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An düstern Regentagen, wenn die Münchner unbeschäftigt sind, zanken sie gern. Sie zanken sich dann, wo es schöner sei, zu Partenkirchen oder zu Berchtesgaden usw. Vielmehr die Partenkirchner Münchner räsonieren über die Garmischer Münchner, wie sie es da drüben aushalten können, und die Garmischer wissen das ganz in ähnlicher Weise anzufangen und stellen die Partenkirchner als Leute dar, denen entweder Kopf oder Herz am unrechten Flecke sitze. In Aibling-Rosenheim erlebt man dasselbe wie in Traunstein-Reichenhall und in Garmisch-Partenkirchen. Über keinen Ort wird aber der Streit von allen Seiten her mit solcher Erbitterung geführt als über Tegernsee. »Unausstehlich!« schreien die einen – »wunderschön!« rufen die andern. Der eine, der einfache, stille, sparsame Sommerfrischler findet alles zu städtisch, zu geziert, zu vornehm; der andre, dessen Wiege in einem Salon gestanden, freut sich über die feinen Handschuhe, die schönen Toiletten, die rauschenden Roben und die rollenden Karossen, über die fremden Sprachen, die sein deutsches Ohr aufschlürft, und über die höfischen Manieren, die ihm selbst so heimisch sind. Ach! 's ist schwer zu wissen, was man sagen soll.
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Wenn man um diese Zeit durch Gmund fährt, sieht man nur die bekanntesten Münchener Köpfe zu den Fenstern herausschauen. Münchener Mütter wandeln auf den Altanen der Bauernhäuser; Münchener Fräulein jodeln aus den Dachluken; Münchener Kinder spielen den Franzosenkrieg auf den Gmunder Wiesen. Die Stadtwelt drängt jetzt furchtbar über ihre Mauern; jeder Torwart, jeder Milchmann geht aufs Land, und selbst die abgelegensten Berghöfe werden aufgesucht, um dort arkadisch zu leben und im Schatten der Holunderbüsche Trautmanns und anderer bayerischer Schriftsteller beliebteste Werke zu lesen. Also ist auch Gmund, das man früher nur teilnahmslos durchfuhr, an Ruhm und Ehre sehr ansehnlich in die Höhe gestiegen und hat selbst in der Ferne seine Verehrer, wie denn sogar August Lewald bereits zwei Sommerfrischen hier verbracht hat. Für viele gewinnt dieses Dörfchen schon dadurch einen großen Vorzug, daß es nicht Tegernsee ist, das städtische, vornehme Tegernsee, welches wegen seiner Üppigkeit von vielen ebenso gemieden als von manchen wegen seines wunderschönem Biers, seines bewegten Lebens und seiner herrlichen Landschaft gesucht wird – andere laben sich an unsrem Gmund, weil es den ersten reinen Vorschmack des Gebirges gewährt. Die Aussicht in die nahe Ebene ist durch einen grünen Hügelvorhang benommen – der See lächelt so reizend an schönen Sommertagen – rückwärts ansehnliche Berge – ringsum im kleinen traulichen Kreise freundlich winkende, zierliche Bauernhäuser – stattliche Kirche – reine Luft – das Dunkel des Waldes und das Rauschen der Mangfall – alles zusammen vereinigt sich zu einem sehr angenehmen, wenn auch nicht großartigen Ganzen.
Daß es da mitunter hoch hergeht, mag man schon aus dem großen sauberen Wirtshaus mit seinem Küchensalon und seiner ungeheuren Zechstube abnehmen. Ein Scheibenschießen knallte hier an uns vorüber in der alten Munterkeit. Abends spielte die Gebirgsschützenmusik ihre schönsten Stücke zu ihrem eigenen Vergnügen. Da sah man kostbare Blasinstrumente von jeder Größe und blasende Talente von fünfzehn Jahren bis ans Greisenalter – lauter Bauern, Bauernsöhne, Hirten, Bergleute und dergleichen, welche ihre schönen Weisen tüchtig eingeübt hatten und sie ganz freudenselig in die Mondscheinnacht hinausbliesen.
