Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Schnaderhüpfl

Schmeller meinte zwar, sie drucken zu lassen, sei fast eine Versündigung an ihnen, aber diesen Skrupel hat man schon längst überwunden, und sie liegen nun zu Tausenden auf dem schönsten Papier und zum Teil mit Goldschnitt gefaßt in den süddeutschen Buchläden herum. In Tirol, in Bayern, im Salzburger Land, in Kärnten und Steiermark, dann namentlich in Ober- und Niederösterreich haben sich nicht nur fleißige Sammler gefunden, sondern auch begabte Sänger teils nebenbei, teils ausschließlich diese Dichtungsart gepflegt. Zudem ist sie allenthalben über den bajuwarischen Zaun hinausgewachsen und blüht jetzt auch in helvetischen, schwäbischen, fränkischen und sächsischen Gärten. Nach den bajuwarischen Vorbildern haben sich dort dann einheimische Liedchen aufgetan, die, wie oben angedeutet, wieder rückwärts strömen und jetzt auch im Urlande bekannt werden.

Ob aber das Schnaderhüpfl durch den tätigen Anteil, den ihm die städtische Bildung zuwendet, viel gewonnen hat – oder vielmehr, ob die besten Stückeln, welche in der Stadt entstanden sind, den besten der ländlichen gleichkommen, das ist eine sehr ernste Frage. Die Landpoesie hat einen großen Vorteil insofern voraus, als sie nicht gedruckt wird. Ein schlechtes, ein unbedeutendes, ein mißlungenes Stückel erhält sich nicht; es stirbt in dem Augenblicke seiner Geburt, weil sich kein Senner und keine Almerin, kein Knecht und keine Dirn die Mühe gibt, es im Gedächtnis zu behalten und weiterzutragen. Was sich also auf dem Lande fortpflanzen und, wenn auch nur kurze Zeit, erhalten will, muß sozusagen klassisch sein. Die Dichter aus der Stadt sind aber natürlich nicht aufgelegt, ihre Poesien vorher in den Almenhütten, bei Kirchweihen, Hochzeiten oder andern günstigen Gelegenheiten auf dem Tanzboden vorzutragen und dann etwa im nächsten Jahre wieder nachzusehen, wie viele ihrer Liedeln sich im Volke erhalten haben, welche davon den Almerinnen gefallen und welche die Knechte im Tale singen – es liegt vielmehr in ihrer, der Stadtdichter, Art, die Schnaderhüpfl dutzendweise nacheinander herzudichten und sie dann in den Druck zu geben. Der Gefallen, den sie selbst daran haben, gilt ihnen als Bürgschaft, daß sie auch andre ergötzen werden, welch letzteres aber gerade nicht immer der Fall sein möchte. Wer also einmal Gelegenheit hätte, auf dem Lande oder im Gebirge ein halbes Hundert der ländlichen und echten zu hören und darnach etwas aus einer gedruckten Sammlung, die er in der Tasche trüge, eine gleiche Zahl für sich zu lesen, der würde wohl einen bedeutenden Abstand finden, wenn ihm auch hin und wieder aus letzteren ein Stückel entgegenspränge, wie es die lustigste Almerin selbst nicht besser hätte zusammendichten können. Zudem haben nach unserm bayerischen Geschmacke namentlich die Wiener und zumal Anton von Klesheim eine gewisse weichliche Süßlichkeit, eine erkünstelte Niedlichkeit in diese Liedchen hineingebracht, welche uns gar nicht behagen will. Auch finden wir ihre Gedichte sehr oft weder im Gedanken noch in der Sprache so ländlich, so bauernmäßig, als sie sein möchten und sollten.

Zum Beispiel, um gleich aus den Hofmannschen Abhandlungen ein Kiesheimisches Stückel herauszunehmen:

Mei Dirnl hat zwa Augerln
So klar wie a See;
Aus an guckt an Engerl,
Aus dem andern a Fee.

Ich weiß nicht, wie viele Täler in Tirol, wie viele Landgerichte in Bayern man ausgehen müßte, bis man einen Buben fände, der bei Betrachtung schöner Mädchenaugen an die Feen dächte. Ob die Leute am Wienerwald mit der keltisch-romanischen Mythologie viel besser vertraut sind, muß ich dahingestellt sein lassen.

