschen und ihre Kriegsentschädigungsansprüche absehen, so bleibt nichts anderes übrig als die alte unbegründete Beschuldigung, daß Deutschland nach Alleinherrschaft auf dem europäischen Festlande strebe, und, als einziger Beitrag zu positiver Beleuchtung des englischen Friedensideales, das bedeutungsvolle Eingeständnis, daß es mit der »Freiheit der Meere« doch nicht ganz so wohlbestellt sei, wie es, unter anderen als englischen Gesichtspunkten gesehen, vielleicht sein müßte. Doch unter welchen Bedingungen will der englische Minister des Auswärtigen, seiner eigenen Angabe nach, die »Freiheit der Meere« diskutieren? Darüber erhalten wir keine vernünftige Auskunft, und zwar aus dem einfachen, tragischen Grunde, weil der Auslandsminister des englischen Weltreiches in seinem Briefe, gleichwie in allen seinen hierher gehörenden öffentlichen Äußerungen, einen bei einer solchen Persönlichkeit besonders beklagenswerten Mangel an Fähigkeit und gutem Willen zeigt, die weltgeschichtlichen Zwistigkeiten zwischen Deutschland, Rußland und England sachlich, der Wahrheit entsprechend und gerecht anzusehen.
Die richtige Auslegung der vielen unklaren Worte Greys in diesem Briefe dürfte so lauten: England verzichtet nicht eher auf seine Macht, ein willkürliches Gewaltregiment auf allen Weltmeeren und allen großen maritimen Heerstraßen auszuüben, als bis Deutschland auf eine oder die andere Weise auch zu Lande außerstande gesetzt ist, irgendwie gegen das englische Imperium einzuschreiten oder dessen fortgesetzte »Konsolidierung« durch neue, mehr oder weniger fein maskierte Annexionen (in fortgesetztem Einverständnisse mit den Annexionsfreunden Rußland und Frankreich, gegebenenfalls auch Italien und Japan) zu hindern oder zu stören.
Es ist allerdings ein wunderbares Stück »Kultur«, einer solchen Wirklichkeit rein instinktiv ein so feines moralisches Mäntelchen umhängen zu können, wie Sir Edward Grey in seinem hier angeführten offenen Briefe getan hat. Indessen dürfen wir auch von der sich in diesem Briefe zeigenden kräftigen Anwendung der üblichen englischen Anschauung der deutschen »Kriegsmethoden zu Lande« als großpolitisches Argument nicht gänzlich absehen. Man kann sich wohl fragen, ob es wirklich irgendeinen tieferen Qualitätsunterschied zwischen der hier enthüllten politischen Anschauungsweise und der Litanei des bekannten, wenn auch gerade nicht rühmlich bekannten Herausgebers der Zeitschrift John Bull, des Mr. Horatio Bottomley, gibt, die ich in der Zeitung »Stockholms Dagblad« vom 7. Juni 1915 folgendermaßen wiedergegeben finde.
»Mr. Horatio Bottomley versucht in diesem Artikel zu beweisen, daß »die Deutschen samt und sonders zum Anhang des Teufels gehören. Ihre Seelen sind nicht Gottes, sondern des Satans. Kaiser Wilhelm, ›der blutige Schlachter aus Berlin‹, dient dem Teufel als Oberhofmeister und weiß die leckersten Gerichte auf seines Herren Tisch zu setzen. Und die Lieblingsgerichte sind Mord, Grausamkeit, Liederlichkeit, Plünderungssucht, Zerstörungslust und Seeräuberei. ›Vergewaltigte und ermordete Weiber, verstümmelte und auf Bajonette gespießte Kinder, durch Höllendünste erstickte edle und tapfere Krieger; denkt nur, welch ein Festmahl der Böse hat, dank dem blutigen Schlachter und seinen Handlangern.‹ In diesem Stile geht es weiter, bis der über zwei Spalten lange Artikel schließlich in einen leidenschaftlichen Schrei nach Rache ausmündet. Das Werk, das England zu tun auferlegt worden ist, ist nicht etwa, einen ehrlichen Gegner zu besiegen, sondern die ganze Höllenbrut auszurotten, nicht das Umregulieren einiger Nationalgrenzen, sondern das Beseitigen eines giftigen Auswuchses aus dem lieblichen Antlitz der Natur; es besteht nicht darin, einem menschlichen Heere Halt zu gebieten, sondern darin, eine ganze Teufelsrasse wieder in den Abgrund zurückzuschleudern. Wenn man solche Arbeit vorhat, darf man sich nicht durch konventionelle Regeln binden lassen. Es liegt im Interesse der Menschheit und der Zivilisation, daß jetzt keine Skrupel hindernd im Wege stehen müssen, sondern daß nun zu jedem beliebigen Mittel gegriffen wird.«
Wenn Asquith und Grey in Beziehung auf gewisse Züge des englischen Friedensideales außerordentlich zurückhaltend sind, so gilt dies jedoch nicht in gleichem Maße von allen in vorgeschobener oder verantwortlicher Stellung befindlichen englischen Politikern.
