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Der Haß und die Rache eines Blackett war nichts so Geringes, daß Euclid dieselben hätte vergessen oder unbeachtet lassen können. Sein Feind war im Vorteil gegen ihn, denn da er nicht anders als an seiner Tür vorbei ein und aus zu gehen vermochte, so konnte ihm jener immer auflauern. Euclid war ein stiller, friedlicher Mensch, der sich, um keine Unannehmlichkeiten zu haben, von seinen Nachbarn fernhielt. Nun quälte es ihn, daß er sich solchen Mann zum Feinde gemacht hatte, und er dachte daran umzuziehen, aber Victorias Gesundheit schien ihm dies unmöglich zu machen, selbst wenn er ein ebenso billiges Dachstübchen in der Nähe gefunden hätte.
Weder er noch Victoria wußten, daß sich im ganzen Hause das Gerücht verbreitet hatte, der alte Euclid, der Kresseverkäufer, sei ein Geizhals, der sein Geld im Kasten behält und selbst hütet. Einige der Nachbarn meinten zwar, er trüge große Schätze in seiner Weste, die er Winter und Sommer nie ablegte, mit herum, andere dagegen behaupteten, in jeder Ritze und Spalte seiner Wohnung steckten Banknoten und bares Geld. Victorias Krankheit, so meinten sie, sei nur ein Vorwand, daß der Schatz nie unbewacht bleibe.
Vater und Tochter wurden der Gegenstand einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit, und Victoria wurde durch die freundschaftlichen Besuche der Nachbarinnen, während ihres Vaters Abwesenheit, nicht wenig in Verlegenheit gesetzt. Zu ihrer Ueberraschung boten sie ihr alle mögliche Hilfe an, die sie jedoch ablehnen konnte, da sie jetzt ganz unabhängig war. Bessy machte das Bett, fegte die Stube aus und besorgte alle kleinen Einkäufe, so daß das kranke Mädchen soviel Pflege und Fürsorge genoß, wie nie in ihrem Leben. Ohne Zweifel hatte Bessy selbst unschuldigerweise Veranlassung zu diesem Gerüchte gegeben. Vielleicht hatte sie in einem vertraulichen Gespräch mit Roger etwas davon verlauten lassen, vielleicht hatte ein neugieriger Nachbar gelauscht, wie sie ihrer Mutter von dem wundervollen Anblick erzählte, den sie durch Euclids Türritze gehabt hatte. Bessy war viel zu emsig, um etwas von diesem Geflüster zu vernehmen, und es war nicht wahrscheinlich, daß es je das Ohr Victorias oder ihres Vaters erreichen würde. Die letzteren sprachen in Bessys Gegenwart nie von ihrem Schatz, und Victoria nahm ihn immer sorgfältig unter ihrem Kopfkissen vor, ehe Bessy das Bett machte. Er hatte sich seit dem Begräbnistage der Frau Felton nicht vermehrt, ja, einmal war er sogar der Miete wegen angegriffen. Dennoch bereute keiner von beiden, daß sie sich der Waise angenommen hatten.
Eine Folge von Bessys Uebersiedelung in die Dachstube war, daß Roger Blackett dort kein ungewöhnlicher Gast wurde. Zuweilen kam er nur Bessys wegen, oft aber suchte er Zuflucht vor seines Vaters grausamer Tyrannei. Blackett wußte dies sehr gut, aber er dachte listig genug, der neue Verkehr könnte ihm eines Tages nützlich werden; er tat daher, als bemerke er ihn nicht. Roger ließ sich selten sehen, wenn Euclid zu Hause war; aber Victoria gewöhnte sich bald daran, ihn mit seinem ängstlichen, niedergeschlagenen Gesicht schüchtern hereinschlüpfen zu sehen. Er kroch dann an den Kamin mit dem spärlichen Feuer und zeigte ihr die Beulen, die sein Vater ihm auf Schultern und Rücken geschlagen hatte. Er war träger und schwächer wie David Felton und hatte keine Kraft, gegen die Flut des Bösen zu schwimmen, die ihn mit fortzureißen drohte. Doch war er bis jetzt noch niemals der Polizei in die Hände gefallen, und nun versprach er Victoria, wie er sonst Frau Felton versprochen, daß er immer ein guter Knabe sein und sich davor hüten wollte, ein Dieb zu werden.
