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Zehntes Kapitel.

Ein Armensarg und eine vom Kirchspiel angewiesene Grabstätte war alles, was das Vaterland der toten Mutter geben konnte, deren Sohn in jugendlicher Unwissenheit und Unbesonnenheit die Gesetze des Landes zweimal verletzt hatte und jedesmal mit harter Strafe belegt worden war. »Der Knecht aber, der seines Herrn Willen weiß und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen getan, der wird viele Streiche leiden müssen. Der es aber nicht weiß, und hat doch getan, das der Streiche wert ist, wird wenig Streiche leiden.« So lauten die Worte Christi. Richten wir, die wir zuweilen glauben, die christlichste Nation der Erde zu sein, uns nach diesen Worten?

Die Mutter wurde begraben, was sollte aus Bessy werden? Niemand war verpflichtet, für sie zu sorgen. Sie war alt genug, um dies selbst zu tun. Wenn sie Hilfe in Anspruch nahm, so öffnete sich ihr das Armenhaus; aber von dort aus würde sie schon nach wenigen Wochen oder Monaten unwissend und ohne die geringste Ausbildung den allerniedrigsten Dienst annehmen und die gröbste Arbeit verrichten müssen. Die einzige Arbeit, von der sie etwas verstand, war das Waschen, und dazu fehlte es ihrem schwachen, schlecht genährten Körper an Kraft. Fuhr sie fort, Brunnenkresse zu verkaufen, so fehlte es ihr an dem allernotwendigsten Obdach. Allerdings bot ihr Blackett eine Zuflucht in seiner Wohnung an, und Roger bat sie dringend, darauf einzugehen. Aber Blackett war der tägliche Schrecken ihrer Kindheit gewesen, und seine jetzige Freundlichkeit konnte ihr kein Vertrauen einflößen.

Als das arme Kind von dem dürftigen Begräbnis ihrer Mutter zurückkehrte, stahl sie sich an Blacketts Tür vorbei in das leere Zimmer dahinter und setzte sich, vor Kummer erschöpft, auf dem Bette nieder, auf welchem drei Tage lang die Leiche gelegen hatte. Sie war allein mit derselben gewesen und fühlte sich nun ohne sie noch einsamer. Die regungslose Gestalt mit den halbgeschlossenen Augenlidern war ihr doch eine Gefährtin gewesen, sie hatte das Helle, weiße Gesicht sogar im Dunkeln unterscheiden können. Kein einziges Stück Hausrat war mehr vorhanden, die Stube enthielt nichts als die niedrige, rohe Bettstelle mit ihrem schlechten Strohsack, auch Betten und Bettzeug fehlte; alles war fort. Weder Leuchter noch Topf, weder Kohlenschaufel noch Feuerhaken, noch irgendein kleines Gerät war sichtbar. Bessy hatte alles fortgetragen und für noch so wenig an die Trödler verkauft. Sie hätte auch das Bett fortgetragen, wenn es nicht so schwer für sie gewesen wäre und die tote Mutter nicht daraufgelegen hätte.

Euclid, ihr einziger Freund, hatte sich die ganzen drei Tage nicht bei ihr sehen lassen. Um die Wahrheit zu sagen, so hatte der alte Mann einen schweren Kampf mit sich selbst zu bestehen und war noch nicht damit fertig. Er hatte Bessy liebgewonnen, und das Herz blutete ihm ihretwegen. Aber was sollte er nun tun? so fragte er sich beständig. Was konnte ein armer, alter Mann, wie er, tun? Er fürchtete sich sehr davor, eine neue Last auf seine überbürdeten Schultern zu nehmen. Seit ein bis zwei Jahren machte sich die Schwäche des Alters bei ihm fühlbarer, und es hatte sich die geheime Furcht in sein Herz geschlichen, daß er schließlich seines Lebens Zweck und Ziel nicht erreichen würde. Könnte er es ertragen, Victoria so begraben zu sehen, wie die arme Frau Felton? Er hatte von einem dunkeln Winkel der Treppe aus zugesehen, wie rücksichtslos die flache, rohe Kiste, die kaum den Namen Sarg verdiente, die Treppe hinuntergeschafft wurde. Wie konnte er sich die Sorge für Bessy aufladen, solange ein solches Ende für ihn oder seine Tochter möglich war? Wenn Victoria schon wie seine Frau und seine andern Kinder in ihrem eigenen Sarg begraben gewesen wäre – ja, dann hätte er sich Bessys annehmen können. Aber die Kranke war dem Grabe jetzt nicht näher, als zu Anfang des Winters, ihre Gesundheit oder ihr Leiden, was es auch sein mochte, blieb sich gleich. Nein, er durfte seine Tochter nicht dem fremden Mädchen opfern.

