Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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II.

Der Wagen hielt vor dem Portal des Westend-Theaters, das verlassen, im Sommerschlafe, dalag.

Nur ein Trupp Mimen stand am Eingang. Herren mit kleinem Ferienschnurrbart und einzelne Damen. Neugierig musterten sie Valeska, die aus der klapperigen Droschke – in ihrer Unerfahrenheit hatte sie natürlich eine zweiter Klasse genommen – herausstieg und sich von dem Portier den Weg in das Direktionsbureau zeigen ließ.

In dem Vorzimmer, in das man sie führte, saßen bereits wartend zwei Damen und erwiderten stumm ihren Gruß.

Offenbar auch Schauspielerinnen. Die eine eine junge, bildhübsche Blondine mit keckem Stumpfnäschen und großen Kinderaugen. Die andere älter, unscheinbar gekleidet. Ihr scharfgeschnittenes, unter der Schminke verwelktes Gesicht trug einen müden, leidenden Ausdruck. Sie mußte einmal sehr schön gewesen sein.

Komische Alte oder so was, jedenfalls ungefährlich. Hingegen die andere . . . Valeska schaute vom Fenster, wo sie stand, verstohlen auf die Blondine, die ihren Blick ruhig aushielt.

Die beiden schönen Mädchen sahen sich schweigend und feindselig an. Eintönig tickte die Uhr. Sonst regte sich nichts in dem Gemach.

Endlos langsam verstrich die Zeit. Viertelstunde auf Viertelstunde. Valeska glaubte vor Ungeduld zu vergehen. Endlich hielt sie es nicht mehr aus.

»Wo nur der Direktor bleiben mag!« sagte sie zu der Blondine.

»Max Bucher ist drinnen bei ihm,« erwiderte die, »es ist wegen des neuen Stücks. Da hat er für uns Neuengagierte keine Zeit!«

Valeska hatte eine dumpfe Erinnerung, als habe sie irgendwo den Namen Bucher gelesen. Genau wußte sie es nicht. Es war ja jetzt auch gleich.

»Sie sind auch neu engagiert?« fragte sie harmlos.

»Ja . . . ich komme vom Lobensteiner Stadt-Theater. Hochmann sah mich da als Iza im ›Fall Clémenceau‹ und . . .«

»So . . .mich auch . . .«, sagte die Elten scharf, »in Bergheim . . .«

»Auch als Iza?«

»Ja. Ich habe ihm sehr gefallen!«

Also zwei Rivalinnen des Rollenfaches! Die Damen verstummten. Die Blondine sah neidisch auf die Elten, und die wieder dachte bei sich: hübsch mag die Kröte schon ausgesehen haben . . . als Page und dann . . . vor allem in der Atelierszene . . .

Die blasse Dame im Hintergrund seufzte und sah auf die Uhr. Immer mehr machte sich der schwüle Augusttag im Zimmer geltend.

Da rauschte es im Vorflur wie von leichtem Schleppenfegen. Eine schlanke, hochgewachsene Dame zu Anfang der Dreißiger, mit interessantem, aber keineswegs schönem Gesicht, schritt, ohne nach rechts und links zu sehen, quer durch das Zimmer und öffnete die Tür zum Allerheiligsten.

»Morgen, Direktor!« sagte sie beim Eintreten nachlässig, dann, in höflicherem Tone: »Guten Morgen, Herr Bucher!«

Damit schloß sich die Tür. Man hörte nur noch undeutliches Stimmengewirr und Gelächter.

Das mußte etwas Besonderes sein!

Valeska sah sich fragend nach den andern um.

»Die Dobschütz!« sagte die Dame im Hintergrund mit müder Stimme.

Die Dobschütz! . . . Also das war hier offenbar ein großes Tier! Die Elten und die Blondine trafen sich in einem ängstlichen Blick nach der Tür, wo jene verschwunden.