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Indessen, wer sich auf Reisen belehren will, darf nicht ewig in Gmund bleiben. Ein Ausflug nach Tegernsee ist gerade so nahe und so wichtig wie einer von Schwabing nach der Residenz. Es war an einem Sonntagmorgen, als ich alpenbedürftig vor der Post ankam. Ach, das sah aus wie ein Jahrmarkt, wo er am dichtesten ist! Ein halb Dutzend Stellwagen luden ihren mannigfaltigen Inhalt aus – verschiedene Equipagen rollten vor – etliche Sonntagsreiter mischten sich unter die Menge, die von einem Kranz von Schifferinnen, Wildbretschützen, Almerinnen und Landleuten aller Art malerisch umfangen war. Auch etliche Tirolerinnen machten ihre Aufwartung und waren mit Aprikosen wie andern Südfrüchten freundlich zur Hand. Die Kellner rannten, die Lakaien schwirrten, die Hausknechte brüllten. Viele Ankömmlinge standen ratlos in dem Wirrsal – ›kein Zimmer, kein Quartier, kein Bodenloch!‹ hieß es von allen Seiten. Desto sicherer drehte sich da um die eigene Achse ein unzerstörbarer Stock von wohlvermieteten Münchnern – lauter gute Leute, die zum Ausschiffen der Stellwagen herbeisputen wie die Kinder zur Wachtparade. Es ist so angenehm, sagt der alte Dichter, vom sichern Ufer aus dem Schiffbruch der andern zuzusehen. Diese Zuschauer gewährten auch in der Tat lauter angenehme Gesichter und schienen in der herrlichsten Sonntagslaune. Herr Oberleutenant, in der Stadt so vornehm, grüßte mich sogar. Viele andere gebildete Zivilpersonen von der Altane, von der Türstaffel herab taten desgleichen. Und wirklich, diese Blumenlese von lieben Bekannten, wer konnte sie nur im Traume ahnen! Sie ging weit über die kühnsten Wünsche. Hier der Herr Sekretär, dort der Herr Assessor, der Herr Bezirks-, der Herr Regierungs-, der Herr Appellations- und Oberappellationsrat, der Herr Staatsanwalt, der Herr Kommissär, der Herr Oberkommissär, der Herr Inspektor, der Herr Direktor, der Herr Konsistorialrat mit seinem christlich-germanischen Lächeln – auch der Herr Baron, der Herr Freiherr, der Herr Graf aus München waren da, alle in der Joppe und im ländlichsten Humor –, aber es war fast zu viel auf einmal, und wirklich überwältigend.
›Ach, lieber Gott‹, betete ich endlich, ›nur ein norddeutsches Gesicht, sei's ein Hannoveraner, ein Märker, ein Mecklenburger oder Pommer, nur einmal eine Abwechselung!‹ – Und übersättigt von der Süßigkeit taumelte ich fort an die Table d'hôte zu Guggemoos und kam unbewußt neben ein fremdartiges Hochzeitspaar aus Niedersachsen zu sitzen. Dieser günstige Zufall goß vorläufig Ruhe in mein beängstigtes Gemüt. So gibt's denn doch noch ein Fleckchen, dacht' ich mir, wo ihr nicht seid, ihr Lieben und Getreuen! Die junge Dame war schön und liebenswürdig, zum erstenmal im Gebirge und sonst auch ganz glücklich. Aus den reinen Augen lachte jene harmlose Seelengüte, die ich an den Frauen immer mehr schätzen lerne, je seltener ich sie in Wahrheit zu finden glaube. Hin und wieder sprachen wir etwas, hin und wieder auch nichts. Dieser geringe Verkehr stellte gleichwohl meine geistige Gesundheit wieder her. Als diese Tafel aufgehoben war, dachte ich mir: Noch einmal wag' ich's – und machte mich auf nach Egern.
Das freundliche Egern ist nur durch eine kleine Meerenge von Tegernsee getrennt, doch behauptet man, zwischen den Städtern oder Sommerfrischgästen von Egern und denen von Tegernsee sei ein ungeheurer Unterschied der Denkungsart, der Sitten und der Tracht. Wer einmal in Tegernsee sich eingewöhnt, passe seiner Lebetage nicht mehr nach Egern – und umgekehrt. Ein andermal werden wir vielleicht diese kulturhistorischen Rätsel näher untersuchen; heute wollen wir nur bemerken, daß auf jenem Gestade, wo die Fähre abstößt, an diesem Nachmittag sich fast immer mehr Seelen zusammenfanden, die nach dem Jenseits begehrten, als weiland um Charons schier zu oft zitierten Nachen.
Früher war den Wartenden gar kein Schirm vor Sonne oder Regen geboten, jetzt steht wenigstens ein hölzernes Vordach da, unter welchem wir den glühenden Strahlen auszuweichen suchten.
Da mir heute gar nichts zu Dank war, so dachte ich ärgerlicher Weise: Wären wir jetzt im alten Griechenland, so stünde hier eine reizende Stoa mit korinthischen Säulen, und auf der Hinterwand hätte Zeuxis mit seinem famosen Pinsel ein mythologisch-historisches Gemälde hingehaucht, etwa wie die klassisch gebildeten Mönche von Tegernsee und ihre Braumeister sich mit Tritonen, Nereiden und Delphinen im Wasser tummeln – im Hintergrund der Hirschberg mit seinen Gemsen!
Den Tegernseern wäre eine solche Pökile wohl auch schon genehm, wenn sie nur einen unentgeltlichen Zeuxis fänden.
