Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Die Audorfer Almen

Aus dem grünen Tal von Bayrischzell steigt man bekanntlich zu den Audorfer Almen hinauf. Die Audorfer Almen sind im ganzen bayerischen Gebirg eigentlich das empfehlenswerteste Stück für das große Publikum, weil sie leicht zu begehen und nicht übermäßig lang, dabei lieblich, großartig, mit weiten Fernsichten und mit kleinen Schönheiten an der Hand gar reichlich ausgestattet sind – eine Landschaft, wie eigens geschaffen für Reisende, die zwar den Schwindel nicht lieben und das Klettern an den Schrofen nicht gelernt haben, aber doch gern auf den Bergen wandeln, sohin für Hofräte und Professoren aus allen vier Fakultäten, ihre Gattinnen und Töchter, für Staatsanwälte, Oberappell-, Oberpost- und Regierungsräte sowie deren Gattinnen und Töchter, für Buchhändler, Rechtsanwälte und Strohhutfabrikanten, für Malerinnen und Dichterinnen – kurz für alle Gebildeten beiderlei Geschlechts, also namentlich auch für dahin zu rechnende Berliner, Dresdener, Hamburger, Lübecker, deren Gattinnen und Töchter. Es ist zu hoffen oder zu fürchten, daß dieser Berggang, ehe wir uns umsehen, ins große Weltgetriebe wird hineingerissen sein; denn wenn der Tourist jetzt auf der Eisenbahn um acht Uhr in Schliers, so kann er nach neun Uhr in Bayrischzell, nach zehn Uhr auf der Höhe, des Nachmittags aber zu Audorf im Inntal und abends wieder in unserm München sein oder aber von Audorf aus die Reise über den Brenner nach Italien fortsetzen und dabei von diesem eintägigen Gang eine Erinnerung aus der Alpenwelt mitnehmen, wie sie selbst mehrtägige Wanderungen nicht vollständiger bieten möchten, eine Erinnerung an steile Bergwege, nasse Mooswiesen, schlüpfrige Stiegel, an stille Triften mit Speik, Madaun und Edelweiß (dieses jedoch etwas höher), Herdengeläute in den verschiedensten Stimmungen, Sennerinnen mit Milch, Schotten und Butter, Sennhütten mit den Kabylen-Schlachten von L. Wenzel in Wissembourg, welcher bekanntlich, da die Münchener Künstler keine Zeit finden, die altbayerischen ›Kaser‹ mit seinen Bilderbogen dekoriert, ferner an Waldschluchten, Wasserfälle, Felsenwände, alles hübsch hergerichtet und malerisch zusammengestellt (wenn auch zur Zeit ohne Führer und Maulesel), so daß der Flachländer, der Büro- und Komptoirmensch aus den Städten der Niederung mit dieser einzigen Erinnerung sein ganzes hölzernes Leben auspolstern und für den Abendtrunk immer ein schönes Souvenir, sei es an die Blumen, sei es an die Sennerin, an den Kot der Almen oder an die Felsenwände und Wasserfälle bereithalten kann. Wer auf dem steilen, waldschattigen Steig von Bayrischzell herauf die Audorfer Almen erreicht hatte, der mußte seit vielen Jahren auch noch zu den Sennhütten von Grafenherberg hinan und dann einen rauhen Weg hinuntersteigen, um wieder in die ebene Richtung zu gelangen – eine Abschweifung, die nur eine unnütze Ermüdung bot und keine innere Bedeutung hatte. Nach den Spezialkarten schien zwar ein näherer und wohl auch bequemerer Weg unten am Bache zu gehen, allein da waren seit zwanzig Jahren alle Stege zerfallen, und die grause Schlucht war keinem Menschen mehr zugänglich. Der Nationalcharakter schien die Unbequemlichkeit des Umwegs über Grafenherberg dringend zu erheischen; erst Herr Oberförster Rodt von Audorf wagte es, mit derselben zu brechen, die Stege wiederherzustellen und den Pfad am Bach wieder gangbar zu machen. Dieser aber ist märchenhaft schön. Dort in der Schlucht grünen riesige Huflattiche, blühen prächtige Blumen der seltensten Art; selbst die bewußte ›blaue Blume‹ dürfte, wenn irgendwo, nur hier zu finden sein. Dabei geht der schmale Pfad, immer wechselnd, über die schwanken Stege hin und her, bald einmal hoch an der Halde, bald wieder unten am Bache, welcher hier harmlos dahinrieselt, dort in rauschenden Wasserfällen kopfüber stürzt. Einmal steigt das Weglein gar auf kunstlosen Stufen rasch und tief hinunter in dunkle Waldnacht, rechts und links die nacktesten Felsenwände, oben der schmale Himmel mit seinen Sommerwölkchen, der wie Abschied nehmend hereinschaut. Dort ist eine Stelle, wo die Blumen neigen und winken, die Fichten säuseln, die Wasser rauschen, die wenigen Sonnenstrahlen so seltsam auf den Felsplatten und durch die Zweige spielen, daß den Wanderer ein ganzer Schauer von Romantik überläuft und daß er wieder an Wassernixen, Waldweiblein, Tatzelwürmer und alles mögliche zu glauben anfängt.