So erklärte der Minister Runciman am 22. September 1915 in einer Sitzung des Unterhauses, daß die » Board of Trade« damit beschäftigt sei, eine Untersuchung über das Benutzen des englischen Bankwesens durch die Deutschen anzustellen, über das Benutzen englischer Häfen durch ihre Schiffe und über den Gebrauch, den Deutsche als Besitzer von englischen Schiffen machen, die sie die englische Flagge führen lassen, obwohl es in Wirklichkeit deutsche Schiffe seien. Die Frage des Besitzrechtes der Ausländer an Grund und Boden sei ebenfalls Gegenstand der Untersuchung und die Frage der Kontrolle der Deutschen über Ölvorräte gleichfalls. » Was den Handel angeht, so ist Deutschland eine besiegte Nation, und es ist unsere Pflicht dafür zu sorgen, daß es den Kopf nach dem Kriege nicht mehr so hoch tragen wird wie vorher.« – Der Minister betonte in diesem Zusammenhange, man dürfe in Frankreich und Rußland nicht glauben, »daß wir (in England), wenn wir uns auf die Zukunft vorbereiten, an baldigen Frieden dächten. Es gibt keinen Frieden, wie bald er auch eintrete, auf welchen wir uns einlassen könnten, wenn er auf irgendeine Weise mit den Interessen unserer Verbündeten in Konflikt geriete. Die Verbündeten halten alle zusammen.« Runcimans am 10. Januar 1916 im Unterhause gehaltene Rede atmet nach dem Berichte der Times ganz denselben Geist.
Der liberale Minister a. D. Mastermann hatte einige Wochen früher – in der Daily Chronicle vom 15. November 1915 – erklärt, daß Deutschland nicht nur militärisch gründlich zerschmettert werden müsse – unter anderem dadurch, daß seine Flotte entweder versenkt oder unter den Mitgliedern der Entente verteilt werde – sondern auch wirtschaftlich zu vernichten und seiner Kolonien gänzlich zu berauben sei, in welche sich dann England, Frankreich und Japan zu teilen hätten. » Nur unter solchen Bedingungen kann der Friede von Dauer sein.«
Wenn Staatsmänner ein so verlockendes wirtschaftliches Ideal des englischen Friedens aufstellen, ist es selbstverständlich, daß Zeitungsmänner und Gewerbetreibende nicht unberührt bleiben können. Angesehene technische und ökonomische Zeitungen und Zeitschriften träumen von einer organisierten gründlichen Vernichtung der deutschen Industrieanlagen, besonders aller Eisen- und Stahlwerke – wenn die Truppen der Entente Deutschland erst glücklich besetzt haben werden. Denn, schreibt The Engineer vom 25. September 1915, »das Auftreten der Deutschen in französischen und belgischen Städten und Dörfern hat schon allgemeine Empörung ins Leben gerufen und so teilweise den Weg zur Anerkennung dieser Methode als legitimer Waffe der wirtschaftlichen Kriegführung und als eines kräftigen Mittels zu gerechter Wiedervergeltung geebnet.«
Es gibt indessen englische Kreise, die sich mit einer künftigen, auf Deutschlands wirtschaftlicher und kolonialer sowohl wie militärischer Vernichtung oder »Zertrümmerung« erbauten Friedensära doch nicht so ganz einverstanden erklären können – und zu ihnen hat lange die angesehene englische Wochenzeitung The Economist gehört, die unter anderem sogar gewagt hat, einzugestehen und zu verkünden, daß, hinsichtlich des europäischen Festlandes, »weder von Deutschlands noch von Österreichs Seite je eine andere Politik offiziell bekannt gegeben worden, als die Erlangung zuverlässiger Sicherheit vor künftigen Angriffen«. Andererseits muß aber betont werden, daß das Friedensideal, welches diese weniger radikal deutschfresserischen Kreise in England zu verbreiten suchen, gleichwohl einen sehr weitgehenden Mangel an elementarer Erkenntnis der wirklichen Lebensprobleme der festländischen Staaten und besonders der Deutschlands und Österreichs enthüllt.
