Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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XIX.

»Eigentlich müßte das ein großer Erfolg werden«, meinte Valeska, als sie zwei Tage darauf, mit dem Rollenheft ein leichtes Gähnen verbergend, auf der Bühne des Westend-Theaters stand, ». . . wenn es schon bei der ersten Arrangierprobe solchen Skandal gibt . . .«

Zajonchek wandte sich nach ihr um.

»Das scheint ja ein z'wideres Frauenzimmer zu sein . . . die Dobschütz . . . ist die immer so?«

»Meistens!«

Die Dobschütz war in der Tat diesen Vormittag unerträglich. Sie hustete nervös in ihr Taschentuch und sprach die Stichworte so leise, daß man sie kaum verstehen konnte. Und kaum hatte Harald Grillon, der in Vertretung des Direktors die Regie führte, sie daran zu erinnern gewagt, als sie mit ihm einen Streit begann, in den auch der mittlerweile herbeigekommene Hochmann selbst verwickelt wurde.

Nach vielem Hin- und Herreden ging endlich die Probe weiter, und zwar in ziemlich raschem Tempo, da es sich heute nur darum handelte, das Drama »Lilith« einzurichten, die Stellungen anzuordnen und die Auftritte und Abgänge zu regeln.

Auch gestrichen wurde fortwährend. Valeska hatte kaum eine Szene, in der ihr nicht Grillon nach kurzer Beratung mit dem Direktor das Heft aus der Hand nahm und den Text der Rolle durch energische Hakenzüge seines schwarzen Bleistifts auf die Hälfte verkürzte. Sie war damit zufrieden. Denn sie merkte schon: Eine »feine Nummer« war diese Astild keineswegs!

Die Dobschütz war zuletzt ganz verstummt und begnügte sich, allen Bemerkungen ein impertinentes Achselzucken entgegenzusetzen. Plötzlich wandte sie sich an den Direktor: Es sei ihr nicht wohl. Sie wolle nach Hause. Ob nicht für den Rest der Probe der Regisseur ihre Rolle lesen könne?

Hochmann machte ein sehr bedenkliches Gesicht. Aber schließlich . . . das fehlte noch, daß ihm die Dobschütz jetzt, in dem entscheidenden Moment, krank wurde. So gab er ärgerlich seine Einwilligung.

Die Dobschütz trat auf den Flur hinaus und blieb, da sie den Portier gebeten, ihr einen Wagen herbeizurufen, im Vorraum stehen. Dort traf sie Dr. Mans, den Theaterarzt, der eben auf einen Augenblick vorgefahren.

»Sie sehen schlecht aus, mein Fräulein!«, sagte der alte Herr bedenklich . . . ». . . recht schlecht . . . es ist höchste Zeit, daß Sie gegen diese Erkältung, wie Sie es nennen, etwas Ernstliches tun . . .«

»Was soll ich denn tun?«

»Sich schonen . . . Gründlich schonen . . . mal ein Jahr ausspannen und vernünftig leben . . .«

»Was nennen Sie denn leben?« unterbrach ihn die Dobschütz gereizt . . . ». . . essen? . . . trinken? . . . schlafen? . . . Das wäre mir nicht der Mühe wert! Mögen sie mich eines schönen Morgens tot im Bette finden, wenn nur bis dahin . . .«

Sie brach ab. Ein krampfhafter Husten erstickte ihre Worte.

»Nun sehen Sie . . .«, der alte Arzt schüttelte den Kopf, ». . . dieser Husten nach einer kleinen, mühelosen Probe! . . . Wie soll denn das werden, wenn Sie diese Rolle erst wirklich spielen? . . . Womöglich jeden Abend . . .«

Die Dobschütz schien selbst etwas verstört.

»Ich kann mich diese Woche des Abends erholen,« sagte sie . . . ». . . wir geben von heute ab bis zur Premiere der ›Lilith‹ die ›Freundinnen‹, das französische Sittenstück, das vor drei Jahren bei uns so viel machte . . . darin spiele ich nicht . . .«

Der Sanitätsrat sah nach dem Flurschalter hinüber, hinter dem der Kassierer einsam und schläfrig saß. Denn oft vergingen Viertelstunden, ehe ein Kunde herantrat. »Allzu fieberhaftes Interesse scheint das Publikum an den ›Freundinnen‹ nicht zu nehmen«, meinte er.

Die Dobschütz zuckte die Achseln.