An letztere um so mehr, als ›Der feurige Tatzelwurm‹ bereits in der Nähe ist, um den müden Fremdling aufzunehmen und zu laben. Wenn dieser nämlich aus dem Walde tritt, so steht er plötzlich vor einem niedlichen Häuschen mit vorspringendem Dach und einer Altane, an welcher ein Schild hängt. Auf diesem ist ein fabelhafter Drache oder etwas idealisierter Tatzelwurm aufgemalt, wie derselbe im Gebirge noch zuweilen gesehen werden will. Neben dem Häuschen, unter wehenden Buchen, sind etliche Tische und Stühle so einladend hingestellt, daß selten ein Wanderer dem süßen Drange zu rasten widerstehen mag. Und wenn er sich niedergelassen und den ersten Trunk getan, übergibt er sich gern der schönen Aussicht, die da so unerwartet aufgegangen, und verfolgt in stillem Vergnügen den gewundenen Gang des grünen Tals, das sich reich an Wies' und Wald, an Hütten und Höfen bis zum Innstrom hinauszieht. Über diesen herüber aber schauen die Wilden Kaiser, mächtig übereinanderwogend, bis zum ›feurigen Tatzelwurm‹ herein. Und damit keine Schönheit der Alpenwelt vermißt werde, ergießt sich wenige Schritte oberhalb dieser Stätte ein höchst eleganter Wasserfall in eine schwindelige Tiefe, über welche eine hölzerne Brücke gelegt ist, auch eine Brücke, ›die da stäubet‹ und die man gerade so gut Teufelsbrücke nennen könnte, wie so manche andere, die solchen Ehrennamen vielleicht weniger verdient. Kaum aber hat sich das Wasser in der blauen Gumpe, welche jedoch rote Steinwände umstarren, aus seiner Bestürzung wieder gesammelt und einige Ruhe gewonnen, so wirft es sich alsbald über zwei andere Felsenstufen hinunter, so daß zwei neue Wasserfälle entstehen, welche, tief in dem Spalt des unzugänglichen Gesteins verborgen, seit Erschaffung der Welt den gebildeten Völkern unbekannt blieben und erst vor drei Jahren durch gut angebrachte Felsenwege und Wasserstege zugänglich und sichtbar geworden sind. Die Wege und Stege sowie die Sprengung des Felsens, nach welcher jene erst möglich wurden, sind ebenfalls dem Herrn Oberförster von Audorf zu danken, der auch dem Straßenbau in seinem Bergrevier vielen Eifer zuwendet, nicht immer gefördert von den Bauern, die das Holz lieber im Walde verfaulen lassen, als bei solchen Dingen mithelfen. Jene drei Wasserfälle übereinander werden übrigens von einigen Autoritäten für das schönste Phänomen ihrer Art im bayerischen Gebirg erachtet. Der Wanderer, das heißt der Mensch, der eine gesunde Bewegung machen, seine Erübrigungen in fremde Länder tragen und die Welt sehen will, derselbe, nach welchem Rom, Florenz und Venedig seufzen, den die alemannische, die Fränkische und die Sächsische Schweiz, der Rheinstrom und die Pyrenäenbäder sich in ungezählter Zahl herbeiwünschen, in der Gebirgspolitik der unteren Obrigkeiten hier in Bayern und im Lande Tirol spielt er eigentlich zur Zeit noch gar keine Rolle. Sie lassen ihn seine Pfade im Nebel selber suchen und stellen ihm nicht einmal Wegweiser, viel weniger Ruhebänke zum Ausrasten hin. Über sumpfige Wiesen verlässige Bretter, an schwindlige Steige sichernde Geländer zu legen und andere solche Aufgaben der Nächstenliebe, sie scheinen sie lediglich den kommenden Jahrhunderten vorbehalten zu wollen.