Diese relativ besonnenen englischen Politiker glauben den Weltfrieden auf eine radikale Umgestaltung der politischen Karte Europas nach dem Nationalitätsprinzip gründen zu können. Aber in Wahrheit läßt sich offenbar nicht einmal der Friede in Europa – wenn er von dem auch von Kolonialpolitik und Handelsimperialismus so sehr abhängigen Weltfrieden überhaupt zu trennen wäre – dadurch sichern, daß gerade das Deutsche Reich und Österreich dem Nationalitätsgrundsatze gemäß verstümmelt werden, das russische Imperium oder seine Hauptmasse aber als blutiger Hohn auf dasselbe Prinzip bestehen bleibt. Von irgendwelchen Vorschlägen, Irland, Schottland und Wales politisch selbständig zu machen oder auch nur die beiden Nationen Belgiens zwei verschiedenen Staaten zuzuweisen, ist überdies nichts verlautet. Ist das nicht außerordentlich merkwürdig?
Wenn der Staatsgedanke unbedingt den Vortritt vor dem Nationalitätsgedanken haben muß, sobald es sich um The United Kingdom of Great Britain and Ireland handelt oder um dessen hochgeschätzten Pufferstaat auf dem Festlande, Le Royaume de Belgique, oder um den mächtigen östlichen Bundesgenossen, das Zarentum aller Russenländer, weshalb denn nicht auch dann, wenn es ganz Europas beiden Pufferstaaten gegen das moskowitische Halbasien gilt? Ist es nicht eine reichlich stark » insulare« Kurzsichtigkeit oder Selbstsucht, d. h. eine nach europäisch-festländischem Maßstabe gründlich unzulässige Auffassung, daß ein »Prinzip«, das für England ohne jeden Zweifel ein tödliches Gift sein würde, für Mitteleuropa außerordentlich heilsam und, namentlich unter dem Gesichtspunkte des Friedens, für die Welt im allgemeinen und das europäische Festland im besonderen eine Wohltat sein müsse?
Ist demnach schon das »Prinzip« dieses englischen Friedensideales viel zu »insular«, so muß man von den vorgeschlagenen Anwendungen des Prinzipes sagen, daß sie deutlich erkennbar den wohlbekannten Charakterstempel der deutschfeindlichen Ententeinteressen und besonders des englischen Imperialismus tragen.
So wird z. B. in der Morning Post vom 19. August 1915 die Forderung aufgestellt, daß, durch Zusammenlegung des russischen Polens, der Provinz Posen, Westpreußens, wenigstens des südlichen Ostpreußens und des nördlichen Teiles des österreichischen Galiziens, Polen wieder neu entstehe und dann unter Rußlands Oberhoheit gestellt werde – was in der Praxis ja nichts anderes bedeuten kann, als daß der Moskowiterimperialismus im Namen des Nationalitätsprinzipes die ganze polnische Nation verschlingen darf. Zugleich wird dann Rußland, infolge des starken Nationalitätsgemisches in den deutsch-polnischen Grenzgebieten, unabänderlich eine Masse deutschen Landes und eine Menge deutscher Bevölkerung beschlagnahmen und seine strategische Grenze gegen das Deutsche Reich in höchstem Grade verbessern. Die Entfernung von dieser Grenze bis Berlin würde sich dann ungefähr mit der zwischen Berlin und Stettin oder der zwischen Berlin und Leipzig decken.
Ferner verlangt die Morning Post, auf Kosten der Habsburger Monarchie, die Errichtung eines serbischen und eines rumänischen nationalen Grenzstaates – und die Vereinigung beider mit Bulgarien und Griechenland zu einem neuen Balkanbunde. Dieser letztere soll offenbar zweien imperialistischen Zwecken Englands dienen – nämlich Deutschland und Österreich von der Levante absperren und Rußland die Besitzergreifung Konstantinopels erschweren, wenigstens solange, bis es der panslawistischen Diplomatie geglückt ist, die slawischen Mitglieder jenes neuen Balkanbundes gründlich in ihrem Netze zu verstricken. Dies bißchen Unwillfährigkeit gegen den Panslawismus dürfte auch nicht allzu ernst gemeint sein. Denn sicherlich muß sich ein Realpolitiker wie der Schriftleiter der Morning Post klargemacht haben, daß Rußland unerbittlich auf alle slawischen Nationalstaaten als seine Vasallen Anspruch erhebt und daß ein siegreiches Rußland sich diesmal nicht durch Frankreich und England Konstantinopel und Kleinasien vorenthalten läßt. Doch die schließliche Abrechnung mit Rußland läßt der Engländer aus gewichtigen Gründen gern in den Hintergrund treten, wenn er beweisen soll, daß er sein Friedensideal auf heiliger Ehrfurcht vor dem Grundsatze der politischen Selbständigkeit jeder Nation und auf dem Prinzipe des Machtgleichgewichtes zwischen den Staaten des europäischen Festlandes aufbaut. Dem Lebenswillen der russischen, moskowitisch-panslawistisch regierten Festlandsmacht ist der Begriff »Gleichgewicht« zu Lande eine genau ebenso klare Selbstverneinung wie England der Begriff des Machtgleichgewichtes zur See.
