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Fünfzehntes Kapitel.

Es war ein beständiges Wunder für Euclid, wie Victoria mit jedem Tage frischer und kräftiger ward. Ihre blassen Backen erhielten schon einen schwachen Anflug von Röte, und waren voller und runder geworden, ihre Augen waren glücklicher und ihr Schritt weniger matt. Sie kannte jetzt keine einsamen Stunden mehr; denn wenn sie auch allein auf ihrem Zimmer war, konnte sie doch Frau Linnett und Bessy jeden Augenblick rufen. Herr Dudley hatte ohne Euclids Wissen auch für so kräftige Nahrung gesorgt, wie sie dieselbe noch nie in ihrem Leben gehabt, und diese trug ebenso wie die mütterliche Fürsorge der Frau Linnett erheblich zu ihrem Gedeihen bei. Es war ein neues Leben für Victoria.

Sie lernte lesen und schreiben mit erstaunenswerter Geschwindigkeit, Bessy weit zurücklassend, und erfüllte des alten Euclids Herz mit väterlichem Stolz. Er konnte es nicht unterlassen, mit den Fortschritten seiner Tochter bei den Gemüsefrauen, von denen er die Kresse kaufte, zu prahlen. Seine Einkäufe waren jetzt von viel größerer Bedeutung, da er Frau Linnetts Laden mit frischen Früchten und Gemüse versorgen mußte. Frau Linnett hielt diese Mühe reichlich einen Schilling wert die Woche, und Euclid fühlte sich für seine Mühe gut bezahlt. »Des Winters Weh war vorüber« in voller Wahrheit. Er hatte seine Ersparnisse allerdings verloren und würde sie nie wiederbekommen; aber was war das dagegen, daß Victoria ihre Gesundheit zurückerhalten und ihr liebes Gesichtchen ihm Abend für Abend aus Frau Linnetts Ladentür entgegenblickte?

Der einzige Kummer, welcher mit an ihrem Herde saß, war der Gedanke an David im Gefängnis. Bessy sprach immerfort von ihm und dem Tage, wenn er entlassen würde. Sie zählte die Tage bis zu dem Zeitpunkt. Der alte Euclid gedachte ebenso daran, und Herr Dudley sann mit vollem Ernst über Davids Schicksal und Zukunft nach. Was sollten sie nur mit David anfangen, wenn er aus dem Gefängnis kam? Wie können sie nur das ihm angetane Unrecht wiedergutmachen? Konnte das je auf dieser Welt geschehen?

»David wird nächste Woche freikommen,« sagte Bessy eines Abends, als sie alle um Frau Linnetts Feuer saßen. Bessy war tiefbekümmert. Sie konnte David nicht verlassen – das war unmöglich! Aber würden Euclid und Victoria und Frau Linnett sie mit ihm in seine Schande gehen lassen und sie für immer aus dem Gesicht verlieren? Sie wußte nur zu gut, in welch einen Abgrund von Elend und Erniedrigung sie mit David fallen würde, und ein Schrecken kam über sie bei dem Gedanken; aber dessen ungeachtet war sie bereit, mit ihm zu gehen. Sie wollte lieber dies friedliche und schöne Heim verlassen, als das Bewußtsein haben, ihn in seinem Unglück verlassen zu haben.

»Gestern abend lasen Sie einen Vers, liebe Frau Linnett,« sagte der alte Euclid, »der mir heute den ganzen Tag im Kopf herumgegangen ist. Ich habe die Worte nicht genau behalten, ich glaube, sie lauten ungefähr so: Gott will nicht, daß einer von diesen Kleinen verlorengeht. Heißt es nicht ungefähr so?«

»Ja, ich weiß,« erwiderte Frau Linnett. »Es ist ungefähr so: Gott will nicht, daß einer von diesen Kleinen verloren werde. JEsus sagt so, es sind seine Worte.

»Es ist gerade wie er,« sagte Euclid mit einem Lächeln auf seinem alten Gesicht. »Mir scheint, er hat immer etwas Schönes gesagt. Und dicht dabei steht etwas von einem Schaf, das verloren ist, und wie er sich freut, als er es wiedergefunden hat, und darum sagt er, es ist dasselbe mit den Kleinen, sie sollten auch nicht verlorengehen. Der arme David; er ist auch in die Irre gegangen, aber er ist nur ein junges Lamm und kennt seinen rechten Weg nicht. Was sollen wir tun, daß wir ihn wieder auf den rechten Weg bringen, daß er nicht verlorengeht! Wenn es Gottes Wille ist, so muß es geschehen, denke ich.«

