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Wer wissen will, wie echtdeutsche Selbstkritik – im Gegensatz zu der unechten des J'accuse- Mannes – in Kriegszeiten aussieht, der lese Hugo Preuß und Alfred Weber. Wer wissen will, wie ein Deutscher in Kriegszeiten die Feinde seines Landes beurteilen kann, der lese Karl Joel, Neue Weltkultur Leipzig 1915., Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg Leipzig 1915. und Karl Leuthner, Russischer Volksimperialismus Leipzig 1915..
Schelers geniales Buch war schon Mitte November 1914 abgeschlossen und trägt alle Spuren der ungeheueren geistigen Spannung der ersten Kriegsmonate. Dies aber hat der Verfasser sich selbst nicht verhehlt. Er schreibt darüber in seiner Vorrede:
»Schon jetzt fürchte ich, daß die leidenschaftliche Bewegung des Gemütes, in der dieses Buch geboren wurde – wie oft legte ich die Feder von ihr gefangen zur Seite – in Urteilen über Personen und Völker über berechtigte Grenzen hinausgeführt habe. Ist es der Fall, so bitte ich die Betroffenen ob meiner großen Geistesenge um Verzeihung.
Noch mehr fürchte ich, daß – aufrichtig gemessen an den Ideen eines absolut Wahren und Guten, an denen jeder Mensch seine Gedanken und Forderungen messen sollte – zu dem also Wahren und Rechten dieses Buches sich viel also Falsches und Unrechtes eingeschlichen haben werde. Dann hoffe ich, daß Gott das Wahre und Rechte mit seinen Händen halten, schirmen und zur Kraft des Lebens werden, das Falsche aber, das ich sagte, so bald wie möglich wie Spreu im Winde verwehen lassen möge.«
Schelers Buch ist in erster Reihe eine Wertung der Sache Deutschlands in Beziehung auf die Sache Englands und Rußlands und erst in zweiter Linie eine Gegenüberstellung der deutschen Sache und der Frankreichs. Die Grundstimmung sei durch einige Einzelanführungen angedeutet.
»Herr Romain Rolland schrieb in seinem Briefe an Herrn Gerhart Hauptmann: ›Der Franzose glaubt nicht an das Fatum, das Fatum ist die Entschuldigung der Schwachen.‹ Er deckt mit diesem Satze, ohne es zu wissen, nur das Prinzip der frechen unheiligen Willkür auf, das die französische Geschichte seit der Französischen Revolution – in dem sie klassisch wurde – regiert! Umgekehrt gilt: Wie nur der starke und große Mensch ein echtes ›Schicksal‹ hat, so auch gerade das starke, große, vor den inneren Notwendigkeiten seiner Geschichte ehrfürchtige und den tiefen Weisungen seiner inneren Konstitution über alle momentanen Opportunitätszwecke, etwaige Regierungs- und Diplomatenwillkür hinaus folgende Volk. Eben die Schicksalsmäßigkeit des deutsch-englischen Krieges ist es, die den Krieg zu einem ›gerechten‹ Kriege macht; und vor der die törichten Anklagen von Personen voll Ehrfurcht verstummen sollten, Anklagen, die einen so großen Raum hüben und drüben einnehmen Op. cit., S. 191-192.!«
»Wenn es einen berechtigten und tiefen Zweifel gibt über das Vorhandensein der Kriterien des ›gerechten Krieges‹ in diesem Kriege, so kann er ernstlich allein den deutsch-französischen Teilkrieg betreffen. Daß hier Gegensätze und Machtkonflikte fehlen, wie sie im russisch-deutsch-österreichischen und deutsch-englischen Kriege vorhanden sind, – das sieht jeder Op. cit., S. 193..« »Die Wiedergewinnung eines durch kriegerische Gewalt eroberten Landesteiles, über dessen rechtmäßige Zugehörigkeit zu den beiden in Frage kommenden Staaten bei dessen Bewohnern grundverschiedene Rechtsauffassungen dauernd obwalten, kann – der inneren qualitativen Natur des Konfliktes zufolge – einen kriegsgewichtigen Gegensatz bilden Op. cit., S. 194..« Liegt nun ein solcher hinsichtlich Elsaß-Lothringens vor? Scheler meint, daß dies nicht der Fall sei. Vor liege nur »die in die alte romanisch-germanische Rassenfremdheit eingebettete Revancheidee«. »Nun aber ist nichts klarer,« fährt er fort, »als daß ein purer ›Revanchekrieg‹ ein absoluter sittlicher Nonsens ist.