Aufmerksamer auf das allgemeine Wohl, aufmerksamer als alle Obrigkeiten war aber Simon, der Schweinsteiger, der biedere Landsasse von und zu Hinterschweinsteig, ein Bauer aus einer uralten Familie, welcher in der Nähe auf seinem Hofe waltete, der als Swinstic schon im zwölften Jahrhunderte erwähnt wird. Dieser verfiel zuerst auf den Gedanken, hier an den Wasserfällen, wo die Wilden Kaiser so schön hereinschauen, ein Wirtshäuslein zu errichten, auf daß seine und des Vaterlandes Gastlichkeit zu Ehren komme vor der Welt. Fünfzehn Jahre lang mußte er zwar bei Landgericht, Regierung und Ministerium sowie bei verschiedenen anderen Behörden anklopfen, Schriften verfassen und sich abweisen lassen, allein zuletzt erreichte er doch sein menschenfreundliches Ziel, und jetzt steht das erquickende Häuslein da und hat jeder Wanderer seine Freude daran.

Am fünfzehnten August, am Himmelfahrtstage 1863, im prächtigen Sonnenglanze, unter Mitwirkung vieler angesehener Herren und Frauen, wurde dasselbe festlich eingeweiht und der schöne Schild ›Zum feurigen Tatzelwurm‹, welchen Herr A. Vischer, der großherzoglich badische Hofmaler, spendiert hatte, mit großem Gepränge unter Böllerschüssen und Festreden aufgestellt. Bald wurde dem biedern Wirte auch ein Fremdenbuch verehrt, in welches sich die zahlreichen Touristen, unter Beifügung von Zeichnungen und Gedichten, so fleißig einschrieben, daß in nicht langer Zeit ein zweites notwendig wurde. Dieses hat Herr Doktor Volk, unser Parlamentsredner, auch ein Freund des Tatzelwurms, als Andenken dahin gewidmet. Er trägt in Anspielung auf des Wirtes Namen das Motto: ›Wo die Schweine steigen, müssen die Steine schweigen‹ – ein rätselhaftes Wort, das in seiner mystischen Vieldeutigkeit schon zu mancherlei Auslegungen geführt hat.

Seit der Zeit besorgt des Schweinsteigers Tochter die Wirtschaft mit emsigem Fleiße und großer Reinlichkeit. Der Wanderer findet da jede Labung, die er auf solcher Höhe billig erwarten kann. Bei Regenwetter hat sich schon mancher eingeschlossene Gast mit den Fremdenbüchern vergnügt, welche bei ihrem Reichtum an Dichtungen aller Art eine gute Einsicht in die Bestrebungen und die Fortschritte der neuesten deutschen Poesie gewähren. So ist denn hier für feinere Kultur eine segensreiche Stätte eröffnet, an welcher die Alpenjugend beiderlei Geschlechts, die allerdings noch einiger Nachhilfe bedarf, leicht manche fördernde Anregung entgegennehmen mag.

 


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