Victoria war es sehr lieb, daß so viel junges, frisches Leben durch Bessy und Roger zu ihr gekommen und sie in der trostlosen Einsamkeit zerstreute. Sie hatte bis dahin nie eine andere Gesellschaft gehabt, als die eines durch Kummer niedergedrückten, alten Mannes; Euclid erstaunte, wie sie immer heiterer ward und der Winter weit weniger schwer war, als er gefürchtet. Wenn er nun auch Bessy gewiß dies Heim nicht mißgönnte, so war für ihn diese Veränderung doch weniger angenehm. Schon daß er über sein Lebensziel in Bessys Gegenwart nicht sprechen und seinen Schatz nicht nachzählen konnte, machte ihn ängstlicher denn je, und er mußte immer daran denken, wenn er den ganzen Tag fort war und in den entfernten Straßen seine Kresse ausrief.
»Victoria, mein liebes Kind,« sagte er eines Abends, als er vor Bessy zu Hause war und sich einen flüchtigen und verstohlenen Blick auf seinen Schatz gönnte, »ich trage mich fortwährend mit dem Gedanken umher, ob wir nicht eine sichere Stelle finden können, da jetzt so viele fremde Leute bei uns ein und aus gehen. Wenn ich nur jemand wüßte, der es für uns gut aufhöbe.«
»Es bleibt ja immer unter meinem Kissen, Vater,« erwiderte Victoria mit einem Lächeln; »es ist so sicher, als es sein kann. Aengstige dich nicht darüber, Väterchen.«
»Wenn ich nur die Tür zuschließen könnte, wenn wir am Morgen fortgehen!« seufzte der alte Euclid.
»Und mich den ganzen Tag eingeschlossen zurücklassen!« sagte Victoria lächelnd.
»Bessy ist nun vier Wochen bei uns gewesen, und in der Zeit haben wir keinen Penny dazugetan. Und Blackett flucht und droht, sooft er mich nur sieht.«
»Vater,« sagte sie ernsthaft, »zehnmal lieber wollte ich doch im Armensarg begraben werden, als Bessy auf die Straße stoßen.«
»O, ich denke ebenso, meine liebe Tochter, aber hart würde es doch für mich sein, dir im Armensarg zu folgen.«
Es war noch ebenso dunkel, wie um Mitternacht, als am nächsten Morgen um vier Uhr Euclid und Bessy, nachdem sie Victoria eine Tasse Tee gegeben, dieselbe verließen, daß sie noch den letzten Teil der Nacht bis Tagesanbruch schlafen sollte. Ihr bester und gesündester Schlaf kam gewöhnlich erst, wenn sie gegangen waren und sie allein in ihrem ruhigen Dachstübchen war. Kein Fuß ging dort vorbei, und über ihr wohnten nur die Sperlinge.
Wenn Euclid und Bessy durch die Ritzen von Blacketts Tür hätten blicken können, würden sie gesehen haben, wie dieser schon auf war und horchte, während Roger mit verstörtem, mildem Ausdruck auf seinem Gesicht hinter ihm kauerte. Ungefähr eine Viertelstunde nach ihrem Fortgehen ward Roger von seinem Vater mit unterdrückten Drohungen und Flüchen die dunkle Treppe hinaufgestoßen, vorbei an den Türen der Einwohner, die in weniger als einer Stunde auch wach waren. Roger kroch langsam und widerwillig die letzte Treppe hinauf und zögerte einen Augenblick vor Euclids Tür, während Blackett auf dem halben Wege stehenblieb, eine schwarze Gestalt im tiefen Schatten, und ihn mit drohender Gebärde aufforderte weiterzugehen.
Roger stieß die drückerlose Tür auf, die nicht von innen befestigt war und seiner Berührung sofort nachgab. Das kleine Kohlen- und Holzfeuer, das Bessy gemacht, war niedergebrannt, und man sah nur noch einen kleinen, roten Schimmer; aber dieser fiel gerade auf Victorias blasses Gesicht, die schon wieder im friedlichen und ruhevollen Schlaf lag. Er blickte von dem blassen, schlafenden Gesicht zurück auf die große schwarze Gestalt in der Dunkelheit, welche ihm mit erhobener, geballter Faust drohte und ging dann geräuschlos in das Zimmer. Noch zögerte er einige Minuten, er fürchtete sich weiterzugehen und wagte sich nicht zurück. Victoria war immer gütig und freundlich gegen ihn gewesen, aber sein Vater drohte ihn zu töten, wenn er seine Befehle nicht ausführte. Warum hatte er nur je erfahren, daß Euclid ein alter Geizhals war, der ganze Haufen Geld hatte? und warum hatte er nur seinem Vater verraten, daß Victoria ein kostbares Bündel unter ihrem Kopf hätte? Wenn er doch durchaus ein Dieb werden sollte, hätte er doch tausendmal lieber andere bestohlen als gerade Victoria.