« Es sei »der Gipfelpunkt des politischen Verbrechens«, diese in verletzter Eitelkeit wurzelnde und zum niedrigen Rachegefühl herabgesunkene Idee zum leitenden Grundgedanken »eines großen, in seinen Kulturleistungen bewunderungswürdigen Volkes« zu machen, anstatt sie höchstens zu einem nebensächlichen Faktor im politischen Leben werden zu lassen, »zu einem untergeordneten Bedürfnis, das gelegentlich einmal, wenn es ernste positive Zwecke erlauben und sich die Sache in sie einfügt, befriedigt werden kann Op. cit., S. 196..«
Hieran knüpft Scheler einige wahre Worte über die der eigenen Seele Frankreichs drohende Gefahr, daß »die Koketterie mit dem Zarismus« sich durch den unwiderstehlichen Druck der Weltbegebenheiten in eine zu intime geistige Zwangsgemeinschaft verwandeln könne und so zu einer nicht nur Frankreich, sondern dem festländischen Europa überhaupt lebensgefährlichen Machterweiterung »nicht etwa des Slawentums in toto, wohl aber jenes tiefen Zusammenhanges, den griechische Orthodoxie, Zäsaropapismus, Byzantinismus, religiöser Quietismus, Knute und Schnaps – miteinander bilden Op. cit., S. 208-210.«, führen werde.
Scheler beklagt das geschichtlich unvermeidliche Unglück, daß Deutschland soviel besser zu einem Kriege gegen Frankreich vorbereitet gewesen sei, als zu einem Kriege gegen Rußland oder gar gegen England, und daß Deutschlands militärischer Verteidigungskampf sich daher vielleicht energischer gegen Frankreich richten werde, als politisch richtig sei Op. cit., S. 211..
Ich habe ein Gesicht, das grausigste, das sich die Phantasie nur ersinnen kann«, sagt Scheler an anderer Stelle. »Diese herrliche Erdkugel schließlich aufgeteilt in drei große Reiche: in ein großes mongolisches Reich unter Japans Führung und unter Japans Devise ›Asien für Asien‹; in ein über den Westen expandiertes russisches Reich, in das sich vielleicht europäische Kultur dinge, nicht sie frei schaffende Kulturkräfte noch hineinretten könnten, und ein mehr oder weniger mechanisiertes Amerika, das ohne das europäische Vorbild und ohne Europas ewig mahnendes Gewissen sich allein seinen spezifischen, nur allzu ›spezifischen‹ Begabungen überließe! Op. cit., S. 248.«
»Zwei Einstellungen«, sagt er weiter Op. cit., S. 297-299., »scheinen mir für die Feststellung des Verhältnisses der Spannweite des europäischen Geistes zum Russentum besonders verderblich. Erstens die Auffassung Rußlands als nur einer ›Nation‹ unter anderen Nationen analog Deutschland, Frankreich, England; zweitens die Teilung in ein europäisiertes und asiatisches mongolischtatarisches Rußland – eine Scheidung, die man von der harmlosen eines europäischen und asiatischen Rußlands im geographischen Sinne wohl scheiden möge.«
»Was das erstere betrifft, so hat aber Rußland sicher nicht nur den Wert einer Nation, sondern mindestens den Wert eines Kulturkreises, so wie Westeuropa als Ganzes selbst wieder einen Kulturkreis darstellt. Es heißt also Rußland in einem Sinne schon unterschätzen, wenn man es eine ›Nation‹ nennt. Aber in einem anderen Sinne heißt es auch Rußland erheblich überschätzen.«
»Nation« sei ein westeuropäischer Kulturbegriff. Das bunte Völkerkonglomerat des Russenreiches ermangle der geistigen Entwicklung, die zu dem Begriffe »Nation« gehöre. Und die höhere und höchste Bildung sei in Rußland nicht national, sondern kosmopolitischer und internationalistischer als in irgend einem anderen Lande. »Rußland besteht also weder aus Nationen wie Österreich – noch ist es selbst eine Nation.« Der »Panslawismus« sei teils Orthodoxie, Byzantinismus und Zarismus, teils eine dem Westen entlehnte Idee.
