Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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IX.

»Ein außerordentliches Verdienst um die deutsche Bühne erwarb sich gestern abend eine in Berlin bisher völlig unbekannte Dame, Fräulein Valeska Elten, indem sie das neueste Opus des berühmten Herrn Bucher mit Grazie und Eleganz zu Fall brachte. Die Provinz, der sie entstammt, wird es der schönen Dame danken, daß sie sie vor der Bekanntschaft mit diesem Werke bewahrte. Ob freilich auch Autor und Direktor, das wissen wir nicht . . .«

Valeska, die im Café Bellevue auf der Terrasse sitzend die Rezensionen durchstudierte, schob das Blatt gleichgültig beiseite. Sie wußte durch Thilda und andere, daß ihr schwerlich etwas Schlimmeres passieren konnte, als von den Adelsmenschen des »Kleinen Wächters an der Panke« gelobt zu werden.

Aber in den anständigen Blättern war ihr Name überhaupt nicht genannt. Nur im »Berliner Herold« stand eine kurze Zeile über sie. »Eine bildhübsche Anfängerin,« hieß es da, »die in der Rolle einer Dienstmagd auftrat, kann verlangen, daß wir unser Urteil über sie verschieben, bis sie sich uns in größeren und dankbareren Aufgaben gezeigt hat.«

Sie eine Anfängerin! Es war empörend. Und dabei taten die Leute, als ob die Rollen nur so vom Himmel herabfielen wie die reifen Pflaumen vom Ast.

Und heute abend sollte sie diese Rieke nochmals spielen! Ihr graute davor.

Aber als sie nachmittags über die Straße ging, klebten bereits rote Streifen schräg über den Zetteln des Westend-Theaters. Wegen »plötzlicher Erkrankung« des Fräulein Thilda Thorbeck wurde die »Kleine Herzogin«, das Kassenstück der letzten Saison, gegeben.

Natürlich war Thilda gesund wie ein Fisch im Wasser. Valeska erfuhr das im Theaterbureau, wo sie für den Abend ein Billett zu der »Kleinen Herzogin« erbat und zu ihrem Stolze einen Platz in der 1.-Rang-Loge erhielt.

Sie benutzte diese Gelegenheit.

»Kommt denn nicht jetzt eine Novität, wo ich eine bessere Rolle kriege?« fragte sie vertraulich den Sekretär, Herrn Reichau.

»Das kann ich Ihnen nur ins Ohr sagen, mein Fräulein!«

Valeska zögerte.

Sie wußte, daß sie bei dieser Gelegenheit einen Kuß auf die Backe bekam . . . Nun schließlich . . . was tut man nicht für die Kunst . . .?

Aber als Herr Reichau sie geküßt, sagte er zu ihrem Schrecken: »Es tut mir unendlich leid, mein Fräulein. Sie werden in der nächsten Zeit kaum zum Auftreten gelangen. Die beiden Repertoirestücke, zu denen Sie morgen Rollen zugeschickt bekommen, halten wir nur in Reserve, und die nächste Novität ist überhaupt noch nicht besetzt.«

Valeska drehte dem hinterlistigen Sekretär zornig den Rücken und verschwand.

Nun konnte sie also spazierengehen.

Und vielleicht wochenlang! Denn am ersten Abend war es zwar gähnend leer in der »Kleinen Herzogin« gewesen – ein Freitag im August! –, dann aber begann sich das Stück zu »erholen«, und mit dem steten Steigen der Kasseneinnahmen verstärkte sich das Gerücht, daß das Lustspiel, das über alles Erwarten immer noch »etwas mache«, den ganzen September beherrschen werde.

Valeska war ganz mutlos. Sie langweilte sich und kam sich unglaublich überflüssig in Berlin vor.

Wozu erhielt sie eigentlich zehn Mark täglich, wenn sie nichts dafür zu leisten hatte?

Und mit Beklemmung erwartete sie den 15. September. An diesem Tage hatte die Direktion das Recht, ihr, nachdem sie einmal aufgetreten, zum 1. Oktober zu kündigen.

