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Zweites Kapitel.

David hatte es nicht so sehr eilig, mit seinem neuen Beruf zu beginnen. Er ging, bis er die lebhafteren Stadtteile hinter sich hatte und in die weit ruhigeren Straßen der Vorstadt gekommen war. Hie und da standen Bäume an der inneren Seite der Gartenmauern und streckten ihre schon herbstlich gefärbten Zweige über den Fußsteig, auf welchem er seinen unbekannten Weg verfolgte. Die Vorübergehenden hatten mehr Muße als die in der Stadt und warfen ihm gelegentlich einen Blick zu, der davon zeugte, daß sie ihn auch beachteten. Solch ein Blick hatte ihn nie getroffen in dem Gewimmel, das einander drängte und stieß in den Straßen, in denen er sich umherzutreiben pflegte. Bei dieser Beobachtung fühlte er sich schüchtern und mehr abgeneigt denn je, seine unwillkommene Arbeit zu beginnen. Es war schon Nachmittag, als er sich zuerst überwinden konnte, eine freundlich aussehende Dame anzuhalten und um Hilfe für seine Mutter zu bitten. Seine erste Bitte hatte Erfolg und gab ihm Mut, es wieder zu versuchen. Die gutherzige Frau war ihm behilflich gewesen, den ersten Schritt abwärts zu tun. Wohl begegnete er dann auch häufig schroffen Zurückweisungen und fühlte sich gedrückt und beschämt; aber er traf auch Leute, die ihm Geld gaben, um sein verhungertes Gesicht loszuwerden, und wieder andere, die seiner Erzählung glaubten, obgleich er mehrere Meilen von Hause entfernt war, und ihm ein oder zwei Pennies schenkten, weil sie meinten, damit genug für ihren darbenden Mitmenschen getan zu haben. Nicht einer gab sich die geringste Mühe, sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen, sie gingen weiter und vergaßen bald den zerlumpten Knaben oder dachten mit einer Art von Genugtuung an die Erfüllung ihrer Christenpflicht.

Als die Nacht anbrach, war David zehn Meilen von Hause entfernt und hatte wunde Füße und war müde; denn seine vertragenen Schuhe, bei irgendeinem Trödler gekauft, rieben seine Füße nur wund und hielten nicht einmal den Staub der trockenen Straße ab. Aber er hatte drei Schillinge und acht Pennies eingenommen und zählte die Kupferstücke von einer Hand in die andere mit unaussprechlicher Freude. Soviel Geld hatte er noch nie auf einmal in seinem Leben besessen, und als er sich abends in einem Nachtquartier, in einer Hinterstraße der Stadt, die er erreicht, zur Ruhe legte, konnte er nicht fest einschlafen, teils aus großer Freude, teils aus Sorge, beraubt zu werden. Wenn er die andern Tage ebensoviel Glück hatte, konnte er hoffen, am Sonnabend reich nach Hause zu gehen. Früh am Morgen machte er sich sofort wieder auf den Weg, um seinen neuen Beruf weiter zu betreiben, dessen Entwürdigung zu empfinden, er schon viel verlernt hatte. Wenn das Betteln ein vorteilhaftes Geschäft war, und er hatte ja keine Aussicht ein anderes zu erlernen, durch welches er sich hätte auf ehrliche Weise sein Brot verdienen können, so war es kein Wunder, daß der Knabe das Betteln dem Hungertode vorzog. David merkte, daß er hierbei nicht so leicht Gefahr lief, vor Hunger und Kälte zu sterben.