Es gibt, nach seelischem Maßstabe, wirklich nicht ein europäisches und ein asiatisches Rußland, sondern nur ein geistig einheitliches, wenn auch ethnisch buntes Russenreich mit einem dem eigentlichen Europa fremden Geistes- und Kulturtypus. Die Grenze zwischen europäischer und russischer (asiatischer) Geistigkeit liegt nicht in der Uralgegend, sondern dort, wo west- und südslawische Völker die Tendenz zeigen, sich geistig in Europäer zu verwandeln.
Scheler hat seinem Buche eine umfangreiche Studie » Zur Psychologie des englischen Ethos und des › cant‹« als Anhang hinzugefügt. Sie scheint mir das Gründlichste und Scharfsinnigste alles dessen zu sein, was über diesen in der ganzen Welt viel besprochenen und für alle Welt sehr bedeutungsvollen Gegenstand geschrieben worden ist.
Die Gesichtspunkte erinnern in vielem an unsern lieben George Bernard Shaw, der auch eine oft angeführte Autorität ist – gleich den englischen Philosophen von Bacon, Locke, Hobbes, Berkeley, Hume und Smith bis zu James Mill, John St. Mill und Carlyle und gleich englischen Dichtern von Shelley und Byron bis auf Oscar Wilde und Meredith, nebst Schriftstellern wie Chesterton.
Ein Zusammenhang zwischen dem Weltkriege und dieser interessanten völkerpsychologischen Untersuchung liegt ja in den während des Weltkrieges veröffentlichten Aussprüchen englischer Staatsmänner, Gelehrter und Journalisten über die materielle Bedeutung dieses Krieges, sowie über die ideellen und materiellen Gründe, die England zur Beteiligung daran bewegt haben, in allerreichstem Maße vor. Scheler findet die Anknüpfung vor allem in einer zusammenfassenden Kundgebung in dem von den members of the Oxford faculty of modern history herausgegebenen Buche: Why we are at war, Great Britain's case Oxford 1914., worin folgendes steht S. 116-117.: » It is true that we are fighting for our own interests. But what is our interest? We are fighting for Right, because Right is our supreme interest.«
Scheler fragt sich nun und sucht die Frage zu beantworten: »Wie konnte dieser ›alte englische Gedanke‹ (› the old – the very old – English political theory‹) – wie dieser Glaube entstehen? Wie Dauer gewinnen, wie in England herrschen?«
Die Frage hat ja, seitdem die Oxfordhistoriker Ende 1914 ihr Kriegsbuch erscheinen ließen, bedeutend an Aktualität gewonnen. England kämpft, nach Aussage dieser Gelehrten, teils für das internationale Recht, teils aus dem Grunde, weil die Engländer ein Volk seien, »in dessen Blute die Sache der Gesetzlichkeit das Lebenselement ist«, teils aber deshalb, weil die Gesetzlichkeit im Verkehr der Nationen »Englands höchstes Interesse ist«.
Der Ausgangspunkt ist demnach die kluge Annahme oder der blinde Glaube, daß die Sache der internationalen Gesetzlichkeit, des »Rechtes«, immer mit den Lebensinteressen Englands harmonisiere, so daß England nie in eine Lage kommen kann, in welcher ihm sein Lebensinteresse geböte, internationale Ungesetzlichkeiten zu begehen, internationales Recht zu verletzen und sich gegen das »Recht« zu versündigen.
Doch, meine Herren members of the Oxford faculty of modern history, nehmen wir einen Augenblick – for the sake of argument – an, daß diese prästabilierte göttliche Harmonie zwischen dem Interesse Englands, sein Leben zu schützen, einerseits und dem Inhalte sowie den Vorschriften des »Rechtes« andrerseits gestört würde! Dann knackte natürlich die göttliche Weltordnung in ihren vitalsten Fugen. Dennoch soll es in der Geschichte der Menschheit schon vorgekommen sein – oder was sagt the Oxford faculty of modern history?
Nun gut – was tut England in diesem angenommenen Falle? Hilft es freiwillig dabei, sich den Hals abschneiden, um the public law of Europe zu verteidigen? Oder beginnt England in dieser »unharmonischen« Weltlage the public law of Europe zu drehen und zu wenden? Gerade so viel, wie nötig ist? Das heißt: wie nötig ist, damit das von England auf diese Weise mehr oder weniger glimpflich und willkürlich korrigierte public law of Europe wieder mit » our interest«, » our own interests« harmoniere?