Professor Kjellén berechnet, daß Deutschlands Verlust (hauptsächlich an die russische Machtsphäre) durch die englische Anwendung des Nationalitätsprinzipes 7 Millionen Einwohner und 100 000 Quadratkilometer Landes betragen würde, der Österreichs aber sogar 16 Millionen Einwohner und 270 000 Quadratkilometer Landes. Wenn man hiermit das Programm der »Zertrümmerung des deutschen Militarismus«, der Beseitigung der deutschen Flotte, der Wegnahme der deutschen Kolonien, der Zerstörung der deutschen Industrieanlagen und der künftigen handelspolitischen Isolierung Deutschlands vergleicht, so kann es, allem Anschein nach, Zweifeln unterworfen sein, welche der beiden Methoden – die Anwendung des »idealistischen« Nationalitätsprinzipes oder die des »realistischen« Zertrümmerungs- und Annexionsprinzipes – die Deutschen auf die fernstmögliche Zukunft hin am gründlichsten aus der Reihe der weltgeschichtlich mitbestimmenden Völker ausrangieren würde.
Sooft unser neutraler Ententefreund Herr Branting irgendeine Bestätigung seiner düsteren Ahnungen über das Vorhandensein eines deutschen Imperialismus, der wenigstens gewisse koloniale Landerweiterungen fordert und daher mit der Möglichkeit irgendwelcher Annexionen oder Eroberungen rechnet, wahrnimmt, gerät er jedesmal in einen Paroxysmus des Entsetzens über den deutschen »Militarismus« und seine »Weltreich«gelüste. Dieser Anhänger eines wissenschaftlichen Sozialismus und der materialistischen Gesellschaftsauffassung Marrens hat sich während des Weltkrieges der neutralen, naheliegenden Reflexion unfähig erwiesen, daß dieselben weltgeschichtlichen Entwicklungsgesetze, die Englands, Frankreichs und Rußlands kriegerischen kolonialen Imperialismus bedingt haben, ein ähnliches Streben auch bei Deutschland bedingen und legitimieren dürften. Weshalb der Weltkrieg sich auch durch genügendes Berücksichtigen dieses Umstandes – besonders von seiten Englands, aber auch von Frankreichs und Rußlands Seite – hätte vermeiden lassen.
Ich möchte deshalb Herrn Branting und Gleichgesinnten anempfehlen, ein wenig über die Äußerungen in der Kriegsdiskussion, worin diese selbstverständlichen, aber der leitenden englischen, französischen und russischen Staatskunst viel zu fremden Gesichtspunkte endlich zu ihrem Rechte kommen, nachzudenken. Natürlich keine deutschen oder deutschfreundlichen Äußerungen – denn, wenn ein Rohrbach, ein Ruedorffer oder ein Delbrück spricht, so gerät Herr Branting sofort in Wut über die brutale deutsche »Machtpolitik«. Aber es gibt andere, die einem Ententedemokraten angenehmer sein müssen. Man nehme zum Beispiel folgenden Ausspruch des Engländers H. N. Brailsford, der Mitglied der » Union of Democratic Control« ist, in The Nation Ich zitiere nach der Zeitung Nya Dagligt Allehanda vom 15. Januar 1916. Die gesperrt gedruckten Stellen waren so in der Zeitung gedruckt.