Es war ein schöner Herbsttag; viele Leute gingen auf den Straßen im warmen, hellen Sonnenschein spazieren, und wiederum waren manche bereit, einen Penny dem halb schüchternen Knaben zu geben, der in einem ruhigen Ton um Almosen bat. Er hatte das gewerbsmäßige Gewimmer noch nicht angefangen und ließ sich leicht zurückweisen, so leicht, daß einige, die ihm zuerst nichts geben wollten, ihn noch zurückriefen. Es lag auf seiner mageren und in die Höhe geschossenen Gestalt und seinem verhungerten Gesicht ein rührender Zug von Elend, der still um Hilfe flehte. Er wollte gerne, sagte er, Stiefel putzen, Türschwellen reinigen oder irgendeine andere kleine Verrichtung tun, die als Arbeitsprobe dienen könnte; aber nur sehr wenige Personen gaben sich die Mühe, Arbeit, die er tun konnte, für ihn zu suchen. Es war ja viel leichter, einen Penny aus der Börse zu nehmen und ihn in seine Hand gleiten zu lassen; man war dann zufrieden, den schmerzlichen Anblick losgeworden zu sein, und im Gewissen beruhigt, doch etwas für diese bittere Armut getan zu haben. Möglicherweise fiel es nicht einem von diesen wohlmeinenden und barmherzigen Leuten ein, daß sie behilflich waren, einen armen Knaben zu ermutigen, gegen die Gesetze des Landes, die das Betteln verboten, zu verstoßen.

Es war noch Tag, aber die Sonne stand schon tief am Himmel; da setzte sich David unter eine Hecke, um seine schwere Bürde von Pennies zu zählen, welche seine mürben Taschen zu zerreißen drohte. Er hatte jetzt fünf Schillinge in Kupfermünzen und wußte nur nicht recht, wie er sie für Silbergeld einwechseln könne. Er steckte seine alte Mütze zwischen seine Füße und warf die Münzen, eine nach der andern hinein, indem er sie mit einer Art von beinahe wildem Entzücken berührte. Wenn er auf seinem Rückwege ebensoviel Glück wie bisher hatte, wie reich würde er sein, wenn er zu seiner Mutter zurückkehrte! Fünf Schillinge hatte er in zwei Tagen mit Betteln verdient. Jetzt hatte er erfahren, wie leicht und wie einträglich dies war und wie wenig Gefahr damit verbunden, wenn man nur der Polizei gut aus dem Wege ging. Nie sollten Mutter und Bessy wieder Not kennenlernen. Er war unendlich glücklich und machte seiner Freude Luft in dem hellen, klaren Pfeifen von Melodien, die er von Drehorgeln auf der Straße gelernt. Gerade pfiff er die lustigste, die er kannte, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte, und wie er aufblickte, sah er die bekannte Uniform eines Polizisten.

»Du bist ja sehr vergnügt, Bursche,« sagte dieser. »Was hast du da, worüber du so lustig bist? He, woher hast du all das Kupfergeld, das du dort in deiner Mütze hast? Wie kommst du dazu?«

David konnte kein Wort hervorbringen, er suchte nur seinen kleinen Schatz zu verbergen; doch vergeblich! Der Polizist ergriff die Mütze und wog sie in der Hand.

»Du hast auf den Straßen gebettelt,« sagte er in einem Ton, als wenn die Sache sich von selbst verstände, »und mußt nun mit mir kommen. Du sollst nun auch ein Nachtquartier ganz umsonst haben, das will ich dir versprechen. Diesem Treiben muß ein Ende gemacht werden.«

Noch immer bewegte David sich nicht, auch sprach er kein Wort. So plötzlich herabgestoßen zu werden von all seinem Glück und den schönsten Aussichten für die Zukunft, hatte ihn ganz starr gemacht. Wohl hatte er die ganze Zeit gewußt, daß jeder Polizist das Recht hatte, ihn zu verhaften, die Nacht ins Polizeigefängnis zu schließen, um ihn dann am Morgen bei der Behörde zu verklagen. Schon viele von seinen Bekannten waren im Gefängnis gewesen, und manche hatten gesagt, es sei nur wegen Bettelei. Der Gedanke, wie seine Mutter zu Hause um ihn sorgte und sich nach ihm sehnte, und welchen Kummer und Schrecken sie haben würde, wenn er nicht am Sonnabend, wie er versprochen, zurückkehrte, kam plötzlich über ihn, und während der Polizist beschäftigt war, den Haufen Kupfergeld zu zählen, hielt David die Gelegenheit für günstig; er sprang in die Höhe und entfloh mit so raschen Schritten, als gälte es, durch diese Flucht sein Leben zu retten. Aber natürlich war der Versuch, dem raschen und gewandten Polizisten, der ihn sofort verfolgte, zu entfliehen, ohne Erfolg. Er fühlte sich bald am Kragen erfaßt und derb geschüttelt, während zwei oder drei Vorübergehende stillstanden, um seine Gefangennahme mit anzusehen.