Ist dies die Art und Weise, wie the public law of Europe zu entstehen pflegt? Und erklärt diese Tatsache das Bestehen der ewigen Harmonie zwischen dem »Rechte« und den »Interessen« Englands?
Ja, – welch ein Licht wirft nun, nach Ansicht der Oxford faculty of modern history, das Stück modern history, das sich seit Ende 1914 auf der Weltbühne abgespielt hat, auf diese interessante Frage?
Wenn wir Antwort auf diese Frage erhalten haben, dann sind wir ohne Zweifel im Besitze neuen, wertvollen Materiales zur Beleuchtung der Frage, mit deren Behandlung Max Scheler sein lesenswertes Buch abschließt.
So explosiv Scheler in seinem Genius des Krieges ist, so sanft, obgleich nicht weniger genial, ist Karl Joel in seinem Buche Neue Weltkultur – das auf wunde Herzen in allen Ländern wie Balsam wirken können muß, ohne darum die Forderung strenger Wissenschaftlichkeit und Wahrheit unbefriedigt zu lassen.
»Wahrlich, in diesem Kriege gilt es mehr als Güter und Schätze der Menschen, mehr als das Leben der einzelnen, mehr als das Sein oder Nichtsein der Völker, in diesem Kriege geht es zuletzt um die Weltordnung. Wer wird siegen? Das Recht oder die Macht, die Werte oder die Triebe, die Ideale oder die Egoismen der Völker, die Freiheit oder die Knechtschaft, die Ordnung oder die Zerstörung, kurz die Kultur oder die Barbarei, religiös gesprochen, Gott oder die Natur, die oft so teuflische? Es geht um das Ziel der Menschheit, um den Sinn der Geschichte, der verloren ist, wenn sie rückwärts schreitet Op. cit., S. 3..«
In der Menschenseele kämpfen zwei geistige Urkräfte. Der unbegrenzt expansive, nach außen gerichtete und sich nach außen hingebende Lebenswille, der »Absolutismus«. Und der nach innen, auf das Ich selbst gerichtete, sich in ihm einkapselnde und nach der Selbständigkeit des Ichs strebende Lebenswille, der »Individualismus«, der »Egoismus«. Im »Absolutismus« liegt der Wille zur Staatsbildung, zur Staatserweiterung, zum Imperialismus und zu universaler einheitlicher Organisation der Menschheit. Im »Individualismus« kämpft die persönliche Freiheitsbegierde gegen staatliche und soziale Fesseln.
Die höchste Kraft der Menschheit ist die harmonische Vereinigung des »absolutistischen« Lebenswillens mit dem »individualistischen« und ihr gemeinsames Wirken. Doch die Völker sind einander hinsichtlich des Maßes ihrer Anteile an diesen Lebenstendenzen und in der Art der Spezialisierung dieser Tendenzen in tiefgehendster Weise ungleich. Daher gestaltet sich der Machtkampf zwischen den Völkern zu einem Kampfe, der darüber entscheiden soll, ob die eine der beiden großen Lebenstendenzen oder die andere die Menschheit beherrschen wird, oder zu dem Streben eines bestimmten Volkes oder gewisser Völker, die eine Lebenslinie – meistens die »absolutistische« – zu monopolisieren. Dieser Grundzug der Weltgeschichte ist auch der Grundzug des Weltkrieges.