»Wohin sollte David wohl gehen als zu uns? sagte Frau Linnett in einem herzlichen und freundlichen Ton, der Bessys niedergeschlagenes Herz vor Freude hüpfen machte. »Sie, Euclid, und er, können zusammen in einem Bett schlafen, Bessy soll die kleine Kammer haben, und ich würde mit Victoria zusammen schlafen. Wir wollen es wohl einrichten, daß wir doch alle Platz haben. Und Kapitän Upjohn, mein alter Schiffskamerad, will ihn mit nach Schweden nehmen; dann sind sie sechs Wochen fort, und in der Zeit kann sein Haar wieder wachsen. Wenn er dann zurückkommt, wird ihm kein Mensch mehr etwas ansehen, und alles ist in Ordnung. Vielleicht bekommt er auch Lust zum Seemannsleben, und dann kann es ihm noch einmal recht gut gehen.«

»O, wenn Mutter dies nur wüßte,« rief Bessy.

Der Tag vor Davids Freilassung war ein großer Tag in Frau Linnetts kleinem Hause. Bessy scheuerte alle Fußböden und rieb alle Möbel, als wenn sie gar nicht blank genug werden könnten für Davids Rückkehr. Während der Zeit dachte sie an all die vielen Dinge, die sie ihm erzählen wollte. Von Rogers Diebstahl, von Blacketts Haß, von Herrn Dudley und Frau Linnett und von der neuen, glücklichen Heimat, die sie jetzt hatte. Frau Linnett, die gerne kleine Festlichkeiten veranstaltete, machte Vorbereitungen zu einem Mittagessen am nächsten Tage, viel besser als gewöhnlich. Victoria half ihr Korinthen waschen und Rosinen aussteinen zu einem Pudding. Keines von ihnen sprach viel von dem kommenden Ereignis, obgleich ihre Herzen davon so voll waren; denn neben all der Freude auf den morgenden Tag trat immer noch ein tiefer Kummer über die Vergangenheit hervor, und bange Sorge für die Zukunft erfüllte sie.

»Ich wollte, unser HErr JEsus wäre jetzt hier,« rief Bessy und schlang beide Arme um Frau Linnetts Hals und weinte an ihrer Brust. »Ich möchte zu ihm gehen und ihm alles von David erzählen und ihn dann fragen, ob er ihn nicht auch annehmen wolle, obwohl er im Gefängnis gewesen. Ach, wenn er nur irgendwo in London lebte, ich wollte auf Händen und Füßen zu ihm kriechen, wenn ich nicht mehr gehen könnte, um ihm alles zu sagen.«

»Er weiß alles von ihm, Bessy,« antwortete die gute Frau, »und er wird alles wiedergutmachen. Nur wundere ich mich darüber, ja, ich muß mich wundern, daß in einem christlichen Lande solche Dinge geschehen können. Wenn unsere gute Königin nur daran dächte, oder die Herren oder die Stände, von denen die Zeitungen uns erzählen, nie würden sie es zulassen, das weiß ich. Sie würden einen andern Weg finden, um Kinder zu bestrafen. Aber wir wollen versuchen, es ihn vergessen zu lassen, wenn er nach Hause kommt.«

Herr Dudley hatte sich genau nach der Stunde erkundigt, wenn die Gefangenen entlassen würden, und es war festgesetzt, daß Euclid und Bessy ihn an dem äußeren Tor des Gefängnisses erwarten sollten. Bessy war am Morgen schon lange wach, ehe es Zeit war aufzustehen. Es war im April gerade sechs Monate, seit David im Herbst seine Heimat verlassen, um für seine Mutter zu betteln. Euclid hatte Zeit, seine frühe Runde zu machen und seine Kresse für das Frühstück der Arbeiter zu verkaufen, den übrigen Teil des Tages hatte er beschlossen, zu feiern. Bessy, die ihm nachgegangen, traf ihn, als er gerade seine Verkäufe beendigt hatte, und beide richteten sie dann ihre Schritte nach dem Stadtgefängnis. Sie waren glücklicher und heiterer an dem Tage, als sie je gewesen, seit David fortgegangen; besonders Bessy war unendlich froh; denn nun nach allem, trotz des Kummers, der einen tiefen Schatten über ihr Leben geworfen, sollte David wieder zu ihr zurückkommen und würde ihr eigen sein. Er gehörte zu ihr, und sie gehörte zu ihm. Und David war immer so gut gegen sie gewesen.