»Du junger Schurke,« sagte der Polizist, »du machst deine Sache nur immer schlimmer. Hier hat er mehr als fünf Schillinge in seiner Mütze,« fuhr er fort, indem er sich an die Herumstehenden wandte, »und ich bin überzeugt, daß er den ganzen Tag gebettelt hat, als ob er keinen Pfennig mehr hätte. So fallen diese Leute dem Publikum zur Last. Fünf Schillinge und ich verdiene nur vier Schillinge den Tag. Es ist eine Schande für dich.«

»Ja, es ist eine Schande!« wiederholte einer der Zuschauer. »Ein großer Bursche von seinem Alter müßte sich doch sein Brot mit ehrlicher Arbeit verdienen.«

»Niemand lehrte mich je arbeiten,« schluchzte David, der erschreckt und verwirrt inmitten der sich um ihn sammelnden Menge stand.

»Das wollen wir dich schon im Gefängnis lehren,« sagte der Polizist und ging mit ihm fort, gefolgt von einem Zug roher Buben, der immer größer und lärmender ward, bis sie zuletzt die Polizeistation erreichten, wo David ihnen aus den Augen geführt wurde.

Es war eine traurige Nacht für David. In der Zelle befand sich kein Bett, und es ward ihm auch nichts zu essen gegeben. In seiner Angst, soviel als möglich zu ersparen, hatte er seit dem Morgen keinen Bissen genossen, und auch dann hatte seine Mahlzeit nur in einem kleinen Brot für einen Penny bestanden. Und selbst diese kleine Summe hatte er nur ungern von seinem Schatz genommen. Er hatte gerade daran gedacht, sich etwas zum Abendbrot zu kaufen, und berechnet, wieviel es wohl kosten würde, als ihm der Polizist sein Geld nahm und ihn der Polizei überlieferte.

Er war ermüdet, hatte wunde Füße und war völlig erschöpft vom langen Umherlaufen. Aber Hunger und Ermüdung waren nicht das Schlimmste, das ihn quälte. Er krümmte sich zusammen in eine Ecke der Zelle und dachte daran, wie seine Mutter und Bessy am Sonnabend nach ihm aussehen, und wie sie warten und wachen und darauf horchen würden, daß er käme, und dann immer vergebens. Seine Mutter hatte gesagt, sie würde hungriger nach seinem Anblick als nach Brot sein! Vielleicht schickten sie ihn sogar ins Gefängnis wegen Bettelei! Viele Knaben waren schon auf drei Tage oder eine Woche dorthin geschickt, und wie würde sich seine Mutter die ganze Zeit ängstigen! All sein Geld war auch verloren, und er mußte nach Hause zurückkehren ohne einen Pfennig, wie er gegangen war. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte bitterlich, bis seine Tränen erschöpft waren und er heftige Kopfschmerzen bekam. Zuzeiten schlief er einen Augenblick ein, aber seufzte auch dann in seinem kurzen ruhelosen Schlaf schwer auf. Als er erwachte, fühlte er die Qualen des Hungers mehr denn je, er hatte auch einen ganzen Tag und eine Nacht verbracht, ohne Nahrung zu sich genommen zu haben, und sein Hunger erinnerte ihn wieder an seine Mutter. Hungrig, müde, verwirrt, mit schmerzendem Kopf und einem Herzen voll von Sorge und Bitterkeit verbrachte David die langen Stunden der Nacht.

Es war schon nach Mittag, als man ihm Speise brachte, und da konnte er nicht mehr essen. Er fühlte sich krank aus Furcht vor dem Augenblick, da er vor das Gericht gebracht würde. Er hatte schon gesehen, wie andere gerufen und abgeführt wurden, um ihr Urteil zu erhalten; aber es währte lange, bis er an die Reihe kam. Endlich ward sein Name gerufen, und gleich darauf fand er sich, wüst im Kopf und krank im Herzen, in einer großen Stube stehend, einen Polizisten zur Seite. Er fühlte ein Singen in den Ohren und hörte mir undeutlich die Anklage, die gegen ihn vorgebracht wurde, und wie der Polizist in der Zeugenloge seine Identität feststellte.