Dann saß sie auf dem Pflaster und konnte sehen, wo sie Unterschlupf fand. Irgendwo in der Provinz, wo dann in dem ewigen Rollenlernen und der Plackerei der flüchtigen Proben ihr der Berliner Aufenthalt bald nur mehr als ein bunter Traum erscheinen würde.

Endlos langsam rollten ihr so die Tage dahin. Valeskas feste Hoffnung, daß Herr von Seybling sich ihrer annehmen werde, schwand von Tag zu Tag. Sie hatte bestimmt geglaubt, schon am Morgen nach der »Ellinor« einen Brief von ihm zu bekommen. Aber es erfolgte nichts. Der allmächtige Dandy schien sie schon wieder völlig vergessen zu haben.

Offenbar hatte sie sich zu herbe gegen ihn benommen – recht wie ein Gänschen aus der Provinz –, und statt ihm zu imponieren, nur sein flüchtiges Interesse ertötet.

Endlich entschloß sie sich, ihm zu schreiben. Einen ganzen Vormittag kaute sie an der Feder, schlug wegen einzelner Worte, über deren Orthographie sie sich nicht ganz im klaren war, in ihrem kleinen deutsch-französischen Diktionär nach und befleckte sich die Fingerspitzen mit Tinte, bis endlich ein zierliches Briefchen fertig war, in dem sie Herrn von Seybling hochachtungsvoll und ergebenst bat, seinen Einfluß im Westend-Theater darauf zu verwenden, daß ihr bessere Rollen zuerteilt würden.

Erst nach acht Tagen kam die Antwort, ein majestätisches Kuvert aus dickstem englischem Papier mit aufgepreßtem Wappen und darüber gedruckter Adresse des Absenders. Herr von Seybling ließ durch seinen Sekretär bedauern, daß er auf das Westend-Theater keinerlei Einfluß habe, am wenigsten aber auf dessen Repertoire und sonstige interne Angelegenheiten, die durchaus dem Ermessen des Herrn Direktor Hochmann unterständen. In markigen Zügen stand darunter schräge aufwärts gerichtet sein Name.

Valeska zerriß weinend vor Wut den Brief in winzige Stückchen. Also auch das war umsonst! Sie hätte sich selbst ohrfeigen mögen.

Und der gefürchtete 15. September rückte immer näher.

»Liebste Beste!« sagte sie am Abend vorher flehend zu Thilda . . . »Du spielst ja morgen nicht . . . nimm mich bitte irgendwohin mit. Ich halte es nicht aus, den ganzen Tag dazusitzen und zu warten, ob der Kündigungsbrief kommt oder nicht.«

Die blonde Thilda seufzte. Sie hatte auch schwere Sorgen. Ihr Assessor war von dem Onkel in der Neumark so gut wie unverrichteterdinge zurückgekehrt. Es war ihm nicht gelungen, den alten Herrn davon zu überzeugen, daß sie, Thilda, nicht ihren Lebensunterhalt als Balletteuse im kurzen Röckchen verdiene, und selbst der Hinweis, daß sie die Tochter eines Majors sei, verfehlte seine Wirkung. »Es gibt verlorene Töchter, wie es verlorene Söhne gibt. Die einen gehen nach Amerika, die andern zur Bühne . . .« erklärte Onkel Klaus und ließ sich nicht einmal dann erschüttern, als sein Neffe ihn daran erinnerte, daß ja auch Onkel Klaus selbst, der Neumärker Familienpatriarch, in seiner fernen Jugend einmal intime Beziehungen zu einer Operettensängerin gepflogen haben sollte. »Aber geheiratet habe ich sie nicht . . .«, schnauzte er los, ». . . und danke meinem Schöpfer dafür!«

Als einzige Konzession hatte er dem Major von Rönne, den er hochschätzte, geschrieben und ihn um Auskunft gebeten. Ehe der Brief abging, wollte der Major Thilda noch einmal treffen. Man würde am nächsten Abend zusammen im Opernhaus sein – die beiden Herren, Thilda und Fräulein Hippel, die Tochter ihres Quartierwirtes, des Rechnungsrats – und dann zusammen soupieren.