Ich war schon wieder unversehens unter lauter Lieben, so daß ich nur in der goldenen Sonne, der herrlichen Landschaft, dem Blick auf die grünen Almen und den blauen See noch einigen Trost fand. Ach, du weiland stilles, idyllisches Egern, wie bist du so eigen geworden! Im See staken ein halbes Dutzend Bader, vielmehr Badende, männlichen Geschlechts natürlich, nur mit den Häuptern sichtbar, welche wie abgeschnitten auf den Wässern schwankten. Fräulein Crudelis fuhr schiffend dem Gestade entlang, mutterseelenallein in einem bemalten Kähnchen. Die Zephire hatten – ich weiß nicht wie – den Weg in ihre weiße Krinoline gefunden, welche sich wie ein Segel blähte, so daß sie nur milde durch die Seerosen hin zu steuern brauchte, was sie mit himmlischem Lächeln tat. Derweilen schallen aus allen Fenstern die kunstreichsten Klavierkonzerte – die Chansons d'amour, der Marsch aus dem Sommernachtstraum. Eine Zither schlägt den Elfenchor aus Oberon; Fräulein Amara jodelt: ›Zu dir zieht's mich hin‹ usw. mit jugendlichem Ungestüm, als wenn sie gar nicht mehr aufzuhalten wäre. Hin und wieder ein Trompetenstoß aus dem Wirtsgarten wie ein Posaunenschall aus einer andern Welt, und von der nächsten Wiese die Musik des Rindviehs, welche wir weit oben im Bergwald aus sentimentaler Schwelgerei ›Alpengeläute‹ nennen, während uns hier die einfachen Instrumente derselben neben der Harmonie der Pianofortes doch auch nur vorkommen wie die gewöhnlichsten Kuhschellen. Im Wirtsgarten zu Egern saßen etliche Senate der beiden Münchener Bezirksgerichte beim braunen Bier, etliche Museumsfräulein bei ihrer Milch – mehrere würdige Matronen mit ihren keifigen Gesichtern lorgnettierten die ganze Welt. Da fand ich auch nicht, was ich im stillen begehrte – ich wollte nach Rottach hinüber, um das letzte zu versuchen. Rottach ist der Zwillingsbruder von Egern, beide sich so ähnlich, daß man sie selbst in der Nähe kaum unterscheiden kann. Viele gingen nach Rottach. Viele kamen daher – Männer und Frauen, diese verlockend geputzt mit den neuen Amazonenhütchen, auch schottisch verkleidete Münchener Kinder, welche unter sich französisch redeten, zum sprechenden Beweis, wie ›deutsch‹ unser Nachwuchs erzogen wird, und etliche Waadtländer Bonnen, welche ihre Sittlichkeit wenigstens durch Zeugnisse belegen können und ungemein geeignet sind, die zarte Jugend mit germanischem Gemeingefühl zu beseelen; ferner der Herr Juwelier aus der Weinstraße, der Herr Großhändler von der Kaufingergasse, die ›lange Waarenhandlung‹ vom Promenadenplatz, das Geschäftskomptoir bei den Theatinern – lauter Händedrücke, Begrüßungen und freundliche Erkundigungen. Wie man auf dem Maskenball fragt: »Bist auch da?«, so fragt man am Tegernsee: »Wie kommen Sie da her?«, obgleich jeder weiß, daß es da her eigentlich nur einen Weg gibt und daß alle nur die eine Sehnsucht treibt, die Stadt und die Städter loszuwerden. Ihren Umarmungen kaum entrissen, begegnet der Wanderer wieder einer andern Gefolgschaft – Dichtern, Malern, Professoren, Kunstschriftstellern, Politikern nebst verschiedenen Gattinnen und Töchtern. Wieder Patschhändchen und Freundlichkeiten ohne Zahl. Ich nahm den Dichter zur Seite und flüsterte wehmütig: »Lieber Dichterling, ich habe einen wirklichen Poeten in der Tasche, möchte gern in einsamem Waldesgrün etliche Idyllen lesen – ist vielleicht dort drüben ein stiller Ort unter einer Linde, oder wär' es auch unter einem Tannenbaum?«
»Ach«, sagte der Poet, »dort drüben ist's noch viel ärger als hier. Hundert Münchener sitzen jetzt beim Kaffee, und hundert andere krabbeln an den Bergen herum und machen die ganze Gegend unsicher!«
Eine alte Misanthropie, herber Täuschungen bitterer Sprößling – oft unterdrückt, nie ganz zu vertilgen –, brach nun unwiderstehlich los. Ihr lieben Freunde und Bekanntinnen, dachte ich, o wäret ihr doch jetzt nicht hier, sondern im Tivoli oder bei Reibel zu München, wo ich niemals hinkomme – und raschen Entschlusses flüchtete ich wieder über die Fähre und ganz verschüchtert, allenthalben ausweichend, am Tegernseer Schloß vorbei und hinaus, hinaus, bis ich einsam auf dem Wege stand, der da zieht von Tegernsee nach Gmund.
Die Sonne war untergegangen – ein feuriges Abendrot lag über dem Flachland draußen – die Luft war ruhig – der See auch, so daß man bis von Kaltenbrunn herüber die Mädchen lachen hörte – die Berge standen schwarz und groß umher, und die Sterne stiegen über ihnen funkelnd auf – o du herrliche Einsamkeit!