Vor allem wünschen wir einen dauerhaften Frieden. Die Ursache des Krieges war, daß die verschiedenen Staaten Europas sich mit Absichten auf territoriale Erweiterung trugen, die sich ohne Krieg nicht verwirklichen ließen, da unseren heutigen Staaten bei derartigen, oft berechtigten Wünschen kein anderer Ausweg bleibt. Deutschland strebte nach kolonialer Erweiterung, die Südslawen und die Italiener nach Vereinigung ihrer Nationalitäten auf Kosten Österreichs, die Franzosen nach der Wiedererlangung Elsaß-Lothringens und Rußland nach Konstantinopel. Europas künftige Ruhe wird von dem Grade abhängen, in welchem diese Ziele sich durch den Krieg verwirklichen lassen. Sollten die Deutschen verlieren, so werden sie doch die Eigenschaften ihrer Rasse behalten, ihre wissenschaftliche Beanlagung, ihre weitverbreitete Bildung, ihre Disziplin und ihre ungeheuere Volksvermehrung. Auch ein besiegtes Deutschland wird sich immer mit der Frage beschäftigen, weshalb denn Deutschland allein unter allen den großen europäischen Nationen sein Anteil an den Landerwerbungen in den anderen Weltteilen vorenthalten bleiben solle. Muß Frankreich unbedingt auch Syrien haben, weil es schon Algier, Tunis und Marokko besitzt? Und müssen wir Engländer unbedingt auch Mesopotamien erhalten, weil wir schon Indien, Birma, Südpersien und Ägypten haben? Deutschlands Forderung, sich im nahen Osten auszudehnen, ist durchaus ebenso berechtigt wie die Erweiterungsbestrebungen der Entente in Marokko, Persien, Ägypten, Tripolis, der Mandschurei und Korea. Wir müssen das deutsche Trachten nach wirtschaftlicher Entwicklung in unseren Berechnungen als eine bestehende Kraft, die nach Veränderungen strebt und die Ruhe der Welt bedrohen muß, berücksichtigen.
»Unter solchen Verhältnissen läßt sich der Weltfriede nur dann erreichen, wenn das Veränderungsbedürfnis der verschiedenen Nationen befriedigt wird. Ein Sieg, der auf der anderen Seite Groll und Zorn hinterläßt, oder eine unentschiedene Partie, aus welcher beide Spieler mit genügender Kraft, um gegenseitig die Erfüllung ihrer Wünsche vollständig zu hindern, hervorgingen, würde trübe Friedensaussichten erschließen. Eine dauernde Lösung ist nicht möglich ohne einen Frieden, bei welchem jede Partei sich ehrlich bemüht, nicht nur das Ziel ihrer eigenen Wünsche zu erreichen, sondern auch im Interesse des Friedens die des Feindes berücksichtigt.
»Ein patriotischer Engländer muß demgemäß danach streben, daß die Ententeseite bei einem Friedensschlusse das Nationalitätsprinzip durchführt, aber auch danach, daß Deutschlands Bedürfnis einer wirtschaftlichen und industriellen Expansion geachtet wird. Deutschlands kolossale Energie muß einen Abfluß haben. Das den Staatsmännern der Welt vorliegende große Problem besteht darin, daß sie für jenen mächtigen Strom ein Strombett finden, worin er fließen kann, ohne die Welt zu verheeren. Wenn Deutschland keine Eisenbahnschienen für Bagdad herstellen kann, dann gießt es Kanonen in Essen. Wenn die Kräfte auf beiden Seiten ungefähr gleich sind, so werden wir aus einem Friedensschlusse um so stärker hervorgehen, je mehr wir Rücksicht auf unseren Feind genommen haben. Deutschlands Bestrebungen können befriedigt werden, wenn wir ihm die politische und wirtschaftliche Herrschaft in der Türkei überlassen. Die Türken haben ihr Schicksal selbst gewählt; viele dürften in der Wahl eine gerechte Strafe für ihre Sünden in vergangenen Zeiten sehen. Zu einer solchen Oberherrschaft würde die freie Benutzung gewisser Eisenbahnen und Häfen des Balkans gehören, nicht aber die Unterwerfung der Balkanvölker. Andererseits müßte Deutschland Garantien gegen seinen Militarismus geben, und wir hätten unsererseits unseren eigenen Marinismus einzuschränken. Deutschland müßte ein permanentes System der Lösung aller Streitfragen durch Schiedsgericht annehmen. Auf diese Weise ließe sich die elsässische, serbische, polnische Frage, und natürlich auch die belgische, dem Nationalitätsgrundsatze gemäß lösen. Hierdurch würde Europa dauernd zur Ruhe kommen. Es dürfte schwer zu beweisen sein, daß eine deutsche Türkei eine größere Bedrohung der Freiheit der Welt wäre als ein britisches Indien.«
Vielleicht werden sich Herr Branting und Gleichgesinnte, nachdem sie ein derartiges englisches Dokument durchgelesen haben, zu dem Eingeständnis gezwungen sehen, daß sie in gewissen Punkten viel weniger neutral sind als einige unter den Kriegführenden und daß dieser merkwürdige Umstand auf Vorurteil (gegen Deutschland) und Unkenntnis (der universalen Grundfakta der Großstaatsentwicklung in der Gegenwart) zurückzuführen ist.