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Monate waren vergangen, bis Herr Dudley etwas von David erfahren konnte, und da entdeckte er ihn wiederum im Gefängnis, und zwar wegen eines schweren Diebstahls. Er erhielt die Erlaubnis, ihn zu besuchen, und schied nach einer langen Unterredung von ihm mit dem Versprechen, sein Freund zu sein. Als David seine Strafe verbüßt hatte, suchte Herr Dudley ihm eine Wohnung und tat sein Möglichstes, ihm Arbeit zu verschaffen; aber einträgliche Arbeit war beim besten Willen nicht für ihn zu finden, und David war jetzt durchaus nicht mehr geneigt, harte Arbeit für geringen Verdienst zu tun. Es waren mehr als drei Jahre seit seiner ersten Ueberlieferung ins Gefängnis verflossen, und er hatte dort eine Lehre so gut gelernt, daß er nicht mehr willens war, große Not zu ertragen oder unausgesetzt zu arbeiten. Dadurch, daß er ein Dieb war, konnte er nichts verlieren, als seine Freiheit, und die mußte er ebensogut bei ununterbrochener Arbeit aufgeben. Sein einziger Ehrgeiz war jetzt, so geschickt zu stehlen, daß er der Wachsamkeit seiner Feinde, der Polizei, spottete.
Aber wenigstens ein besseres Gefühl war ihm geblieben. Er wollte nicht hören, wo Bessy lebte, und bat Herrn Dudley, ihr nichts von seiner traurigen Lage zu sagen. »Laßt mich allein im Elend sitzen,« sagte er, »ich fürchte mich nicht davor; aber Klein-Bessy soll darin nicht Mitgenossin sein.« Vergebens stellte Herr Dudley ihm alles mögliche vor und bat ihn, es noch einmal zu versuchen. Würde je etwas die schändende Tatsache von ihm nehmen, daß er schon verschiedentlich im Gefängnis gewesen? Oder würde irgendeine Anstrengung seinen Namen auf der Liste der Gewohnheitsverbrecher, die die Polizei führte, auslöschen? Der Name, den sein Vater geführt und den seine Mutter geliebt, war dort verzeichnet.
»Es ist eine verruchte Welt!« sagte er, und Herr Dudley wußte darauf nicht zu antworten.
Es war gut für Bessy, daß Herr Dudley Davids Geheimnis bewahrte und ihr nicht sagte, wie es ihm mißlungen, David wieder auf bessere Wege zu bringen. Roger war jetzt auf einem Kauffahrteischiff; es war ein Segelschiff, das weite Reisen machte und nur selten nach den Werften von London kam. Wenn er am Lande war, fand er seine Heimat immer bei Frau Linnett, und der alte Euclid war stolz auf ihn, da er durch seine Vermittelung vom Untergang gerettet war. Aber die Freude über seine Besuche ward immer etwas getrübt durch die Furcht, Blackett könnte seinen Sohn irgendwo treffen und so den Zufluchtsort entdecken, den sie vor seinem Haß und seiner Rache gefunden.
Es war ein beständiger Scherz auf dem Markt geworden bei Euclids ältesten und vertrautesten Kunden, daß der alte Kresseverkäufer ein Vermögen gewonnen habe, so verändert war er geworden. Es schien, als wenn er die gebeugten Schultern gerader und seinen alten Kopf mehr aufrecht hielt. Die alte Bluse, die er stets als äußeres Gewand getragen, war jetzt nie mehr zerrissen oder schmutzig, und im Winter ward sie durch einen warmen, wenn auch fadenscheinigen Ueberrock ersetzt. Er war ein sehr unabhängiger Käufer geworden und sehr wählerisch im Ankauf seiner Kresse. Er brauchte keine mehr zu nehmen, die an den Spitzen gelb geworden oder deren helle, grüne Blätter Flecken hatten. Er konnte die beste bezahlen, und die Gemüsefrauen wußten, daß er auch nur die beste nahm. Er konnte reichlichere und größere Bündchen geben, und sein runzliges Gesicht sah nicht mehr so enttäuscht aus, wenn er einmal gebeten ward, auf zwei oder drei Tage Kredit zu geben. Er war nicht wieder zu erkennen als der niedergedrückte, abgelebte, alte Mann, der früher durch die Straßen schob und mit heiserer Stimme sein »Krösse«, »Krösse«, rief.