Ein ganz leiser, aber für Roger schrecklicher Ton auf der Treppe erfüllte ihn mit plötzlichem Mut. Er legte sich auf den Fußboden und kroch nach Victoria hin. Vorsichtig und behutsam glitten seine Finger in die Höhe, wo das kostbare Bündelchen lag. Er zog es langsam und sachte heraus, so daß Victoria, obgleich sie sich unruhig bewegte und, wie um es zu schützen, ihre Hand im Schlaf drauf legte, doch nicht erwachte. Nun hielt er es in seinen Händen und kroch auf dem Fußboden zurück nach der dunklen Treppe. Die Tür knarrte ein wenig in ihren eingerosteten Angeln, als er sie hinter sich zumachte, und er hörte Victorias Stimme schlaftrunken sagen: »Adieu, Vater!«
Es war schon Nachmittag, als Victoria aufstand; denn sie empfand Hunger und Kälte nicht so sehr, wenn sie im Bett lag, und es sparte Feuerung, wenn sie, solange sie es nur aushalten konnte, liegenblieb. Sie hatte Roger am Tage vorher gebeten, ihr für einige Pennies Kohlen und Späne zu kaufen, und er hatte es bereitwillig versprochen. Sie hatte zum Glück noch gerade Späne genug, um das Feuer anzuheizen, und soviel Kohlen, daß es nicht ganz ausging, bis Bessy und ihr Vater nach Hause kämen. Während sie die schmalen Zungen der Flamme beobachtete, welche sorgfältig genährt werden mußten, damit sie nicht ausgingen, wunderte sich Victoria im stillen, welche Grausamkeit seines Vaters Roger wieder zurückgehalten haben mochte. Sie fühlte sich voller Hoffnung und glücklich. Die letzten Tage des Februar waren schon gekommen, und der Himmel ward klarer, die dichten Nebel wichen schon hellerem Wetter, und durch die Wolken brach häufiger ein blauer Schimmer hindurch. Der schlimmste Teil des Jahres lag hinter ihnen. Die Tage wurden länger und wärmer, und man hatte nicht mehr die traurige Zeit mit den langen Nächten vor sich. Victoria saß vor ihrem kleinen Feuer, das noch nicht ganz hell brannte, und sang vor sich hin mit zarter, zitternder Stimme, und auf ihrem leidenden Gesicht lag ein fröhlicheres Lächeln als seit Monaten.
»O, kommt Vater schon die Treppe herauf?« rief sie aus, »er kommt ja eine Stunde früher, als gewöhnlich.«
Es war Euclid, der mit leerem Korb und heiterem Gesicht hereinkam. Er hatte ungewöhnlich viel Glück gehabt, wie er sagte, als er sich beim Feuer hinsetzte und seine runzligen, alten Hände über der Flamme an dem Rauche wärmte. Er hatte den ganzen Weg nachgerechnet, und er konnte sieben und einen halben Penny zu seinem kleinen Schatz legen und die Summe zu einer runden machen. Jetzt war Bessy fort, und es währte noch länger als eine Stunde, bis sie zurückkam; nun wollte er das Geld nachzählen und seine Augen daran erfreuen, das einzige Vergnügen, das er auf der Welt hatte.
»Es tut meinem alten Herzen wohl, meine liebe Victoria,« sagte der alte Mann nach einer kleinen Weile; »es ersetzt mir reichlich all die Pfeifen, die ich nicht zu rauchen, die schönen Dinge, die ich nicht zu essen und all das Herrliche, das ich nicht zu sehen bekomme. Mach die Tür fest zu, mein Kind, nun wollen wir uns ein Fest machen!« Victoria befestigte die Tür mit einem gespaltenen Stock, den ihr Vater einmal vom Markt mitgebracht, und in ihr ruhiges, leises Lachen stimmte Euclid leise mit ein. Es war ihm eine ebenso große Freude, sie lachen zu hören, als sein Geld zu zählen.