»Die Geschäfte gehen überhaupt erbärmlich. Die erste Novität durchgefallen, die zweite von der Zensur verboten und bei den alten Stücken das Haus hundeleer . . . im Vertrauen gesagt . . . ich glaube . . . es ist allerhöchste Zeit, daß wir etwas machen . . . die Gefahr steht vor der Tür . . .«

». . . Scheint so . . .«, meinte der Sanitätsrat nachdenklich.

»Sie sehen also . . . ich kann mich nicht schonen. Ich muß die Lilith spielen, ob es Ihnen recht ist oder nicht!«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können!«

Der Arzt lüftete seinen Hut, und sie trennten sich.

* * *

Als die Dobschütz ihre Wohnung betrat, schlug ihr ein leichter Zigarettenduft entgegen, ein Zeichen, daß Seybling auf sie wartete.

Ein Gefühl freudiger Genugtuung durchzuckte sie, und ein verächtliches Lächeln ging über ihr Gesicht. Da war er also schon wieder, nachdem sie sich erst gestern abend – zum dritten Male in kurzer Zeit – gezankt und in bitterem Zorn getrennt!

Sie wußte es ja . . . er konnte nicht mehr von ihr lassen. Sie war ihm unentbehrlich geworden im Laufe der Zeit. Es fehlte ihm etwas, wenn er nicht bei ihr des Nachmittags seinen Tee trinken und bei ihrem bizarr-geistvollen Geplauder sich von den Geschäftssorgen, dem Gesellschaftszwang und der tödlichen Langeweile erholen konnte, die ihm der Verkehr mit den Damen der Gesellschaft einflößte.

Langsam legte sie den Mantel ab. Das Treppensteigen hatte sie erschöpft. Sie rang nach Luft. Es war ihr seltsam angstvoll und unbehaglich zumute.

Am liebsten hätte sie sich gleich hingelegt, bis die Beklemmung in der Brust vorübergegangen. Aber sie wollte Seybling nicht warten lassen und trat in den Salon.

Das Zimmer war leer, nur die bläulichen Zigarettenwölkchen brauten darin noch auf und nieder, und auf dem Tische lag ein Brief.

Während sie ihn aufriß, erkannte sie die Handschrift ihres Freundes.

»Ich habe auf Dich gewartet,« schrieb Seybling, »um Dir noch einmal zu sagen, daß ich des Spieles müde bin und es endgültig und für immer bei unserer gestrigen Trennung bleibt! Leute von Welt wie wir sollten aber nicht als Feinde auseinandergehen. Ich komme noch einmal wieder. Dann wollen wir mit einem ruhigen Shake-hands Abschied nehmen . . .«

* * *

Eine Viertelstunde darauf kam Seybling auch wirklich wieder. Er besaß einen Drücker, der den Flureingang geräuschlos öffnete. Die Dobschütz hatte ihm das anfangs sehr übelgenommen, sich aber schließlich achselzuckend in dies Symbol seines stets wachen Mißtrauens gefunden.

Im Salon sah er die Dobschütz. Sie lag auf einer Causeuse, das Gesicht in den Kissen, seinen Brief zerknittert in der Hand. Es war, als ob sie schluchzte.

Er trat auf sie zu. Aber dicht vor ihr blieb er erschrocken stehen. Er sah Blut. Blut, das ihr Taschentuch tränkte, Blut an ihrer Hand, auf der Causeuse . . . überall.

Und jetzt erst merkte er, daß im Nebenzimmer Menschen beschäftigt waren, die Kammerjungfer, die bleich und eilig ein Lager richtete, und ein junger Arzt aus der Nachbarschaft.

Der Arzt erschien auf der Schwelle und sah ihn.

»Das Fräulein hat einen Blutsturz gehabt,« sagte er rasch und nachdrücklich . . . ». . . es ist keine unmittelbare Gefahr . . . aber vollkommenste Ruhe vonnöten . . . Es wäre besser, wenn . . .«

»Wenn ich gehe?« ergänzte Seybling mechanisch. Er war wie vor den Kopf geschlagen.

Der Arzt nickte.

»Falls irgend etwas nötig ist,« murmelte Seybling . . . »die Kammerjungfer kennt mich und meine Adresse . . .«

»Es ist nichts nötig als Ruhe!« Der Doktor warf einen besorgten Blick auf die reglos daliegende Gestalt und drängte den Besucher hinaus . . .

* * *

Das alles war so unerwartet, so jäh gekommen. Seybling wußte nicht, ob er wachte oder träumte, während sein Coupé in rascher Fahrt durch die Straßen rollte.

Wohin fuhr er eigentlich? Richtig . . . er entsann sich. »Nach Hause!« hatte er dem Kutscher befohlen, der sich erwartungsvoll, die Hand an der Hutkrempe, vom Bock zu ihm herabgebeugt.