Wieder verstrich eine Weile in stummem Antichambrieren. Da ging die Tür wieder auf, die Dobschütz kam zurück, neben ihr ein dicker, mittelgroßer Herr in den Sechzigern, einen Zwicker auf der Nase und mit einer mächtigen Glatze.

»Lassen Sie sich von dem Alten nicht bange machen, Herr Bucher,« sagte die Dobschütz im Vorübergehen, »die große Szene wird gespielt, wie ich es will und wie Sie's geschrieben haben! Ich garantiere Ihnen . . . der dritte Akt steht wie 'ne Mauer!«

Damit war sie hinaus. Ihr Begleiter mit flüchtiger Verbeugung gegen die Damen hinterher.

Der Theatersekretär hatte inzwischen deren Karten dem Direktor hineingetragen und kam wieder zurück.

»Der Herr Direktor bedauert,« sagte er zu der blassen Dame, »für seriöse und komische Alte ist keine Verwendung mehr. Alles komplett. Eine Empfehlung an Herrn Hassel!« – Dann zu der Blondine: »Bitte, gehen Sie nur hinein!«

Die blasse Dame stieß einen müden Seufzer aus, erhob sich und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, den Raum.

»Die hätten Sie Ende der sechziger Jahre hier sehen sollen,« sagte der Sekretär zu Valeska, »eben in diesem Theater . . . Wir haben noch die alten Kassenbücher . . . Jedesmal ausverkauftes Haus, wenn sie auftrat . . . und jetzt . . .« Er zuckte mitleidig die Achseln. »Du lieber Gott, ja . . . es ist nichts und wird nichts mehr mit ihr . . . sie kann einen wirklich dauern!«

Ein Frösteln überlief Valeska.

Das war auch ihr Schicksal in zehn, fünfzehn Jahren, wenn sie nicht klug und tätig war!

Da kam die Blondine zurück, etwas mißvergnügt und niedergeschlagen, wie es schien, und empfahl sich mit freundlicher Kopfneigung Valeska und dem Sekretär.

»Na . . . bitte . . . nur 'rein, Fräulein!«

Valeska trat in das Direktionszimmer, wo Herr Hochmann hinter einem großen, mit Schriftstücken bedeckten Tische saß.

»Guten Morgen!« sagte er zerstreut und reichte ihr über den Tisch seine kleine fleischige Hand. »Nun, wie steht's, Fräulein . . . Fräulein . . .« Er warf einen Blick auf ein vor ihm liegendes Blatt. »Richtig, Fräulein Elten von Bergheim . . . na, wie steht's . . . haben Sie sich denn den Sprachfehler jetzt abgewöhnt? . . . Oder war das eine andere?« unterbrach er sich, als er Valeskas erstauntes Gesicht sah. »Sie sind doch Fräulein Elten . . .?«

»Das bin ich«, sagte die hübsche Schauspielerin pikiert. »Sie sahen mich doch in Bergheim, Herr Direktor . . .«

»Als Iza . . . natürlich . . . und engagierte Sie . . . erinnere mich, mein Fräulein, erinnere mich . . . habe soviel im Kopf . . .«, setzte er etwas gereizt hinzu. »Wir bringen gleich zur Eröffnung der Saison eine große Novität . . . das Neueste von Max Bucher . . . Sie begreifen, daß ich darüber manches andere vergesse.«

Max Bucher!

Valeska kannte nichts von ihm, aber sie wußte, daß der löbliche Bergheimer Magistrat auf Zucht und Sitte im Theater hielt und »denen Histrionen«, wie es im preußischen Zensuredikt heißt, so manche gefährliche Neuheit vorenthielt. Dazu gehörten wahrscheinlich auch die Werke des berühmten Bucher.

Sie schwieg also in ehrfurchtsvoller Teilnahme.