»Nach Gründung gewaltiger Kolonialreiche haben französischer ›Nationalismus‹, englischer ›Imperialismus‹ und russischer ›Panslawismus‹ Deutschland als ›weltbedrohende Militärdespotie‹ dem Fluch der Völker und den Waffen der halben Erde überantwortet. Und Deutschland muß sich nun wehren gegen den Kaiser von Indien und gegen die Schatten Peters des Großen, Ludwigs XIV. und Napoleons Op. cit., S. 11-12..«
Rußland. – »Man sieht meist in Rußland zu sehr nur das Unentwickelte und nicht auch das Fremdartige; man sieht nicht, wieviel Asien hier in Europa hineinspricht, wieviel Asien mit seiner dumpfen Mongolei, wieviel Asien auch mit seiner besten Mitgift, mit seiner Glaubenskraft. Aller Glaube aber ist absolut, und Rußlands Seele lechzt blindlings ins Absolute – – – . Nicht erst der Zar, nein, schon die russische Seele, die ihr ›Väterchen‹ auf Händen trägt, ist absolut. Statt intensiver Kultur sucht sie unendliche Expansion bis zur Allumfassung.«
Schwärmerei, Zügellosigkeit, Fanatismus, Fatalismus, blinde Unterwerfung, blinder Aufruhr, geniales Geschwätz bis ins Unendliche, Nitschewo, wo es auf Handeln und Moral ankommt – das ist die russische Seele, eine Seele der welterobernden Horden, aber keine Seele der Kultur. Zu wirklicher Kultur reicht der Individualismus des Russen nicht aus. Er ist zu wenig Persönlichkeit, zu sehr formloser Massenmensch – bald liebenswürdig, bald bestialisch, wie der Massenmensch immer ist, und immer unzuverlässig, immer bestechlich, immer ein moralisches Nitschewo.
Frankreich. – »Ja, der Absolutismus blieb religiös, politisch, philosophisch, wissenschaftlich die Dominante Frankreichs, die große Linie, von der seine kühnsten Geister ausbogen, zu der sie aber meist reuig zurückkehrten wie der Sünder ins Kloster.«
»Doch unter all diesem hierarchischen und monarchischen Absolutismus wucherte ein beweglicher Individualismus fort und schuf erst das Problem Frankreichs und seine Kultur. Denn eben der Absolutismus gab die einheitliche Form, die klare Bahn, den festen Stil und darin den hocherziehlichen Zwang, der nun die Individuen zu heißerem persönlichen Wetteifer sammelte und stachelte und ihnen dabei nur Betätigung ließ in immer zarterer, schmiegsamerer Verfeinerung von Geist und Leben, in der schließlich Frankreich alle Völker der Erde übertraf Op. cit., S. 21-22..«
Keine Genies allergrößten Maßes. Aber viele feine geniale Geister vornehmen zweiten Ranges. »Wir haben keinen Faust und keinen Hamlet, aber wir haben die Briefe der Madame de Sévigné«, sagt der fromme Brunetière. Die Kultur, der Individualismus, hat in Frankreich einen weiblichen Charakter. Die männliche Kraft der Nation finden wir in Staat und Kirche in der starken Zentralisation der Staatsverwaltung und der Kulturinstitutionen, in der unausrottbaren Sucht, innerhalb der Machtgesellschaft der Staaten den grand seigneur zu spielen. Doch auch in diese Lebenssphäre spielen die weiblichen Charakterzüge hinein – was französische Revanchepolitik und französische Gloirepolitik genugsam bezeugen.
England. – »Schreckliches Volk, klagt ein französischer Kardinal in England: hundert Sekten und nur eine Soße! Op. cit., S. 26.« Der Arme war in seinem sektenlosen, in religiöser Hinsicht absolutistisch wohlgeordneten Lande daran gewöhnt, den ewigen mouton auf hundert verschiedene Weisen zu essen, weil ihm hundert verschiedene Soßen zur Verfügung standen. Der ernstgemeinte englische Individualismus erschreckte ihn. Er kannte den Individualismus nur als kulinarische Würze – in der Küche, in der Kultur, im Gesellschaftsleben.