Er sah durch das Fenster. Das war die Lützowstraße!

Und in seinem Kopfe, der gewohnt war, rasch, beinahe instinktiv die Konsequenzen eines wichtigen Ereignisses zu ziehen, schoß ein Gedanke auf. Er zog an der Schnur.

»Halten Sie an dem Hause von neulich!« befahl er dem Kutscher, der wieder stumm an den Hut griff.

Bald darauf hielt in kurzem Ruck der Wagen, und Seybling stieg die steilen Treppen zu Valeskas Wohnung hinauf . . .

* * *

Aber die Elten war nicht allein. Zajonchek saß neben ihr auf dem Sofa, als Seybling eintrat, und hielt ein Blatt Papier in der Hand.

Er besuchte sie, seit ihrer neulichen Begegnung, täglich unter diesem und jenem Vorwand. Heute handelte es sich um einen eben eingetroffenen Brief seines Töchterchens, den er ihr durchaus vorlesen mußte. Sie werde sich wundern, was das kleine Maritscherl mit seinen vier Jahren schon für schlaue Einfälle habe. Geschrieben habe sie's natürlich nicht selbst, sondern der Wärterin diktiert. Aber der Stil! . . . Und offenbar habe sie mit ihrem Fäustchen auch die Feder führen helfen . . . das zeigten die Tintenflecke und Krakelfüße zur Genüge . . .

Valeska hatte mit tiefer Teilnahme das Briefchen betrachtet, in dessen Lektüre man durch den Besuch gestört worden war. Nun stellte sie sehr befangen die beiden Herren einander vor und bot Seybling einen Stuhl an.

Der Dandy setzte sich und schwieg. Der Schauspieler gleichfalls. Eine unbehagliche Pause trat ein.

»Lassen Sie mir den Brief bis zum Abend da!« sagte endlich die Elten zu Zajonchek . . . ». . . Ich geb' ihn Ihnen wieder, wenn wir zusammen in die ›Freundinnen‹ gehen . . .«

»Da sind schon die Billette . . .« Zajonchek zog sie aus der Westentasche halb hervor . . . ». . . Nobel . . . Parkettloge . . .«

»Und wenn Sie schreiben . . . ach nein . . . grüßen können Sie ja das Maritscherl nicht von mir . . . schade . . . aber ich werde eine große Puppe kaufen und der selbst einen hübschen Anzug machen . . . die schicken wir ihr dann . . . sie braucht gar nicht zu wissen, von wem . . .«

Zajonchek stand auf.

»Ich hab's Ihnen ja gleich gesagt . . . wer so ein liebes Gesichterl hat wie Sie, der hat auch ein liebes Gemüt . . . also . . . auf Wiederschauen heute abend . . . ich hol' Sie ab . . . Servus! . . .«

Und mit einer kühlen Verbeugung gegen Seybling verließ er das Zimmer.

Der Dandy sah ihm einen Augenblick nach und richtete dann seine Augen fest auf Valeska.

»Darum also!« sagte er trocken.

»Was denn?«

»Darum spielen Sie, wie neulich abends, die Spröde?«

Valeska schaute beklommen zu Boden.

»Sie sind mir gewiß recht böse wegen neulich?«

»Natürlich bin ich böse! Mich allein für einen ganzen Abend zwischen Hammerschmiedt und der Hannemann zurückzulassen, ist eine Tat, die an Vatermord grenzt. Aber damit sind wir fertig. Jetzt begreife ich alles, da ich sehe . . .«

»Was sehen Sie?« Die Elten stand erregt auf . . . ». . . Daß ein Kollege mich besucht . . . weiter nichts . . .«

Der Dandy lächelte mit der Überlegenheit des vielerfahrenen Weltmannes.

»Wozu der Zorn?« sagte er gleichmütig . . . ». . . Ich sehe hier zwei Menschen, die wahnsinnig ineinander verliebt sind . . . bitte . . . unterbrechen Sie mich nicht . . . ich weiß schon . . . Sie haben sich noch kein Wort davon gesagt . . . aber Sie werden es sich sagen . . . heute oder morgen oder übermorgen . . . gleichviel wann . . . und Sie wissen es beide schon jetzt genau, daß Sie sich lieben, und wer Augen im Kopfe hat, der sieht es . . .«

In dem Zimmerchen war es still. Nur von der Straße her drang undeutliches Rollen und Lärmen, und zuweilen zirpte der Kanarienvogel, den Zajonchek gestern – wie er behauptete, nur zur einstweiligen Aufbewahrung – mitgebracht. Singen wollte das Tierchen noch nicht, sondern hüpfte töricht piepsend von Stange zu Stange und zupfte an den Salatblättern, die zwischen dem Drahtgitter staken.