»Ja . . . wie war mir denn?« sagte der Direktor und hielt sinnend die Hand gegen die kahle, schweißperlende Stirn. »Ich hatte Ihnen doch eine Rolle darin zugeteilt . . . he . . . Herr Rüsemer . . .«, rief er dann, erhob sich und öffnete die Tür. »Herr Rüsemer . . . bitte . . . bleiben Sie sitzen, Fräulein . . . Herr Rüsemer, haben Sie die Rollen zu ›Ellinor‹ bei der Hand? Ja? Dann geben Sie, bitte, dem Fräulein die Rieke . . .«

Ein freudiger Schreck durchzuckte Valeska bei der Kunde, daß sie in wenigen Wochen eine Rolle kreieren werde. »Rieke« . . . . was mochte das wohl sein? Wahrscheinlich eines der modernen Hinterhausstücke. Einerlei . . . ihre »Alma« konnte sich schon sehen lassen . . .

Da gab ihr der Sekretär das dünne blaue Heft.

»Ellinor«, Schauspiel in 4 Akten von Max Bucher, stand oben auf der ersten Quartseite.

Und rechts unten: »Rieke, Dienstmagd. ½ Bogen.«

Ein halber Bogen nur! Entsetzt schlug sie das Blatt um und las.

Erster Akt.
Erste Szene.

Rieke (tritt von links ein, mit dummdreistem Lächeln). Madame . . . der Herr Baron is draußen!

Ellinor . . . und außerdem hab' ich Kopfweh . . .

Rieke . . . da soll ick ihm nich 'rinlassen?

Ellinor . . . also meinetwegen . . . ich lasse bitten . . .

Rieke. Is jut! (Ab links.)

Im zweiten Akt hatte sie die siebente Szene. Zu sprechen war da überhaupt nichts. Sie trug nur Tee herein, reichte ihn herum und ging wieder.

Das war der erste Akt!

Der dritte Akt brachte ihr vor der großen Schlußszene ein kurzes Auftreten:

Rieke (rasch von links). Madame . . . eben kommt der jnädige Herr . . .

Adalbert. Mut, Ellinor!

Rieke (für sich). Na . . . nu wird's jut! (Ab links.)

Im vierten Akt ging sie überhaupt leer aus.

Das war die »Rolle«.

»Was haben Sie denn?« sagte Hochmann, den die Debatte mit Bucher und der Dobschütz offenbar nervös erregt hatte. »Was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Die Rolle ist so klein . . .« erwiderte Valeska stotternd . . . »und . . .«

»Ja . . . soll ich Ihnen zu Ehren die ›Maria Stuart‹ spielen . . . oder was wünschen Sie sonst . . .«

». . . und . . . und ich kann gar nicht berlinerisch sprechen«, fuhr sie mit dem Mut der Verzweiflung fort.

»Ach was . . . wo sind Sie geboren? . . . in Eisenach? Nun also . . . wer von nördlich des Mains ist, spielt die norddeutschen Dialektepisoden, wer südlich, die süddeutschen! Das ist doch ganz einfach!«

»Ja aber . . . ich habe doch in Bergheim . . . .«

»Was haben Sie in Bergheim?« Der Bühnenleiter zog eine Schublade auf und holte nach kurzem Suchen einen bedruckten Bogen hervor. »Ist das Ihr Kontrakt oder nicht . . .?«

Allerdings . . . das war ihr Kontrakt, eine endlose Reihe enggedruckter Paragraphen mit all den unwürdigen Bestimmungen, die diese Sklavenformulare enthalten. Sehr genau war darin festgesetzt, daß sie an das »Westend-Theater« als Schauspielerin engagiert sei, keine Rolle zurückweisen und in ihrem künstlerischen Fache keine Tätigkeit verweigern dürfe, die nicht offenbar mit Gefahr für Leben und Gesundheit verbunden, daß sie bei Gastspielen Anrecht auf Beförderung in der dritten Klasse der Eisenbahn und der zweiten des Dampfschiffes habe, daß sie für ihre Toiletten – mit Ausnahme der Männerkleider –, für Trikots, Wäsche, Schmuck und Fußbekleidung aus eigenen Mitteln aufkomme und dafür eine Gage von 300 Mark monatlich beziehe, wenn nicht die Direktion von ihrem Rechte Gebrauch mache, sie, sobald sich auf den ersten Proben ihre künstlerische Unfähigkeit herausstelle, oder sobald sie innerhalb der ersten vier Wochen nach Beginn der Saison einmal aufgetreten, oder sobald sie über eine gewisse Zeit hinaus krank gewesen, ohne weiteres zu entlassen. Ebenso konnte sie gegen Ende der Saison entlassen werden, während sie sich ihrerseits für drei Jahre fest an das Theater gebunden hatte.