Es war das Heim, das er und Victoria gefunden, das ihn so verändert. Es lag eine kräftigende Wärme in dem Gefühl der Freundschaft und der Teilnahme, die sie hier umgaben. Frau Linnetts heitere Art und Herrn Dudleys gütiges Interesse für sie gaben ihnen das Gefühl, daß sie nicht mehr allein im Kampf des Lebens standen. Und wenn Euclid nun auf dem Schlachtfelde blieb, brauchte er nicht mehr für Victoria zu bangen, daß sie ohne Schutz in dem harten Kampf untergehen würde. Wohl war es noch dieselbe mühevolle Arbeit, die der alte Mann nach wie vor verrichtete, und die eisigen Wintermorgen waren auch nicht wärmer geworden; aber die ganze Welt erschien ihm in einem ganz anderen Licht; denn sein Herz war nicht mehr schwer und sein Geist nicht niedergedrückt.
Herr Dudley und Rogers Lehrer hatten ernstlich in denselben gedrungen, daß er das Geld, das er einst Euclid gestohlen, wiederersetzen müsse. Dieses Vorhaben war ein Geheimnis zwischen ihm, Bessy und Frau Linnett, die nichts so sehr liebte als unschuldige Ueberraschungen. Als nach einer zweiten Reise Roger die Summe ganz erspart hatte, banden er und Bessy sie in ein altes Taschentuch und legten sie unter Victorias Kopfkissen, wo jetzt gewöhnlich deren Neues Testament lag, damit sie in der Morgendämmerung, wenn Bessy und ihr Vater sich rührten, gleich darin lesen könne. Als Victorias Hand nun nach dem kleinen Buch griff, erfaßte sie das alte, wohlbekannte, harte Geldpaket und schrie laut: »Vater! Vater!« so daß Euclid an der Tür erschien und mit erschreckten Blicken hineinsah.
»Das Geld für meinen Sarg ist wieder da,« rief sie und brach in Tränen aus.
»Nein! nein!« sagte Bessy halblachend, halbweinend. »Es ist das Geld, das Roger euch einst gestohlen, jeder Penny davon; er hat es zusammengespart und gibt es euch mit seiner ganzen Liebe nun zurück. O Roger, sage es ihnen, sage es ihnen alles.«
Aber Roger, der hinter Euclid an der Tür stand, konnte kein Wort vor Bewegung sprechen. Er fühlte sich in diesem Augenblick glücklicher, als damals, wie er die Preise erhalten in Gegenwart all seiner Gefährten und aus den Händen eines Lords. Des alten Euclids Gesicht, zuerst verwirrt und beunruhigt, verwandelte sich in fröhliche und strahlende Wonne.
»Nahe an vier Pfund,« sagte er. »Wohl getan, Roger. Aber ich weiß nur nicht, wozu wir das Geld nun verwenden wollen, liebe Victoria. Zu deinem Begräbnis brauchen wir es, Gott sei Dank, nicht.«
»Es soll zu ihrer Hochzeit mit Kapitän Upjohn sein,« rief Roger und brach vor Freuden in ein lautes Gelächter aus, während Euclid heiser und Frau Linnett herzlich einstimmte. Victoria aber rief: »Vater, mach die Türe rasch zu!«
Es war wahr. Kapitän Upjohn, der Herr einer Schaluppe, die ihren Handel hin und her mit Schweden trieb, ein alter Schiffskamerad von Thomas Linnett, wenn auch viele Jahre jünger als dieser, wollte Victoria zu seinem Weibe machen. Nun brauchte man nicht mehr in Sorge darüber zu sein, wie einst das kleine zarte Wesen sich allein durch die Welt schlagen sollte. Dafür wollte nun Kapitän Upjohn wohl sorgen, und auch des alten Euclid wollte er sich annehmen und ihm eine Heimat bereiten, wenn es ihm nicht mehr möglich war, sein Brot selbst zu verdienen. Es ward schon davon gesprochen, ihm einen Eselkarren anzuschaffen, um ihm zu einer respektableren Lebensweise zu verhelfen. Denn Kapitän Upjohn war ein Mann, der in einen weit höheren Rang als den eines Brunnenkresse-Verkäufers hätte heiraten können, und er würde es auch getan haben, wenn er nicht Victoria bei Frau Linnett gesehen und nachher so viel an sie hätte denken müssen, daß er darüber den niedrigen Rang ihres Vaters ganz vergaß.