»Eigentlich könntest du ja mitkommen,« meinte die gutmütige Thilda . . . »wenn du nicht zu viel Unsinn schwabbelst . . .«

»Danke schön!« sagte die Elten und küßte sie . . . »Du bist wirklich ein lieber Kerl! Und ich will ganz brav sein . . .«

* * *

Sie war denn auch wirklich anfangs sehr still, als sie nach der Oper mit den andern bei Hiller zusammensaß.

Die Angst vor dem Kündigungsbrief, der allerdings bis zum Nachmittag, wo sie ihre Wohnung verlassen, noch nicht eingetroffen war, die Wagnersche Musik, die sie wie immer aufgeregt und schwermütig gemacht hatte, die hölzerne Steifheit des neben ihr sitzenden verwelkten Fräulein Hippel, das alles lastete auf ihr.

Außerdem trug der Major Uniform, Waffenrock und Epauletts mit glitzernden Silberfrangen, und sein Bruder Frackjackett und schwarze Binde. Sie hatte zwar auch, zur großen Überraschung und Beruhigung Thildas, ein sehr hübsches und dabei raffiniert einfaches Abendkostüm angelegt, aber sich doch in der Loge des Opernhauses zwischen all der distinguierten Gesellschaft sehr feierlich und beklommen gefühlt.

Und bei Hiller, wohin der Major die Gesellschaft eingeladen, wich diese Stimmung keineswegs. Sie kannte die vornehmen Linden-Restaurants bisher nur vom Hörensagen als die Orte, wo Mizi und Konsorten ihre »Orchideen« feierten, und es imponierte ihr alles in dem Lokal, die feierlichen Galgenphysiognomien der Kellner, die massenhaften Spiegel an den Wänden, die kleinen Spiritusflämmchen unter der Silberschüssel, auf der der gebratene Kapaun lag, und die staubige Bordeauxflasche, deren Inhalt der Kellner in eine schräg auf einem Strohgestell lagernde Glaskaraffe goß. Was wußte man in der Provinz von solchen Finessen?

Man hatte sich in dem halbleeren Vorderraum niedergelassen, durch den ab und zu Gäste nach den hinten gelegenen Separatzimmern schritten.

Plötzlich fuhr Valeska auf. Eine helle, metallische Stimme schlug an ihr Ohr.

»Meine Frau noch nicht da?« fragte dicht neben ihr im Eintreten Herr von Seybling einen sich tief verneigenden Kellner.

Nein. Gnädige Frau waren noch nicht gekommen.

»Melden Sie ihr, daß ich drinnen warte«, sagte Herr von Seybling und wollte nach hinten gehen, als sein Blick auf Valeska fiel.

Einen Augenblick stutzte er, dann grüßte er vorüberschreitend mit höflichem Lächeln.

Valeska dankte durch eine würdevolle Kopfneigung. Sie empfand eine tiefe Genugtuung, daß der Stutzer sie gerade hier und in dieser feinen Gesellschaft gesehen hatte, zusammen mit einem Major in Uniform und einem Zivilisten, der beinahe als ein Gigerl angesprochen werden konnte.

Aber ehe noch die beiden Mädchen der Gesellschaft alles Wissenswerte über Herrn von Seybling mitgeteilt hatten, verbeugten sich die Kellner von neuem auf das tiefste.

»Der gnädige Herr sind schon vorausgegangen!«

Eine bildschöne, schlanke Blondine mit kühnem, vornehm geschnittenem Köpfchen rauschte, ohne rechts und links zu sehen, schnell durch den Saal. Ein junger Husarenoffizier klirrte hinter ihr drein.

»Frau von Seybling!« sagte Thilda.

Valeska empfand ein merkwürdiges Gefühl der Eifersucht.

»Zu dumm!« rief sie aufgeregt. »Wenn ich ein Mann wäre und so 'ne Frau hätte, dann . . .«

». . . würde ich mich um die Dobschütz nicht kümmern!« ergänzte ihre Freundin, als sie etwas verwirrt abbrach.

