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David kehrte lebensmüde mit gebrochenem Herzen zum Gefängnis zurück. Es war Klein-Bessy selbst gewesen, die ihn an der Flucht verhindert hatte. Arme Kleine! Wie fest hatte sie sich an den Dieb gehängt, damit er nicht entwischte. Er träumte davon in seiner Gefängniszelle. Wenn er eingeschlafen war, glaubte er immer, Versuche zu machen, seine Freiheit und ein besseres Leben zu erlangen, aber im letzten Augenblick, wenn der Erfolg sicher schien, riß ihn Bessy zurück und stieß ihn nieder in den Abgrund finsterer Verzweiflung. Es war immer Bessy die ihn festhielt, bis seine Feinde, bald Menschen, bald Teufel, ihn packten. Und dann, wenn er wieder eingefangen war und sie sein Gesicht erblickte und er sie bei Namen rief, dann sank sie ihm zu Füßen und starb, und seine Schlechtigkeit hatte sie getötet! Träume wie diese ängstigten und schreckten ihn.
Zwei Jahre würden bald vergehen, aber was dann? Er würde immer ein Dieb bleiben, wenn er auch frei war, und die Reihen der ehrlichen Menschen würden sich fester vor ihm verschließen, als je zuvor. Wenn er die Wahl haben könnte, so würde er lieber im Schutz der Gefängnismauern bleiben, als in eine Welt hinaustreten, in welcher Diebe seine einzigen Kameraden sein würden. Der Mut sank ihm, wenn er daran dachte, daß er nur mit solchen Leuten, wie der alte Blackett, würde verkehren können. Er wußte, daß ihm nichts anderes übrigblieb. Das Brandmal des Gefängnisses konnte er lebenslang nicht wieder loswerden.
Er gehörte nicht mehr zu den jugendlichen Verbrechern. Er arbeitete in seinem Handwerk mit den erwachsenen Gefangenen, aber er hatte keinerlei Verkehr mit ihnen. Seine Arbeitsleistung war gering, so gering, daß er sich häufig Strafe zuzog, aber weder Strafe noch Ermutigung konnte ihn zu irgendeiner Teilnahme reizen. Man hörte ihn nie auf Lob oder Tadel etwas erwidern. Seine Augen hafteten oft am Boden, und er war wie in einer Art von Traum befangen. Er war schweigsam, teilnahmlos und mürrisch. Was auch um ihn vorging, er schien taub, blind und stumm zu sein. Oft sah er beinahe blödsinnig aus.
Aber bisweilen lagerte sich ein noch dunklerer Schatten auf seinem Gesicht. Es war, wenn die Gedanken ihn beschäftigten, wie leicht er seinem Elend ein Ende machen könnte, wenn er nur noch einmal am Ufer des Flusses stände. Ihm war, als sähe er den reißenden Strom zur See hineilen. Warum war er nie dem Unglück, das ihn verfolgte, auf diese leichte und schnelle Weise entflohen? Hier im Gefängnis war es schwer, seinem Leben ein Ende zu machen. Es war schon geschehen, aber er scheute sich vor der Art und Weise, wie es geschehen war. Wenn er nun in den kühlen, schnellen Strom hätte springen und darin untersinken können! Er hatte die Kirche, das tägliche gemeinsame Gebet, den Besuch des Geistlichen, aber nichts von dem allen brachte ihm Trost in seiner Verzweiflung. Dies gehörte alles zum Kriminalgericht und zum Gefängnis. Die Religion war die des Staates, der ihn erst vernachlässigt und dann in den Abgrund getrieben hatte, der ihn mit Leib und Seele verschlungen. Wenn diese Religion für irgend jemand galt, so war es für die Reichen und Mächtigen, nicht für die Armen und Schwachen, wie seine Mutter, für die Irrenden und Sündigen, wie er selbst! Die Armen wurden zum Leiden und zur Sünde niedergedrückt, während die Reichen vor Versuchungen zu äußersten Sünden geschützt und bewahrt blieben, hohe Stellungen einnahmen, Gesetze machten und sie ausübten. Solch Christentum war einem David Felton kein Evangelium.
Tag für Tag, Nacht auf Nacht, lange, lange Monate hindurch erstarrte das Herz. Langsam, fast unmerklich, litten auch seine physischen Kräfte. Seine Hand wurde unsicher, seine Augen trübe. Er war so im Jammer versunken, daß er nicht klagte oder um Erleichterung bat. Sein Körper füllte den ihm angewiesenen Platz aus, saß auf seiner Bank, schleppte sich durch die Gänge, kauerte in seiner Zelle, aber kaum fühlte und wußte er, was er tat und wo er war. Er war der bloße Schatten eines Menschen, Leben und Geist und Herz war in ihm erstorben.