»Hast du etwas zu deiner Entschuldigung zu sagen?« fragte eine Stimme ihm gegenüber, und David erhob seine trüben Augen zu dem Gesicht des Richters; aber er konnte nicht antworten, nur seine Lippen bewegten sich ein wenig.

»Hast gebettelt?« fragte der Beamte wieder.

»Ja,« erwiderte David mit einer heftigen Anstrengung, »aber ich bin kein Dieb, ich habe nie einen Penny gestohlen.«

»Liegt irgendeine frühere Anklage gegen diesen Knaben vor?« forschte der Beamte weiter.

Ein zweiter Polizist trat in die Zeugenloge, und David blickte ihn mit wirrem Auge an; er hatte ihn noch niemals zuvor gesehen.

»Ich habe eine frühere Anklage wegen Eisendiebstahl gegen diesen Gefangenen« –

»Das ist nicht wahr,« rief David mit einer vor Schrecken gellenden Stimme. »Ich bin niemals ein Dieb gewesen, fragt nur meine Mutter!«

»Stille,« rief der Beamte, der ihn unter seiner Aufsicht hatte, »du darfst das Gericht nicht unterbrechen.«

»Er ward vor sechs Monaten von Ew. Gnaden des Diebstahls überführt,« fuhr der Polizist in der Loge fort, ohne auf Davids Unterbrechung zu achten. »Er nannte sich damals John Benson und ward zu 21 Tagen verurteilt.«

»Hast du noch etwas dagegen zu sagen?« fragte der Richter und wandte sich abermals an David.

»Ich bin es nicht gewesen,« antwortete dieser ungestüm, »er sieht mich für einen andern Knaben an. Ich habe noch nie gestohlen und habe noch nie zuvor gebettelt. Fragt meine Mutter. O, was soll aus meiner armen Mutter und der kleinen Bessy werden?«

»Du hättest an deine Mutter denken sollen, ehe du dich gegen die Gesetze des Landes vergingst,« sagte der Richter. »Die Umgegend ist überschwemmt mit Bettlern, und wir müssen diesem Unwesen ein Ende machen. Ich werde dich auf drei Monate ins Gefängnis schicken, und dort wirst du ein Handwerk erlernen, durch welches du dich auf ehrliche Weise später ernähren kannst.«

David ward fortgeführt, und eines andern Sache kam vor. Seine Angelegenheit hatte kaum vier Minuten in Anspruch genommen. Der Tag war gerade ein geschäftiger; denn es wurde ein großer Jahrmarkt in dem Distrikt abgehalten, und man konnte nicht mehr Zeit an einen Knaben wenden, der offenbar der Bettelei schuldig und auch schon einmal als Dieb überführt war. Niemand bezweifelte diese letzte Aussage auch nur einen Augenblick oder dachte nur an die Notwendigkeit sich zu erkundigen, ob des Knaben heftiges Leugnen auch auf Wahrheit beruhte. Ein anderer Gefangener stand vor den Schranken, und David Felton war vergessen.

Es schien fast, als ob David plötzlich taub geworden, er hörte nichts mehr, nachdem er die Worte vernommen: »Ins Gefängnis auf drei Monate!« Er sollte seine Mutter in drei Monaten nicht sehen!

Vielleicht würde er sie nie wiedersehen, denn wer konnte ihm sagen, ob sie nach drei Monaten noch lebte! Es waren erst wenige Minuten verflossen, seit sein Name gerufen und er vors Gericht geführt war; ihm war, als wären es Jahre gewesen. Er hatte ein Gefühl, als wenn seine Mutter schon lange tot und er noch viel länger von Hause fern wäre, und dann wieder, als hörte er ihre Stimme: »Gott segne dich, David!« und gleich darauf des Richters Stimme: »Ich werde dich drei Monate ins Gefängnis schicken.« Sein verwirrter Kopf wiederholte immerfort: »Gott segne dich, David! Ich werde dich drei Monate ins Gefängnis schicken.« Ihm war zuletzt, als wenn ihm jemand diese Worte immer höhnend zurief.


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