Sie erreichten das Gefängnis ein Paar Minuten vor der bestimmten Stunde und gingen auf und nieder vor seinen finsteren Mauern, die von Staub und Rauch geschwärzt waren. Hoch ragten dieselben empor über den gebeugten alten Mann und das halberwachsene Mädchen, welche in ihrem Schatten auf und ab gingen. Die schweren Türen waren geschlossen, und kein Ton war dahinter zu hören. Das dicht vergitterte Fenster und die schwere Tür des Portiers schienen ihnen zu verbieten, anzuklopfen oder Nachfrage zu halten.

Sie fuhren geduldig fort, auf und ab zu gehen mit der sanften Ruhe der meisten ehrenwerten und anständigen Armen, die gar nicht erwarten, daß man sie beachtet und auch niemand bemühen wollen. So gingen sie hin und her und wieder hin und her, bis die nahe Kirchenuhr eine Stunde nach der zur Freilassung der Gefangenen festgesetzten Zeit schlug, und noch waren dieselben nicht herausgekommen. Wieder ertönten die müden Fußtritte unter dem finsteren Schatten des großen Gebäudes und beide, Euclid wie Bessy, versanken schon in angstvolles Schweigen. Was konnte nur David noch im Gefängnis zurückhalten?

Zuletzt ward die Tür der Portierloge geöffnet, und ein Wärter trat heraus, nachdem er sie augenblicklich und argwöhnisch hinter sich geschlossen. Der alte Euclid faßte den Mut, ihn anzureden.

»Lieber Herr,« sagte er ehrerbietig, »geht irgend etwas Besonderes im Gefängnis vor?«

»Wozu wollt Ihr das wissen?« fragte der Wärter mit einem scharfen Blick auf den alten Mann und Bessy. »Was treibt Ihr Euch hier herum?«

»Wir warten auf den Bruder dieses kleinen Mädchens, David Felton,« antwortete Euclid, während Bessy aufmerksam, aber schüchtern, dem Wärter ins Gesicht sah. »Seine Zeit ist heute aus, und wir sind hier, um ihn mit uns nach Hause zu nehmen.«

»Die Gefangenen sind schon seit zwei Stunden fort,« erwiderte der Wärter. »Wir haben sie heute eine Stunde früher als gewöhnlich freigelassen, weil irgendein hoher Besuch die Gefängnisse besehen will und wir gerne rasch mit allem fertig werden wollten. Es hat sich auch keiner geweigert, nicht einer, kann ich euch sagen. Beeilt euch, nach Hause zu kommen, und ihr werdet ihn dort finden.«

Aber Euclid und Bessy wußten nur zu gut, daß sie David nicht bei Frau Linnett finden würden, und traurig und mit schwerem Herzen traten sie ihren Rückweg an. Wenn er überhaupt daran dachte, nach Hause zu gehen, so konnte es nur nach jener alten unglücklichen Stätte sein, wo seine Mutter am Tage nach seiner zweiten Verurteilung gestorben war, und dahin zu gehen wagten weder Euclid noch Bessy aus Furcht vor Blackett. Es waren jetzt sechs Wochen, daß sie das alte Haus heimlich verlassen, und keiner von ihren früheren Nachbarn ahnte, wo sie ein Unterkommen gefunden. Dies kostbare Geheimnis hatten sie niemandem anvertraut.

Bessy konnte den Gedanken, David zu verlieren, nicht ertragen. Sie durfte ihn nicht verlieren. Ach, sie ahnte zu wohl, wo er sein mußte! Doch, wie sollten sie nur zu ihm gelangen und ihn wissen lassen, welche Freunde und welche Heimat seiner wartete.

Als sie zu Hause anlangten, war das Fest bereit; aber keiner hatte Sinn dafür. Frau Linnett suchte die tröstliche Seite des Unglücks herauszufinden und versicherte sie, Herr Dudley würde Davids Aufenthalt zu erfahren wissen und ihn dann ohne irgendeine Gefahr zu Euclid bringen. Herr Dudley kam auch wirklich am selben Abend noch, und als er die Nachrichten von David hörte, machte er sich sofort auf den Weg, ihn zu suchen. Er war sehr besorgt, David zu finden und nach Hause zu bringen, wie es Bessy nicht eifriger sein konnte.

David war im alten Hause gewesen, das war leicht und rasch zu erfahren. Er hatte an zwei Türen geklopft und war von beiden fortgetrieben als ein Dieb und ein Sträfling. Aber niemand konnte sagen, wohin er gegangen war. Zuletzt fragte Herr Dudley sogar in Blacketts Wohnung an; aber erfuhr nur, daß Blackett denselben Abend sein altes Quartier aufgegeben und wohlweislich seine Adresse nicht zurückgelassen hatte.


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