Ja . . . da war nichts zu machen! Die Elten schwieg.

»Wo sollte denn das hinführen, Kind,« sagte der an sich sehr gutmütige Direktor etwas versöhnlicher, »wenn jeder nur die besten Rollen haben wollte? Da müßte man sie schließlich verlosen, um allen gerecht zu werden. Wenn es mit Ihnen geht, bekommen Sie auch größere Aufgaben. Und nun adieu! . . . Morgen um zehn ist Probe!«

Er reichte ihr die Hand. Valeska ging verstört in den Vorraum zurück.

Diese Hunderolle! . . . und in einem Dialekt, den sie nicht beherrschte . . . und als schlampige Dienstmagd angezogen, wo sie zu Hause die großen Koffer voll glänzender Toiletten hatte . . . und womöglich noch mit rotgeschminkten Backen und Armen . . . es war furchtbar! Eine unsägliche Wut gegen den Autor der »Ellinor« stieg in ihr auf.

»Glauben Sie, daß man das Dings oft spielen wird?« fragte sie draußen den Sekretär.

Der schien ganz entsetzt. »Das ›Dings‹! . . . Aber Fräulein . . . ein Werk von Bucher . . . hoffentlich macht es was!«

»Und wie oft gibt man's dann?«

»Solang es geht! ›Die kleine Herzogin‹ haben wir in der vorigen Saison hundertundzweiundzwanzigmal gespielt.«

Valeska verspürte einen gelinden Schauder. Einhundertzweiundzwanzigmal diese Köchin verzapfen . . . sie, die in Bergheim die ersten Rollen gespielt, nimmermehr! Mit dem festen Entschluß, in solchem Falle kontraktbrüchig zu werden, stieg sie die Treppe hinunter und schritt durch das Portal.

Da stand die Blondine noch in eifrigem Gespräch mit einem schönen, hochgewachsenen Mimen, dem das spärliche Haupthaar in langen Strähnen auf den trotz der Sommerhitze umgeworfenen Radmantel fiel. Das war Harald Grillon, der erste Liebhaber, Regisseur und Gegenstand des schauernden Entzückens aller Backfische im Tiergartenviertel.

Er lüftete mit einem verbindlichen »Grüß' Gott!« den Kalabreser, als sie vorbeischritt. Sie dankte und bemühte sich, während sie, das blaue Heftchen in der Hand, in den Wagen stieg, so fröhlich und unbefangen auszusehen, als sei ihr eine Bombenrolle anvertraut worden.

* * *

Sie fuhr nach der Hasselschen Agentur.

Persönlich kannte sie Herrn Hassel nicht. Aber er hatte ihr Engagement wie viele andere am Westend-Theater vermittelt, und sie hielt es für angezeigt, ihn zu besuchen.

Vielleicht konnte er ihr helfen.

Viel Gutes hatte sie freilich nicht von ihm gehört. Seine Agentur gehörte keineswegs zu den alten und wohlangesehenen Berlins, sondern näherte sich vielmehr in bedenklichem Grade jener Sorte von Vermittlungsbureaus, für die der Kulissenjargon einen in keiner Weise salonfähigen Ausdruck geschaffen hat.

In dem behaglich eingerichteten Vorzimmer blieb sie lange Zeit allein.

So saß sie stumm und müßig da. An das Antichambrieren gewöhnte sie sich schon allmählich.