Damit war man also wieder bei der Dobschütz und dem Westend-Theater angelangt.

»Ähneln denn eigentlich alle Damen des Theaters außer Ihnen beiden dieser schrecklichen Dobschütz?« fragte der Major, um die kleine Elten, die den ganzen Abend so still und mit sorgenvollem Gesicht dagesessen hatte, zum Sprechen zu bringen.

»O nein!« sagte Valeska rasch. »Im Gegenteil . . . die Dobschütz ist ein Unikum . . .«

»Wer sie umbringt, tut ein gutes Werk!« lachte Herr von Rönne.

Valeska bejahte eifrig.

»Überhaupt . . . man tut uns unrecht . . . hier in Berlin . . . wie man so von uns denkt . . . zum Beispiel . . . das Westend-Theater hat einen recht üblen Ruf . . . und doch versichere ich Sie . . . ein Teil der Damen lebt ganz solide und achtbar. Im Publikum glaubt man das aber um's Totschlagen nicht . . .!«

»Erzählen Sie mir doch einmal, wer Ihre Kolleginnen sind!« sagte der Major scherzend. »Belehren Sie mich, mein Fräulein! . . . Also da ist zuerst die Dobschütz . . .«

». . . dann kommt lange Zeit gar nichts . . .« Valeska sann nach. ». . . dann . . . nun, Thilda kennen Sie ja, und ich sage Ihnen im Vertrauen: das ist ein liebes Mädel! . . . Dann ich . . . wie Sie über mich denken, weiß ich nicht . . .«

»Sie kriegen heute durchaus keine Komplimente zu hören, mein Fräulein!« bemerkte der Major ernsthaft.

»Schön! . . . Dann ist also da die Mizi Stadinger . . . ein unglaubliches Geschöpf . . . immer schläfrig . . . immer leichtsinnig . . . dabei gutmütig wie ein Kind . . . viel Talent hat sie freilich nicht . . . aber das schadet ihr ja nichts . . .«

». . . und dann? . . .«

». . . dann ist da Käthe Hannemann . . . ich weiß nicht, ob Sie sie neulich im Theater gesehen haben . . . ein großes, schönes Mädchen . . . ich verkehre nicht mit ihr, denn sie . . . freilich . . . andererseits . . . ihre ganze Familie lebt von ihr . . . ihre alten Eltern . . . ihre Schwester, die sie um keinen Preis zur Bühne gehen lassen will . . . sogar ein Bruder auf der Universität . . . Ich finde das eigentlich greulich . . .«

Valeska brach einen Augenblick verlegen ab und fuhr dann fort:

»Nun . . . da ist weiter Elly Krause, ein herziges Ding, noch ganz jung . . . das ist der Liebling des ganzen Theaters. Sie lebt bei ihren Eltern . . . pensionierten Beamten . . . Niemand kann etwas gegen sie sagen. Und Talent hat sie . . . Talent . . . ich wollte, ich hätte soviel Talent . . . und dabei ist sie immer freundlich und liebenswürdig gegen alle . . . bis zu den Bühnenarbeitern herunter . . .«

»Weiter . . .«, sagte Herr von Rönne.

»Dann haben wir die Franziska Ilgen, eine Brünette und unzertrennliche Freundin der Hannemann. Sie gibt ihr auch sonst nichts nach . . . und dabei ist sie geizig . . . man glaubt es kaum . . . und alles Geld, was sie sich so zusammenhamstert, das schleppt sie gleich auf die Bank und verhandelt da stundenlang, wie sie es recht hoch anlegen soll. Manchmal erschrecken wir sie und sagen, die Deutsche Bank sei pleite oder die preußischen Konsols wären außer Kurs gesetzt . . . aber sie glaubt jetzt nicht mehr recht daran . . . ja . . . und dann . . . da ist noch Mary Esser . . . die ist verheiratet . . . ihr Mann ist der Schauspieler Frey . . . sie haben drei reizende Kinder und leben sehr glücklich . . . dann zwei Mütter . . . die interessieren Sie wohl kaum . . . und Elisabeth Neumann, die mit mir zusammen engagiert worden ist . . . sehr hübsch und schnippisch . . . mit blonden Haaren und blauen Augen . . . das dumme Ding hat sich sofort wahnsinnig in unseren Heldenspieler Harald Grillon verliebt. Und dabei hat der graue Haare und ist ein alter Mann . . .«

»Vergiß Pepi von Hochleitner nicht!« rief Thilda herüber.