Valeska sah ihm mit gedankenloser Aufmerksamkeit zu. Sie konnte keine Erwiderung auf Seyblings Worte finden.

Endlich raffte sie sich auf.

»Wir kennen uns ja kaum . . . er und ich . . .«, sagte sie . . . ». . . vor drei Tagen haben wir uns zuerst gesehen. Also schon daraus können Sie schließen . . . daß es gar nicht so ist, wie Sie meinen . . . und überhaupt . . .«

Aber Seybling achtete gar nicht darauf.

»Es ist merkwürdig«, meinte er gedankenvoll . . . »höchst merkwürdig, daß die Menschen immer noch nach Entschuldigungen und Erklärungen suchen, wenn sie verliebt sind. Ihr liebt euch! Warum . . . das wissen Sie nicht, das weiß er nicht . . . das weiß nur die geheimnisvolle Macht, der wir diese buntschillernde Seifenblase verdanken, die wir mit tiefem Ernste die Welt nennen und als etwas Rechtes ansehen. Ein Unparteiischer möchte vielleicht finden, daß er einen recht guten und Sie einen recht schlechten Geschmack besitzen, aber einerlei . . . ich bin in dieser Angelegenheit kein Unparteiischer und entsage von heute ab jeglicher Hoffnung auf Ihre Gunst. Und um so unbefangener können Sie meinen Rat annehmen. Merken Sie auf . . . es ist ein seltenes und würdiges Ereignis, daß man einem schönen Mädchen aus reiner Menschenliebe einen guten Rat gibt . . .«

Die kleine Elten trat näher.

»Was raten Sie mir?« fragte sie ängstlich.

Seybling sah ihr prüfend ins Gesicht.

»Haben Sie noch das Buch von ›Lilith‹, das ich Ihnen neulich gab?«

»Ja gewiß!«

»So setzen Sie sich hin und lernen Sie die Rolle der Lilith . . . Wort für Wort . . . so rasch wie möglich. Jetzt ist Sonnabend mittag . . . Montag früh ist Probe . . . bis dahin müssen Sie sie können . . .«

»Das ist unmöglich!«

»Wenn man will, ist nichts unmöglich . . . auch nicht die Aufgabe, zehn oder zwölf Bogen in zwei Tagen und zwei Nächten zu lernen . . .«

»Ja . . . und was habe ich davon?«

»Wenn es je eine Rolle gab, mit der Sie einen Erfolg erringen können,« sagte Herr von Seybling langsam und beinahe feierlich . . . ». . . so ist es diese . . . Sie ist wie für Sie geschrieben. Hochmann selbst hat, wenn er es Ihnen auch nicht sagt, mir bestätigt, daß Sie sie bei späteren Wiederholungen einmal spielen sollen . . .«

»Dann hat es aber doch noch Zeit . . .«, meinte Valeska.

Seybling lächelte mitleidig.

»O Gott . . . wie verliebt! . . . Bisher verzehrten Sie sich vor Ehrgeiz . . . schrieben an mich um neue Rollen und Gott weiß was . . . und nun . . . seit vorgestern kommt Ihnen das Westend-Theater mit allem, was drum und dran hängt, als eine winzig kleine, lächerliche Sache vor . . . ein Liliputanernest fern am Rand des Horizonts . . . und der allein wichtige und denkwürdige Gegenstand ist ›Er‹ . . .«

»Bitte . . . hören Sie auf . . .«, sagte Valeska mit abgewandtem Gesicht . . . »Sie haben gar kein Recht, so zu sprechen!«

»Das Recht des verschmähten Liebhabers! . . . Ist mir eine ganz ungewohnte Rolle. Ich bin Ihnen beinahe dankbar für diese neue Empfindung . . . aber nun Scherz beiseite . . . oder vielmehr bei dem gesamten Galgenhumor, mit dem ich hier die Rolle des Ritters Toggenburg spiele, sage ich Ihnen, Valeska Elten: Seien Sie gewappnet mit der Rolle der Lilith, ehe der Montagmorgen graut . . . Wer weiß, was sich bis dahin ereignet!«

Er öffnete die Tür und bot ihr seine breite Hand.

»Grüßen Sie den Herrn mit dem unmöglichen Namen von mir . . . und vergessen Sie nicht meinen Rat! Vielleicht bringt er Ihnen den Erfolg, nach dem Sie streben, und mir doch noch Ihren Dank . . .«

 


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