»Der altenglische Individualismus, der zuerst den Absolutismus stürzte, aber auch weiterhin alle Staatsmacht und alle Uniform möglichst von sich schob, hat zweifellos der Neuzeit die Fahne der Freiheit vorangetragen und hat die Ideen gebildet, die Frankreichs Aufklärung und Revolution in Flammenschrift für Europa verkündeten; aber er hat dabei die Freiheit nicht im französischen Sinne als Gleichheit oder als bloße Empörung, sondern positiv als Selbständigkeit entfaltet und hat im Engländer das wahrhaft plastische Bild des freien Kraftträgers geschaffen. Und dieser Individualismus hat Kultur geschaffen; denn die Kultur braucht die Freiheit, weil sie aus dem Individuum wächst.«
»Und doch! Jener freie Kraftträger, der so erstaunlich früh fertig ward, ist stehengeblieben und gleicht oft in aller Tüchtigkeit einem hochgewachsenen Jungen, der nicht zur letzten inneren Reife, zur väterlichen Verantwortlichkeit kam Op. cit., S. 29..«
Der englische Individualismus vertrocknet zu Egoismus, kehrt – das schon Vorhandene bewahrend – der geistigen Kultur den Rücken und konzentriert seine Kraft auf das materielle Arbeitsgebiet. »Der bloße Individualismus ergibt einen Egoismus, der seelisch leer und träge wird, der nur seine leiblichen Güter steigert, sich in Sport und Kleidung, Komfort und Reichtum ausladet und wesentlich eine athletische und hygienische, technische und ökonomische Kultur erschafft, in der England der Meister Europas ward.«
»Und dieses Volk der Pairs (ideal gesprochen) oder (real gesprochen) dieses Volk der Kaufleute hat nun das Netz des Weltreichs nur lose über die Völker geworfen, nur als geltende Handelsgemeinschaft, die unter Wahrung äußerer Formen Gewinn erzielt. Und dieses größte Kolonisationsvolk der Erde und der Geschichte hat vorzüglich eine äußere Kultur der noblen Sitte und der praktischen Mittel verbreitet und zwingt durch seine selbstherrliche Kraft Millionen, seine Art zu achten, seiner Form sich zu beugen; aber während es sich in den Mantel seiner Tugend hüllt, öffnet es nicht sein Herz, das doch Byronscher Glut fähig war, will es weder lernen, noch bekehren, läßt es die Menschen und die Völker frei und kalt und greift nur an ihre Wirtschaft und stiftet kein inneres Band – wie es kein geistiges System mehr baut, weil es im Einzelnen und Endlichen, im Materiellen und Praktischen hängenbleibt, weil es in seinen Denkern sich als ›agnostisch‹ bekennt, und das heißt als blind gegen das Absolute, weil es keinen Himmel über sich schaut, dem es sich opfern will.« » Aus Liebe zu sich selbst erschlug er sich« – schreibt George Meredith in seinem großen Werke »Der Egoist« Op. cit., S. 39-40..
Deutschland. – Deutschland geht bekanntlich nicht nur auf Welteroberung aus. Daß Deutschlands Kriegführung barbarisch und nutzlos verwüstend und eine bestialische Grausamkeit nur um der Grausamkeit und Verängstigung selbst willen sei – das wird tagtäglich energisch von allen seinen vielen Feinden verkündet.
Teils kommen sie mit Beweisen – die doch wohl von anderen als ihnen selber nachgeprüft werden müßten. Mit Beweisen, die sich so oft als ganz falsch, ja als nackte Fälschungen oder als in wesentlichen Teilen grundfalsch herausgestellt haben, so daß die Nachprüfungsarbeit eine Riesenarbeit mit beständig wachsenden Dimensionen geworden ist.
Teils urteilen sie a priori. Der Deutsche ist immer der Barbar gewesen. Was wir jetzt erleben, das hätte man vorhersagen können.
Neben diesem a-priori-Argumente des Feindes steht ein zweites. Es kommt von einer Klasse geistig sehr »hochstehender« Neutraler. Und hier lautet es so: der Deutsche ist ebenso grausam wie seine Feinde. Alle Kriegführenden sind gleich grausam. Das Vorgehen des Deutschen in Belgien muß, dieser Theorie a priori zufolge, mindestens ebenso scheußlich gewesen sein wie das des Russen in Ostpreußen.