»Einst hörte ich einen klugen Mann, einen großen Gelehrten,« sagte Euclid, »der eine Menge Bücher gelesen, von Leuten erzählen, die so reich wie Krösse wären. Ich glaube, ich habe das Wort richtig verstanden, aber nie bin ich daraus klug geworden, was damit gemeint ist. Ich habe mir schon manche Stunde den Kopf darüber zerbrochen. Wenn er gesagt hätte, kalt wie ›Krösse‹ oder grün wie ›Krösse‹, das hätte ich wohl verstanden; aber reich wie ›Krösse‹ – was meinst du, Victoria?«
»Danach frage mich nicht, Väterchen!« erwiderte sie, »ich bin dazu nicht klug genug. Wir haben von Kresse gelebt, aber wir werden niemals reich davon werden.«
»Ja, wir haben davon gelebt und werden auch damit sterben,« sagte Euclid betrachtungsvoll, »wenn wir all das Geld noch hätten, das wir immer für Miete, Lebensmittel, Kleidung und andere Dinge ausgegeben, dann wären wir vielleicht auch reich durch ›Krösse‹ geworden – aber wo wären wir dann?«
Victoria hatte, während er so halb zu sich selbst, halb zu ihr sprach, ihr Kopfkissen in die Höhe gehoben und blickte ganz verwirrt dahin. Das alte baumwollene Taschentuch, oft eingeknotet und wieder aufgeknotet, das bekannte kleine Bündel, das ihres Vaters Börse gewesen, solange sie denken konnte, lag nicht an seinem gewohnten Platz. Sie stieß das Bündel Lumpen, das Bessy als Kopfkissen diente, beiseite, aber es war nicht da. Sie schüttelte die Kleidungsstücke mit zitternder Hand und fiel dann auf die Bettstelle, schwach und krank vor Schrecken.
»Vater,« stöhnte sie mit leiser, erstickter Stimme, »es ist fort.«
Einen Augenblick blickte sie der Alte wie im Traum und wie abwesend an, indem er noch leise vor sich hin murmelte: »So reich wie ›Krösse‹.« Er schien nicht zu hören, daß sie sprach.
»Vater,« rief sie in lauterem Ton, »unser Geld ist fort.«
»Fort!« wiederholte er.
»Es ist nicht hier,« antwortete sie, »es ist gestohlen worden! Ich erinnere mich jetzt, ich hörte ein Knarren der Tür, nachdem ich eingeschlafen und rief noch: ›Adieu, Vater‹ und nun ist es ein Dieb gewesen. O Vater, lieber Vater, was sollen wir nun anfangen?«
Euclid war aufgesprungen und zitterte und bebte am ganzen Leibe von diesem plötzlichen Schreck. Fort! Gestohlen! der kleine Schatz, den er mit so vieler Mühe und Sorge, so viel Arbeit und Selbstentsagung zusammengespart hatte. Vielleicht brauchte er das Geld noch, ehe die bösen Märzwinde vorüber waren, um dann sein letztes Kind in seinem eigenen Sarg zu begraben. War es möglich, daß Gott es zugelassen, daß ein Dieb sich hineingestohlen, um ihm seinen so geweihten Schatz zu rauben? Euclids Herz antwortete: Ja, es war möglich, es war geschehen, dieses überwältigende Mißgeschick, und ihm war, als stürbe seine Seele in ihm.
Er setzte sich wieder auf seinen alten, zerbrochenen Stuhl, er fühlte sich zu schwach, um sich aufrecht zu halten, und verbarg sein verwittertes, aschbleiches Gesicht in seinen Händen. All das Elend und die Entbehrung und die drückende Armut seiner sechzig Jahre, die er durchlebt, schien auf ihn zurückzustürzen und wie eine Flut über seinen geknickten Geist hinwegzurollen. Sollte er nach all der vielen Arbeit und den schweren Leiden dennoch zuletzt gezwungen werden, die Hilfe des Kirchspiels in Anspruch zu nehmen; wenn auch nicht heute oder morgen, so doch in ein paar Wochen oder spätestens in ein paar Monaten? Am besten wäre es am Ende, gleich hinzugehen; denn soviel Geld konnte er doch nie wieder ersparen. Und Victoria, wenn sie nun krank würde, nur ein wenig kränker als jetzt, dann würde man sie von ihm fortnehmen und in das Armenhaus-Hospital bringen. Dort würde sie dann zwischen fremden, schlechten Frauen sterben und ihre letzten bittern Tränen auf einem Kirchspiel-Kissen weinen. Während er, getrennt von ihr, sein altes graues Haupt auf ein anderes Kirchspiel-Kissen legen würde, sein Gesicht gegen die Wand gewandt, um seine Tränen zu verbergen.
»Ich muß fort,« sagte er plötzlich und stand steif und langsam vom Stuhl auf, als wenn er sich ganz wie ein gebrechlicher, alter Mann fühlte. »Ich muß die Polizei holen, Victoria.«
Es währte auch nicht lange, da stieg ein Polizist hinauf nach Euclids Dachstube und hörte die ganze Geschichte des Verlustes. Nach kurzen Erkundigungen über die Personen, welche am häufigsten bei ihnen verkehrt, fiel sein Verdacht auf Roger und seinen Vater als diejenigen, die den schlechtesten Ruf im Hause hatten. Ehe eine Stunde verging, saß Roger bereits auf der nächsten Polizeistation, und Blackett ward in allen gewöhnlichen Zufluchtsstätten des verdächtigen Gesindels gesucht.