Nur eines konnte die verlöschenden Lebensgeister wieder entzünden. Dies waren die Briefe, die ihm Bessy schrieb, immer liebevoll und herzlich und immer voller Zuversicht, daß noch alles gut werden würde, wenn er wieder frei sei. Sie wollte mit ihm in ein fremdes Land gehen, so schrieb sie, und dann wollten sie ein neues Leben miteinander beginnen. Aber David pflegte bei diesen Versprechungen traurig den Kopf zu schütteln. Würde es nicht tatsächlich ihr Leben zerstören, wenn sie den alten Euclid und Frau Linnett und das Haus, wo sie so glücklich gewesen war, verließ? Das durfte nie geschehen.
Eines Sonntagmorgens nach der Kirche fand er einen Brief in seiner Zelle. Er war nun gerade ein Jahr im Gefängnis, und Bessy hatte dreimal geschrieben. Er konnte einen vierten Brief erwarten, und er griff so hastig danach, wie ein Verschmachtender nach einem Trunk kalten Wassers. Aber dieser Brief war nicht von Bessy.
»Lieber David,
Ich bin jetzt Seemann und habe guten Verdienst, zwanzig Pfund habe ich mir schon gespart; Herr Dudley sagt, wenn ich das Seewesen gut lerne, so soll ich bald Steuermann werden. Ich habe daher Bessy gefragt, ob sie meine Frau werden will. O David! ich kann nicht sagen, wie lieb ich Bessy habe, Tag und Nacht denke ich an sie, wenn ich zur See bin, und bin ich hier, so kann ich es nicht aushalten, ohne sie zu sehen. Jedesmal wenn ich sie wiedersehe, ist sie hübscher und lieber geworden. Aber sie sagt: ›Nein, ich gehöre David zu; er hat niemand außer mir.‹ Sie sagt niemals, daß sie mich nicht liebhaben könnte, sonst würde ich nie an Dich geschrieben haben. Nun wollte ich Dich bitten, Du möchtest ihr schreiben, daß sie mich heiraten soll, Du hast dann Bruder und Schwester zugleich. Wenn ich Bessy heirate, so wäre es für Dich besser, als wenn sie einen andern Mann bekäme, denn ich könnte mich niemals Deiner schämen, da mein eigener Vater und meine Brüder Diebe sind. Wenn sie jemand anders heiratete, so würde er sie verhöhnen, was ich niemals tun könnte. Steh mir nicht im Wege, lieber alter Junge. Ich will Bessy ein guter Mann und Dir ein guter Bruder sein; ich habe guten Verdienst und werde vielleicht noch Kapitän, und dann wird Bessy eine Dame. Schreib ihr nun und sag ihr, daß du mich gern als Bruder haben willst, Du wirst es nie bereuen.
Dein liebender Freund Roger Blackett.«
David saß lange Zeit regungslos, den Brief in der fieberheißen Hand zusammenpressend. Arbeit gab's heute nicht, so hatte er Zeit, mit bitteren Gefühlen darüber nachzudenken. Roger Blackett! Wie deutlich erinnerte er sich des furchtsamen, mürrischen, halbverhungerten Burschen, der in beständigem Schrecken vor seinem bösen Vater lebte. Ein armer, träger, schwacher, verachteter Knabe, der sogar von allen andern Knaben in der Straße geringschätzig angesehen wurde. Der Sohn eines bekannten Schurken, dessen ältere Söhne Diebe waren! Und nun, nach kurzer Ausbildung für den Seedienst war er Seemann, hatte guten Verdienst, Aussicht, Steuermann zu werden, und dachte daran zu heiraten – Bessy zu heiraten! Eines Tages konnte er Herr eines Schiffes und Kapitän Blackett genannt werden, während er, David Felton, was war er? Ein Ausgestoßener, ein Einbrecher, ein Missetäter.
Roger würde Klein-Bessy heiraten. David sah sie im Geist vor sich; Bessy in ihrem eigenen Hause, hübsch, liebreich und gut, im Kreise fröhlicher Kinder. Roger, wie er von der Seereise heimkehrt und Geschenke aus fernen Ländern mitbringt, um damit zu zeigen, wie er auch in der Ferne an jedes von ihnen gedacht hatte. Ein Leben ehrenhafter, fröhlicher Arbeit lag vor Roger, mit stillen, häuslichen Freuden, wie sie das Leben auf Erden schmücken und wertvoll machen. Es war ihm, als sähe er die frohen Gesichter der Kinder und hörte ihre hellen Stimmen. Das alles stand Roger bevor, und ihm? Der Tod im Gefängnis.
Er wußte dies gewiß, als er Rogers Brief in der Hand zusammenpreßte. Der Weg durchs Gefängnis zum Grabe war kein weiter gewesen; und er freute sich darüber, wenn man diese trostlose Sehnsucht, einer bösen Welt entfliehen zu können, Freude nennen darf. Der Tod war nahe und konnte ihm nicht zu früh kommen.
Am nächsten Tage bedeutete ihn sein Wärter, ins Hospital zu gehen, und er tat es. Der Anstaltsarzt konnte nicht angeben, was ihm fehle und unter welchem Namen er seine Krankheit eintragen solle. Sein Register enthielt keine Abteilung für Hoffnungslosigkeit und Herzeleid.