Unter den Unsrigen ist bekanntlich Franz von Kobell auch im Fach der Schnaderhüpfl der geschätzteste Autor. Ihn nennt Friedrich Hofmann nicht allein den besten Alpenjäger, sondern auch den besten Dialektdichter Deutschlands. Man sagt ferner, daß seine Schnaderhüpfl leicht ins Volk übergehen, wofür folgende Geschichte als ein Zeugnis gelten kann. Ein junger Landbeamter, selbst ein Freund des Volksgesanges, sah sich jüngst in die traurige Notwendigkeit versetzt, zwei aufgeweckte, liederkundige Burschen wegen eines Raufhandels im Wirtshause auf achtundvierzig Stunden einsperren zu lassen. Um sie etwas zu beschäftigen, gab er ihnen ein paar Bögen Papier mit und ersuchte sie, ihm eine kleine Blumenlese ihrer Leibstückeln zusammenzuschreiben. Die Burschen willfahrten auch gerne und übergaben ihm, als sie die Strafe erstanden, etwa hundert Liedchen, welche sie aus dem Gedächtnis gesammelt und niedergeschrieben hatten. Der junge Herr Assessor nahm die Gabe mit Vergnügen zur Hand, begann sie sogleich zu lesen, zu mustern und zu prüfen, fand aber bald und nicht ohne einige Überraschung, daß mindestens die Hälfte dieser Liedchen solche waren, die er schon früher mit Wonne in Franz von Kobells Schnaderhüpfln gelesen.

Was nun endlich die Stellung des Schnaderhüpfls zum gebildeten Publikum betrifft, so ist diese gleichwohl keine so innige und heimliche, als manche deutschen Landsleute über dem Main und Fichtelgebirge vielleicht denken möchten. Als zum Beispiel ein sonst sehr liebenswürdiger Hanauer auf einem Münchnerkeller sich unlängst Mendelssohnschen Liedern ausgesetzt sah und mit einer gewissen feinen Schmeichelei den Sängern zurief: »Laßt das uns in unserm kalten Norden; hier sollt ihr nichts singen als eure herrlichen Alpenlieder, eure Schnaderhüpfl« – erregte er in doppelter Richtung ein eigentümliches Befremden, einmal, weil er die Hanauer schon zu den gebildeten Norddeutschen rechnen wollte, anderseits, weil er fast zu glauben schien, das Hochgebirge fange allbereits beim Schleibingerbräu in der Schwabinger Gasse an und die Almenkühe grasten in unserm Ständesaal. Dem ist aber wirklich nicht also, und was die Schnaderhüpfl angeht, so mag sich's wohl treffen, daß hin und wieder ein Maler oder Dichter, der viel auf dem Land herumschlendert, nicht nur deren fertigt, sondern auch etwa einmal eine kleine Tracht neu aufgebrachter mit in die Stadt bringt, aber im ganzen ist der Verkehr und der Betrieb doch keineswegs beträchtlich. Dies kommt wohl nur daher, daß – wenn man's sagen darf – die Freude an diesen Liedchen gar zu vergänglich ist. Das echte und rechte Schnaderhüpfl gleicht nämlich einem Rätsel – die ersten drei Zeilen sind wie eine Frage, und die vierte ist die Antwort darauf. In dieser muß immer eine überraschende Wendung, eine unerwartete Aufklärung, eine neue Moral, etwa auch eine nicht geahnte ›Dummheit oder Sauerei‹ vortreten. Für jene Leser, welche eben keine Schnaderhüpfl im Gedächtnisse haben, wollen wir hier einige bekannte Beispiele vorführen:

Jetzt hab' ich zwei Schatzerln,
Ein alt's und ein neu's;
Jetzt brauch' ich zwei Herzeln,
Ein falsch's und ein treu's.

Oder:

Die Vögerln haben Kröpferln,
Da singen s' damit;
D' Frau Bas' hat ein' Kropf,
Aber singen kann s' nit.

Beiläufig eines der verbreitesten Stückeln, das bis in Thüringen und im Schwarzwald gesungen wird.

Oder:

Je höher die Alm,
Desto größer der Wind;
Je schöner das Dirnl,
Desto kleiner die Sünd!