Richtig . . . die Pepi!

»Faul, talentvoll und gefräßig!« sagte Valeska kaltblütig auf die Frage des Majors. »Faul wie die Sünde! Sogar die Rollen lernt sie im Bett und stöhnt dabei vor Verzweiflung – und kann sie schließlich doch nicht. Und dabei so begabt . . . wenn sie nur wollte . . . Schade um die! . . . Aber da ist nichts mehr zu hoffen . . .«

Damit war die Liste des Westend-Theaters erschöpft. Denn die Kolleginnen mit 75 bis 150 Mark Monatsgage, jene Dämchen, die der Direktor selbst scherzend »die Kleinen von den Meinen« nannte, zählten doch eigentlich nicht mit.

Inzwischen war Champagner erschienen. Valeska liebte ihn leidenschaftlich – ihr kleiner Freund in Bergheim hatte das oft genug seufzend gegen das Ende des Monats hin konstatiert –, und in den vier Wochen ihres soliden Berliner Aufenthalts war kein Tropfen über ihre Lippen gekommen. Aber sie hielt an sich und antwortete auf die Frage, ob sie Sekt tränke, zerstreut lächelnd: Gewiß . . . denn ein armes Wurm wie sie, die an das lauwarme Patzenhofer der Frau von Haidenschild gewöhnt sei, müsse das Gute nehmen, wo es sich fände.

Immerhin fühlte sie, als sie die perlende Schale absetzte, wieder einigen Lebensmut.

»Warum ich heute so traurig bin?« sagte sie zu Herrn von Rönne. »Ach . . . du lieber Gott . . . ich habe allen Grund dazu. Wenn ich jetzt nach Hause komme, so liegt ein Brief auf dem Tisch, und in dem Brief steht, daß ich zum ersten Oktober gekündigt bin . . .«

»Ja . . . und dann?«

»Dann . . .?« Valeska seufzte schwer. »Dann geht das alte Elend von neuem an . . . der Rundgang bei den achselzuckenden Agenten und überall dasselbe ›Bedaure, liebes Fräulein!‹ . . . und das Antichambrieren in den Direktionsbureaus und endlich ein Telegramm aus der Provinz: ›In Meseritz oder Kötzschenbroda wird eine erste Liebhaberin gesucht‹ . . . Natürlich zu zwei Drittel Gage . . . 50 Taler oder so was und ein Benefiz gegen Ostern . . . und man reist seufzend dritter Klasse hin und macht seine Besuche auf den Redaktionen, und alles ist, wie es früher war und in zehn Jahren sein wird . . .«

Der Major sah ihr ins Gesicht.

»Nein, Fräulein Elten,« sagte er ruhig, »Sie dürfen nicht aus Berlin weg . . .«

Valeska zuckte schweigend die Achseln.

»Nicht wahr . . .«, begann sie nach einer Weile wieder, »das glauben Sie nicht, daß wir auch unsere bitteren Sorgen haben, wir Theaterprinzessinnen, die man sich im Publikum immer so als eine Art unnützer bunter Schmetterlinge vorstellt . . . Sorgen, so gut wie ein Mann, der mitten in seinem Beruf steht. Und eigentlich haben wir es noch schlimmer . . . einen Mann läßt man wenigstens in Ruhe . . . aber wir . . . Sie können sich gar nicht vorstellen, wer alles hinter uns drein ist . . . und . . . ach . . . wir wollen nicht davon sprechen . . . schenken Sie mir lieber noch ein Glas Sekt ein . . . das ist doch noch ein Lichtblick . . .«

»Nun . . . sehen Sie . . .«, sagte der Major, eingießend, »es wird nicht so schlimm werden . . . da . . . da lachen Sie ja schon wieder . . . ja . . . verstellen Sie sich nur . . . es zuckt Ihnen doch um die Mundwinkel . . . nur immer tapfer . . . so ist's recht! . . .«

Die beiden stießen miteinander an, und ihre Augen suchten sich, während sie das Glas an die Lippen setzten.