Ueber alle Beschreibung glücklich und stolz war der alte Mann, als er sein letztes und einziges Kind verheiratete und er sie zur Kirche führte, ihre liebe Hand in der seinigen, um sie an Kapitän Upjohn zu geben; anstatt, daß er ihr zum Grabe folgte, wie er einst ihrer Mutter und all seinen andern Kindern gefolgt war. Er kannte den Begräbnis-Gottesdienst wohl, oder er kannte die äußeren Gebräuche beim Begräbnis; denn die Worte hatten immer nur wenig Eindruck auf ihn gemacht, aber eine Trauung war ihm etwas ganz Neues. Dunkel konnte er sich noch erinnern, was er einst gesagt, wie er Victorias Mutter geheiratet hatte, und wie er nun Kapitän Upjohn und Victoria dieselben Gelübde wechseln hörte, fühlte er, daß er jetzt zufrieden sterben könne.
Sie fuhren den Strom hinab nach Greenwich, und einen schöneren Tag konnte es nicht geben! Der alte Euclid erklärte, er hätte keinen, nur entfernt diesem ähnlichen je verlebt. Bessy und Roger meinten allerdings, es gäbe keinen zweiten so warmen, hellen und glücklichen Tag, als den, den sie vor zwei Jahren an Bord der »Cleopatra« verlebt hatten. Davon wollten die übrigen natürlich nichts wissen, und Kapitän Upjohn behauptete, es wäre gar keine Frage, welcher Tag der schönere sei. Gewiß war jedenfalls, daß wohl selten eine so glückliche Gesellschaft, wie an diesem Tage, unter dem Schatten der alten Kastanien in Greenwich Park gewesen oder dort zusammen die Abhänge hinuntergewandert war, den alten Euclid immer im Nachtrab mit seinen schleppenden Füßen und seinen grauen Haaren, die im Winde flatterten.
Und dann die Heimkehr, den Fluß hinauf in der Kühle des Abends, während ein sanftes Lüftchen sie umspielte. Euclid saß still und schweigend im Boot, Victoria mit ihrem Gatten an einer Seite, Bessy und Roger, die ihm fast ebenso lieb geworden, auf der anderen Seite. Aber sein Schweigen war die Stille und der Friede des glücklichen Alters, jetzt für immer frei von allen drückenden Sorgen. Morgen wollte er wieder um vier Uhr aufstehen, um zu Markt zu gehen; aber die Arbeit war ihm keine Last. Er quälte sich nicht mehr für einen Sarg und für ein Grab. Er war jetzt nicht mehr ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt.
Sie landeten im Dunkeln und streiften einen Faulenzer, der nahe am Ufer stand und die Dampfschiffe kommen und gehen sah. Dieser fuhr auf, als sein Blick auf die kleine Gesellschaft fiel, und folgte dann den Heimwärtseilenden heimlich, mit leisen Schritten. Nicht einer derselben sah sich um, keiner dachte nur daran, daß ihnen jemand folgen könne; obgleich jener Mensch immer hinter ihnen blieb und sie im Auge behielt, bis er sah, wie Frau Linnett sie über der halben Tür des kleinen Ladens erwartete und mit einem weißen Taschentuch den Bewillkommnungsgruß wehte. Dann wandte er sich um und schlenderte nach Hause zu der alten Stelle, wo einst Euclid gespart und gesammelt und das Geld verloren, welches Roger ihm gestohlen hatte.
»Es ist der alte Euclid,« brummte er vor sich hin, »und Victoria, so fein wie eine Dame und die kleine Bessy auch. Wer mag aber der junge Mensch von ungefähr neunzehn Jahren sein? Gewiß, das war Roger, mein Sohn Roger, und seiner Kleidung nach zu urteilen, geht es ihm gut. Aber ich will noch mit ihnen allen abrechnen.«