Im Nebenzimmer, beim Agenten, war Josef Jeserich, der berühmte Wandervirtuose und »Mauerweiler«, ein Mann, dessen imposanter Gesichtsausdruck schon sagte, daß für ihn die Achse des Weltalls mitten durch seine Garderobe ging.

Ein erregtes Gespräch klang zu Valeska hinaus. Es handelte sich um die Zusammenstellung einer Gastspieltournee. Die Namen der Direktoren und Intendanten, der Autoren, deren Stücke in Frage kamen, der beteiligten Schauspieler, die Tantiemeberechnungen und Provisionssätze, die Durchschnittserträge der einzelnen Theater, die Kosten für Ankauf eines vielversprechenden französischen Stückes, das alles schwirrte bunt durcheinander.

Man schien sich nicht einigen zu können. Wenigstens erhob sich der Mime plötzlich, ergriff seinen Hut und öffnete die Tür zum Vorzimmer. Der Agent lief hinter ihm her.

»Ich habe doch nun mal nicht die Verfügung über die Kasse des Direktors Schwarze,« rief er erregt, »wenn der Mann mir sagt . . . so und so . . . und mehr kann ich nicht . . .«

»Ich komme morgen wieder, Herr Hassel«, sagte der Tragöde mit leiser, melodisch aus tiefer Brust klingender Stimme, grüßte freundlich die kleine Schauspielerin, die beim Eintritt ihres berühmten Kollegen aufgestanden war, und ging.

Der Agent, ein großer, wohlbeleibter Herr mit schneeweißem Patriarchenbart und spärlichem Silberhaar, unter dem eine rosige Glatze schimmerte, hörte mit freundlichem Lächeln Valeskas Klagen an.

»Ja . . . Fräulein . . . zu machen ist da nichts!« sagte er. »So mir nichts, dir nichts kriegt man nicht erste Rollen in Berlin. Seien Sie froh, daß ich Sie an das schöne Theater gebracht habe . . . jetzt seien Sie fleißig und geschickt . . . suchen Sie die einflußreichen Leute für sich zu gewinnen . . . Haben Sie Seybling vielleicht kennengelernt? . . . Nein? . . . Da halten Sie sich daran. Der und die Dobschütz spielen die erste Flöte. Wenn Sie natürlich Schliephacke auch für sich interessieren können, ist's um so besser.«

Seybling . . . Schliephacke . . . Valeska sah den Agenten fassungslos an.

Aber Herr Hassel hielt es offenbar für überflüssig, sie aufzuklären.

»Also machen Sie's gut, Kind!« sagte er väterlich. Und vertraulicher setzte er hinzu: »Und verplempern Sie sich nicht! Das Westend-Theater ist ein heißer Boden.«

»Wer ist denn da besonders gefährlich?« fragte die hübsche Schauspielerin naiv.

»Ich möchte Sie vor allen Dingen vor dreien warnen! . . . Der eine ist Seybling, der andere ist Harald Grillon und der dritte . . .«, der Greis lächelte mild und schalkhaft, »der dritte bin ich selbst! Also seien Sie klug und werden Sie weder Frau von Seybling noch Frau Grillon . . .!«

». . . noch Frau Hassel!« setzte Valeska kaltblütig hinzu. Derlei Dinge waren ihr nichts Neues. »Ich verstehe. Guten Morgen!«

»Guten Morgen, liebes Fräulein!«

* * *

Nun begann die Rundfahrt auf den Redaktionen. Valeska hielt sie nach ihren Provinzerfahrungen für unbedingt erforderlich. Erst später erfuhr sie, daß man in Berlin bereits angefangen habe, sich von diesem Brauch zu emanzipieren, oder ihn durch das Versenden von Visitenkarten an die Kritiker zu ersetzen.

Von diesen traf sie auch nur wenige an. Einige Feuilletonredakteure empfingen sie freundlich, aber mit der Miene vielbeschäftigter Männer, ein oder zwei große Blätter nahmen die Anzeigen von Gastspielen und Debüts überhaupt nur auf schriftlichem Wege entgegen.