Oder:

's Dirnl hat schwarzbraune Äugelein
Und wie ein Tauberl schaut's her;
Und wenn ich am Fenster ein' Schnackler tu,
Zwazelts im Pfaidel daher –

in welch letzterem man aber Pfaidel nicht mit Lewald, der das Liedchen von der Fischerlisel gehört hat, als Pfötchen erklären darf.

Ist die Auflösung aber einmal gefunden, so hat das Rätsel seinen Reiz verloren. Wenn wir auf die bekannte Frage, wo Adam den ersten Löffel genommen, die Antwort einmal wissen, so kann uns jene kaum mehr zum geistigen Genusse dienen. So kommt uns auch ein Schnaderhüpfl, das wir zum zweiten Male hören, schon sehr bekannt vor, und wenn es noch öfter in unsren Ohren widerhallt, so springt das Vergnügen gar bald in Gleichgültigkeit und selbst in Unbehagen um. Wer hier immer neu und überraschend sein wollte, der müßte ein paar hundert Stückeln auswendig wissen und gleichwohl selber ohne Unterlaß nachdichten – aber das Gedächtnis der meisten ist für jenes und die Phantasie für dieses zu schwach. Deswegen sind sie denn auch, selbst die sittlichen und anständigen mein' ich, in unsrer subalpinen Hauptstadt nie so recht oder wenigstens nicht auf längere Zeit Bestandteil der Unterhaltung der Gesellschaft geworden – ja viele erbleichen, wenn sie nur von Schnaderhüpfln und daß jemand deren singen wolle, reden hören, in der nicht immer unbegründeten Furcht, mit alten und längst vernommenen G'sangeln zum hundertsten Male behelligt zu werden. Ein wahrer Sturm von Alpenhaftigkeit ging einmal in den dreißiger Jahren über München hin. Die Schnaderhüpfl waren plötzlich Mode geworden. Die ganze junge Welt, Jünglinge und Mädchen, sammelten, sangen, verbreiteten sie (eine Beschäftigung, wobei immer eine gewisse Auswahl notwendig ist), die Zeichner illustrierten die Liedchen, die Musikmeister setzten die lieblichsten Walzer nach dem ›Lauterbacher‹ und nach dem ›schönen Schweizerbuben‹, Tänze, die ich gerne wieder einmal hören möchte; kurz, man war überglücklich, in diesen unversiegbaren Born des Volkslebens hinabsteigen zu können – aber mit einem Male war die Manie auch wieder vorüber, und sie ist jetzt ebenso vergessen wie vieles andere, was die Zeiten gebracht und genommen haben.

Mit diesen Betrachtungen wollen wir aber niemandem die Freude verderben, bekennen vielmehr selbst, daß wir ein klassisches Stückel unter günstigen Umständen zu Bayrischzell oder wie es einst die schönen Huldinnen zu Fischbachau dahinsangen immerdar als eine höchst erquickliche Gabe unsrer Volkspoesie entgegengenommen und genossen haben. Diese Liedchen könnten auch fast auf den Glauben hinleiten, daß das gemeine bajuwarische Volk, wenigstens unter den europäischen, zu den witzigsten zu rechnen sei – ein Zug, der nach einiger Pflege und unter dem jetzigen Fächeln seiner konstitutionellen Freiheiten selbst bei den Gebildeten dieses Stammes vielleicht bald deutlicher hervortreten dürfte. – Auch gegen die Vervielfältigung durch den Druck wollen wir nicht eifern, obgleich uns die Schnaderhüpfl, in den Büchern gesammelt, fast so vorkommen wie die Blumen im Herbarium. Fehlte es doch nicht an gewichtigen Stimmen, welche diese gedruckten Liedchen selbst als Preisbuch in den Volksschulen anempfehlen wollten – eine Neuerung, deren Folgen erst abzuwarten wären. Bisher galt allerdings der Unterricht in der Liebe nicht als Aufgabe der Volksschule, vielmehr blieb der Gegenstand der reiferen Jugend selbst überlassen, welche dessen auch, wie die Erfahrung zeigt, ohne höhere Anleitung in der Regel bald Meister zu werden pflegt.

 


 


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