Die arme, kleine Bessy! Als sie vom Schmerz verwirrt so allein in der zunehmenden Dämmerung saß, wurde die Tür leise geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen. Es war Victoria, die mit Mühe die hohen Treppen heruntergekommen war, welche sie vor vier Monaten, wie sie glaubte, zum letztenmal erstiegen hatte. Sie konnte nicht sogleich sprechen und setzte sich atemlos neben dem vereinsamten Mädchen nieder. Eine Totenstille herrschte im Zimmer, obwohl draußen der Lärm des täglichen Lebens hörbar war.

»Ich habe nicht viel gelernt,« sagte Victoria endlich mit leiser, sanfter Stimme, »aber wenn ich da oben so allein liege, sehe ich oft im Traum einen so schönen Ort, da scheint immer die Sonne, und alle sind glücklich, und meine Mutter ist auch dort! Gestern abend sah ich den Ort wieder, so deutlich, wie ich dich jetzt sehe, Bessy; deine Mutter war auch da, und es führte sie jemand, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, dahin, wo die Sonne am freundlichsten schien. Er führte sie so sorgsam, wie wir wohl ein ganz kleines Kind führen, das eben allein gehen lernt. Ach, Bessy, deine Mutter wandte sich zu mir, sie sah noch blaß aus, aber so friedlich! Kein Schmerz war auf ihrem Gesichte zu sehen.«

»Ist das wahr?« schluchzte Bessy.

»Ich habe nicht viel gelernt,« wiederholte Victoria, »ich bin niemals zur Schule gegangen, denn Vater konnte das Schulgeld nicht bezahlen, und er war nicht dazu verpflichtet. Er hätte es gerne getan; aber beim Kresseverkaufen läßt sich nicht viel verdienen. Aber ich glaube, daß es wahr ist; denn wie könnte ich es sonst sehen? Ich hab' dies dem Vater auch erzählt, und ich sagte: Vater, es kommt nicht viel darauf an, ob wir in unserm eigenen Sarg begraben werden, wenn wir nur zuletzt an solch schönen Ort kommen.«

»Und was antwortete er?« fragte Bessy.

»Er ließ so etwas wie ›Hm‹ hören und ging fort,« antwortete Victoria.

»Wenn uns nur jemand sagte, ob es wahr ist!« schluchzte Bessy wieder.

»Der Vater läßt keinen Stadtmissionar zu mir,« fuhr Victoria fort, »er sagt, sie machten die Leute nur zu Heuchlern, damit sie Kohlen bekämen, dann könnte er seine Kohlen ebensogut vom Kirchspiel nehmen. Eine Schwester von meiner Mutter ist einmal bekehrt worden und kam später in ein Asyl. Vater hat sich deswegen sehr geschämt! Keiner von uns ist ja in solchem Hause gewesen. Wir haben nie wieder etwas mit ihr zu tun gehabt, und so weiß ich nicht, ob es wahr ist. Ich habe nie recht gewußt, was ›bekehrt‹ bedeutet,« schloß Victoria mit einem traurigen Lächeln, als ob sie mit sich selbst redete.