Es war doch ganz anders als in Bergheim, wo sie, der Stern des Theaters, der den ganzen Winter hindurch den Kasinotafeln und Stammtischen, den Damenkaffees und Backfischkränzchen unerschöpflichen Gesprächsstoff lieferte, von Zeit zu Zeit, wenn eine besonders günstige Kritik über sie erschienen, neckisch lachend in das düstere Redaktionszimmer rauschte, um dem Redakteur völlig den Kopf zu verdrehen und nach einem Plauderviertelstündchen sich durch ein Spalier staunender Metteure, Laufburschen und Expedienten mit lieblicher Herablassung zu empfehlen.

Dies Berlin! Diese eisige Gleichgültigkeit, die ihr entgegentrat, diese geschäftsmäßige Seelenlosigkeit im Verkehr, diese blinde, ebenso geschäftsmäßige Anbetung des Erfolges!

In der Leipziger Straße, auf deren Schattenseite sie langsam zu Fuß ihrem Hotel zuschritt, blieb sie vor einem Schaufenster stehen.

Die Photographien zahlreicher Schauspielerinnen hingen darin, wahllos zwischen Potentaten, Abgeordneten, Schriftstellern, Afrikaforschern und sonstigen Berühmtheiten des Tages. Unter jeder Photographie stand auf einem Zettelchen der Name.

Viele Namen waren es nicht. Etwa ein Dutzend, das immer wieder in den Schaufenstern der Papiergeschäfte und Buchläden auftauchte.

Sie blickte beinahe ehrfurchtsvoll auf die Bilder dieser Kolleginnen. Die hatten also den Erfolg errungen! Aber wie – das hätte sie gar zu gern gewußt.

Und da fiel ihr ein: sie trug ja noch einen Brief in der Tasche. Einen Brief, den ihr Bruckhoff, der alte Direktor des Bergheimer Stadt-Theaters, an den einst weltberühmten Menschendarsteller Sparski in Berlin mitgegeben.

Als junger Bursche war er mit Sparski zusammen an »der Burg« engagiert gewesen . . . »damals« . . . »unter Laube« usw. . . . beides blutige Anfänger, die sich dann während ihres wechselvollen Lebenslaufes nicht mehr aus den Augen verloren hatten.

Jetzt hatte sich Sparski schon lange krankheitshalber von der Bühne zurückgezogen. Man sprach nicht mehr von ihm, der einst der Abgott des Publikums, ein Gegenstand bewundernden Neides für die Kollegen, ein Schrecken der Ehemänner und ein wonniger Dämon der Frauen gewesen war.

»Direkt helfen wird er Ihnen nicht können, Elten,« hatte der alte Bruckhoff zu ihr gesagt, »aber klug ist er, mein Freund Sparski . . . sehr klug. Er kennt Berlin, er kennt das Theater, er kennt die Menschen. Suchen Sie ihn recht bald auf und grüßen Sie ihn von mir.«

Valeska entschloß sich, das jetzt gleich zu tun. Vielleicht fand sie da Trost und Ermunterung.

Eine Droschke führte sie vor ein unsauberes, altes Haus in einer stillen Seitenstraße. Eine brummige Magd öffnete die Flurtür, nahm die Karte in Empfang und führte sie in das Zimmer.

Valeska trat in einen Raum, in dem bereits das Dämmern des Augustabends brütete. Verblaßte Plüschmöbel, zahllose Lorbeerkränze mit lang herabhängenden Schleifen, Photographien mit Widmung und Diplome an den Wänden, die Luft von dem beklemmenden Dunst welker Blätter, Kölnischen Wassers und bessarabischen Tabaks erfüllt.

»Bitte, mein Fräulein!« ließ sich plötzlich eine tonlose Stimme vom Fenster her vernehmen. »Treten Sie näher . . . setzen Sie sich . . .«

Jetzt erst sah sie den siechen Mimen.