»Wer aber a priori urteilen will,« schreibt Joel Op. cit., S. 39/40., »muß sich doch fragen, ob der Deutsche auch nur einen der Antriebe zur Grausamkeit mitbringt: Zügellosigkeit oder Unbildung oder Leidenschaftlichkeit oder Haß gegen die Länder, in denen er kämpft. Doch, wenn der Deutsche nach einer Richtung hin fanatisch ist, so ist er's doch gerade in der Disziplin, und wenn er einen statistisch erweislichen Vorzug hat, so ist es die am weitesten durchgehende Schulbildung, und wenn er gegenüber romanischen und slawischen Völkern einen Mangel hat, so ist es vielleicht der an Temperament und impulsiver Leidenschaftlichkeit, und er haßt weder Russen noch Belgier, und er liebt beinahe Frankreich.«
»Wer aber lieber a posteriori urteilt und die Erfahrung der Geschichte zum Zeugen ruft, der muß sich doch wohl wundern, daß gerade eine Nation barbarisch sein soll, die wohl wie alle anderen ihre barbarische Urzeit hatte, die noch im Dreißigjährigen Kriege eine Blütezeit der Greuel hatte, als sie, wie Leibniz sagt, fremden Blutvergießens Materie war, die aber seitdem eher ein erstaunlich unblutiges ›unfanatisches‹ Geschichtsleben zeigt. Dieses Volk, dessen Revolution kaum soviel Hunderte Menschenleben kostete als die französische Hunderttausende, das kaum blutige Tyrannen und blutige Verschwörungen kannte, das nicht die Inquisition und nicht die Guillotine erfand, nicht die spanische Folter oder die neunschwänzige Katze, das keinen Alba und keinen Torquemada hatte, keinen Cesare Borgia, keinen Richard III. und keinen Iwan den Schrecklichen, keine Dragonaden, keine Sizilianische Vesper, keine Templerverbrennung, keine Bartholomäusnacht, keine Pulververschwörung, keine Strelitzen und Janitscharen, das auch in der Gegenwart keine Maffia und Camorra kennt, keine ›Briganten‹ und ›Apachen‹, keine Fürstenmorde, keine Kongogreuel, keine Pogrome, keine Nihilisten, keine ›Anarchisten der Tat‹ und keine Suffragetten, keine Vogelsteller ( à la Italien) oder Stierkämpfer – dieses Volk gerade soll sich heute der schlimmsten Grausamkeit schuldig machen?«
»Ist aber der Vorwurf der Barbarei ungerecht, dann ist er selber das barbarischste aller Kriegsmittel – – – ."
Mag man auch Deutschland selbst in seinem heutigen Lebenszustand, mag man die deutsche Realität noch so unvollkommen finden oder doch sie zu loben sich scheuen, die deutsche Idealität darf man preisen, weil sie vereinigt, was anderen ewig widersprechend erscheint, weil sie die Einheit sucht von Kraft und Ordnung, von Freiheit und Gesetz, von Selbstherrlichkeit und hingebendem Dienst, von Eigenheit und Allgemeinsinn, die Einheit eben von Individualismus und Absolutismus. Die Deutschen mußten zu Denkern werden, weil widersprechende Ideale in ihre Brust gelegt sind. Und das deutsche Denken wieder mußte sein Idealprinzip finden in der Einheit der Gegensätze Op. cit., S. 56..«
»Man richte jedes Volk in den Fehlern seiner Tugenden, aber man gönne ihm auch die Tugenden seiner Fehler. Das deutsche Wesen ist das verkannteste, weil es am schwersten faßbar ist wie das Lebendige selber, das nie fertig geformt ist, immer nur strebt und sich entwickelt Op. cit., S. 65..«
»Nicht aus dem ›Militarismus‹ ist das deutsche Wesen, sondern aus dem deutschen Wesen ist der ›Militarismus‹ zu verstehen, der nur eine stärkste notwendige Auszweigung ist jener organisierenden Kraft, die dieses Wesen zugleich in soviel anderen Formen entfaltet Op. cit., S. 79-80..«
»Ja, wie kein anderer ist dieser Krieg ein Kulturkrieg, der nicht wie andere nur dem Jahrhundert eine Furche ziehen, sondern ins Mark der Jahrtausende greifen und eine neue Erde bereiten wird.« Die Völker werden jetzt aus ihrer Selbstzufriedenheit aufgerüttelt werden und den geistigen Boden, den sie bisher brach haben liegen lassen, in Anbau nehmen, so daß die Harmonie zwischen den inneren Kräften der Volksseelen vollkommener werden wird, als sie vorher gewesen ist. Frankreich wird individualisierter werden, England weniger materialistisch und Deutschland reifer in seiner Synthese innerer Freiheit und äußerer Gesetzlichkeit, Selbständigkeit und Selbsthingabe Unter den deutschen Kriegsbüchern, die ich hier aus Raummangel nicht analysieren kann, möchte ich besonders auf folgende aufmerksam machen: Karl Nötzel, Der französische und der deutsche Geist. – Eduard Wechßler, Die Franzosen und Wir. – Karl Zimmermann, Das Problem Belgien. – Diedrich Bischoff, Deutsche Gesinnung. – Georg Misch, Vom Geist des Krieges. Sämtlich in Eugen Diederichs Verlag in Jena..