Aber Bessy dachte nicht mehr an Victorias Träume. Sie war in ihren eigenen Schmerz versunken und stöhnte tief und bitter: »O, was soll ich anfangen?« rief sie, »was soll ich anfangen?«

»Ich kam, um dich heraufzuholen, damit du bei uns wohnen sollst,« antwortete Victoria sanft; »der Vater wird noch froh sein, wenn es geschehen ist. Du wirst ihm eine Tochter sein, wenn ich von ihm gegangen bin, und wer weiß, wie bald das geschieht. Er ist gerade jetzt ein bißchen schweigsam und wunderlich, das wird aber vorübergehen, wenn alles abgemacht ist. Bitte, liebe Bessy, hilf mir wieder hinaufsteigen. Wenn mein Vater kommt, holt er sich jemand, der ihm die Bettstelle hinaufbringen hilft. Wir beide, du und ich, können darin schlafen, das wird für mich zuträglicher sein, als auf dem Boden zu liegen.«

Als Euclid eine Stunde später nach Hause kam, zögerte er unten und klopfte an die Stubentür der Frau Felton, aber alles blieb still. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Wo mochte Bessy sein? so fragte er sich in plötzlichem Schreck. Sie mußte längst vom Begräbnis zurück sein. Konnte es möglich sein, daß sie bei Blackett Obdach gesucht hatte? Den alten Mann durchzuckte ein heftiger Schmerz bei diesem Gedanken. Wer wäre schuld daran? Er war es, der Bessy in ihrem Elend verlassen hatte, das arme, dreifach verwaiste Kind. Da stand er nun vor der verschlossenen Tür und dachte an ihr hübsches Gesicht und ihren leichten Schritt, mit dem sie seit zwei Monaten täglich an seiner Seite gegangen war. Erst jetzt, wo die Furcht ihn packte, daß sie zu Blackett gegangen sein könnte, merkte er, wie fest er sie in sein Herz geschlossen hatte. Des alten Mannes graues und grämliches Gesicht wurde noch grauer und grämlicher. Es würde hart sein, wenn er Victoria in einem Armensarge zum Grabe geleiten müßte, aber schrecklicher wäre es doch noch, wenn er Bessy als ein verlorenes, elendes Geschöpf würde durch die Straßen stolzieren sehen. Sein Gewissen klagte ihn heftig an. Was war nun zu tun? Was konnte er wagen? Blackett an seinem eigenen Herde gegenübertreten, hieß doch wahrlich in des Löwen Höhle gehen. Und doch – Bessy war wahrscheinlich bei ihm!

»Gott steh mir armen Alten bei,« sagte Euclid beinah laut, als er nach minutenlangem Schwanken mit dem Mut der Verzweiflung an Blacketts Tür klopfte.

»Herein!« schnarrte Blackett.

Euclid öffnete und blieb demütig auf der Schwelle stehen. Das Zimmer war weniger kahl, aber bei weitem schmutziger als alle übrigen im Hause. Die Frau, die den drei Blackettschen Söhnen das Leben gegeben hatte, war längst verschwunden und jeder Rest von Ordnung und Reinlichkeit mit ihr. Die Luft war mit dickem Tabaksqualm und Branntweingeruch angefüllt, und Blackett saß rauchend an einem mit Asche überfüllten Kamin. Dem unglücklichen Roger waren Hände und Füße mit starken Stricken zusammengebunden, er hatte sich aus dem Bereich von seines Vaters Fußtritten gerollt und lag mit dem Ausdruck des Entsetzens und des Hasses in einem Winkel. Aber Bessy war nirgends zu sehen.

»Herein und Tür zu!« schrie Blackett.

»Herr Blackett,« begann Euclid, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, mit neuerwachtem Mut, »haben Sie nichts von der kleinen Bessy Felton gesehen?«

»Was wollt' ich nicht,« brummte Blackett mit einem Fluch. »Victoria hat sie nach eurem Mauseloch hinaufgeholt, und nun will ich dich ehrlich warnen, alter Bursche. Wenn du dies Mädchen beherbergst, will ich es zu heiß für dich machen. Ich lasse dich nicht aus den Augen, und du sollst es bereuen; 'raus hier, oder ich fange gleich an!«

Aber Euclid war schon draußen, ehe Blackett seine Drohungen beendet hatte, und stieg mit einem plötzlich sehr erleichterten Herzen die Treppe hinauf. »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« wiederholte er auf jeder Stufe.

Er hatte die Drohungen des grimmigen Blackett gar nicht beachtet, als aber die erste Freude vorüber war, erinnerte er sich derselben. Bessy war vor Kummer auf Victorias Lager eingeschlafen, ihr neuer Beschützer beugte sich über sie und legte seine braune Hand freundlich, wie um sie willkommen zu heißen, auf ihre Stirn: »Gott segne dich,« murmelte er bewegt.


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