Er saß in einem Rollstuhl, vom Schlafrock umhüllt, eine Decke über die Knie gezogen. Die magere, gebrechliche Greisengestalt war nach vornüber gesunken. Aus dem leichengelben, durchfurchten und leidenden Gesicht hefteten sich die Augen in stechendem, lüsternem Glanz auf die Gestalt des schönen Mädchens.

»Setzen Sie sich, mein Fräulein!« wiederholte er hüstelnd. »Sie bringen mir einen Brief meines Freundes Bruckhoff. Bruckhoff ist ein Esel. Sonst schickte er Sie nicht zu mir. Denn ich bin, wie Sie sehen, lebendig tot. Eine Leiche auf Urlaub. Noch dazu augenblicklich in gelindem Morphiumdusel. Ich bin mit mir und meinen Schmerzen allein. Menschen kriege ich nur zu sehen, wenn sie jetzt noch etwas von mir wollen. Also was wollen Sie?«

Valeska wagte vor Beklemmung kaum zu atmen. Dies boshafte, vom Schlafrock umschlotterte Gerippe, das da hüstelnd vor ihr lag, das war Sparski, von dessen Romeo und Prinz Heinz die alten Schauspieler nur mit feuchten Augen, in bewunderndem Schauer sprachen? Entsetzlich! . . . Aber sie faßte sich Mut.

»Ich möchte Ihren Rat,« sagte sie stockend, »ich kenne Berlin so wenig, und ich bin ganz allein hier . . . und . . . und ich . . . ich möchte Karriere machen . . .«

Es war, als drängen ihr die stechenden Augen des Alten bis in das Innerste der Brust.

»Karriere . . . Karriere . . .«, wiederholte er höhnisch. »Karriere . . .« Dann versank er in nachdenkliches Schweigen.

Eine lange Pause entstand.

Plötzlich hob der im Lehhnstuhl wieder zu sprechen an.

»Du willst wissen, wie man Karriere macht«, sagte er leise; seine Augen funkelten, und ein boshaftes Lächeln verzerrte seinen welken Mund. »Ich will es dir sagen, mein schönes Kind . . . denn bei dir fällt die Giftsaat vielleicht auf rechten Boden!«

Die Schauspielerin sah ihn erschrocken an.

»Was bist du denn?« fuhr der Alte hämisch flüsternd fort.

»Du bist eine Magd der Menge!

Jeden Abend hast du einen neuen Herrn über dir, einen tausendköpfigen, launischen, ungerechten, undankbaren Herrn.

Dem dienst du in buntem Tand und Flitter, solange du Rot auflegst und Rollen lernst.

Darum sei demütig und verschlagen wie eine Magd. Schmeichle deinem Herrn im Lampenlicht, verachte ihn in deinem Stübchen und sieh, wie du ihm entrinnen kannst.

Liebe niemand! Keiner liebt dich, viele deinen Leib.

Und hasse niemand. Das hält unnütz auf.

Aber lebe ehrbar oder werde wieder ehrbar in Berlin.

Das stimmt dir die Weiber mild und macht die Männer toll.

Und wenn du einen verliebten Toren gefunden, so beichte ihm deine Vergangenheit und lasse dich von ihm retten.

Aber verliebe dich nicht in ihn und gewähre ihm nichts. Sonst heiratet er dich nicht.

Und die Jahre wandern, deine Schönheit vergeht, und du sitzest als komische Alte in Meseritz oder Kötzschenbroda.

Und bist vielleicht bloß alt, nicht komisch.

Bist du aber gerettet, dann fluche dieser Bestie, dem Theater, und allem, was daran hängt. Und wenn die Bestie dich wieder lockt, dann denke an mich und meinesgleichen.

Und nun leben Sie wohl, mein Fräulein!«

* * *

Draußen auf der heißen Straße blieb Valeska Elten traumverloren stehen.

Sie fühlte sich wie betäubt von den Worten des Alten.

»Aber recht hat er schon!« sagte sie endlich tief aufatmend und winkte einer Droschke, um nach dem Hotel zu fahren.

 


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