Der Assessor, der die ganze Zeit mit Thilda getuschelt hatte, während Fräulein Hippel steifleinen dasaß, machte den Vorschlag, noch einen Schlummerpunsch zu trinken – das sei eine Spezialität, die Fräulein Elten kennenlernen müsse –, und zwar nicht in dem sonst eigens für diesen Zweck konstruierten Café Bauer, sondern, in Anbetracht der außerordentlich milden Witterung, auf der Terrasse des Cafés Bellevue, wo man im Freien sitzen könne.

So brach man also auf und schritt langsam die menschenleeren Linden hinunter . . . voraus der Assessor mit seinen beiden Damen, dann Herr von Rönne mit Valeska.

»Ich versichere Sie,« sagte Valeska, »ich bin hier in Berlin so mutlos geworden . . . so hoffnungslos . . . Wenn ich jetzt noch einmal vor die Wahl gestellt würde, ob ich Schauspielerin werden wolle oder nicht . . . wahrhaftig . . . ich würde lieber Holz hacken oder Gesellschafterin werden bei einer alten Dame und ihr den Mops nachtragen und aus Zola vorlesen . . .«

Sie hätte es gern vermieden, stets von sich zu sprechen. Aber der Major brachte sie immer wieder darauf.

»Es war doch Ihr freier Wille,« fragte er auch jetzt, »daß Sie zur Bühne gingen?«

Valeska zuckte mit den Achseln.

»Wie man's nimmt! Das fing schon an, als ich kaum dreizehn Jahre war. Da fanden wir eines Tages den Vater tot in der Werkstatt liegen . . .«

»In der Werkstatt . . .?«

Valeska errötete leicht.

»Ja . . .«, sagte sie dann ganz tapfer, »mein Vater war Schreinermeister in Eisenach. Warum soll ich's Ihnen nicht eingestehen? . . . Daß ich keine Reichsgräfin bin, werden Sie sich ja wohl schon gedacht haben . . . Und er war ein so guter Mann . . . so freundlich gegen mich und alle! . . . Ich sehe sein Bild noch so deutlich vor mir . . . und am lebendigsten, denken Sie sich, gerade aus meiner frühesten Kinderzeit. Da lief ich heimlich der Mutter davon und kroch in meinem roten Röckchen die Steinstufen zur Werkstatt hinauf. Die waren warm von der Sommersonne und ungeheuer hoch. Und oben in der Werkstatt roch es nach Leim und frischem Holz, und am Boden lagen die Hobelspäne, mit denen ich spielte . . . und mein Vater hob mich in den Armen hoch und ließ mich nach seinem Bart greifen . . . ›Du . . . du Mäuschen . . . du!‹ sagte er dann immer . . . und ich schrie vor Vergnügen . . .«

Valeska brach plötzlich ab und sah mit feuchtschimmernden Augen zur Seite.

»Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle . . .«, sagte sie leise. »Es kann Sie ja unmöglich interessieren.«

»Aber Sie kamen doch nicht schon mit dreizehn Jahren zur Bühne . . .?« fragte der Major, ohne darauf zu achten.

»Doch!« sagte Valeska. »Eigentlich sollt' ich zum Ballett gehen . . . aber dazu war's schon zu spät . . . nun . . . und im Thüringischen gibt es, wie Sie wissen, eine Menge kleiner Hoftheater . . . da war es nicht schwer, so ab und zu in Pagenrollen und dergleichen auf der Bühne verwendet zu werden . . . erst in Hildburghausen . . . dann in Gotha . . . dort bekam ich zuerst auch einmal einen kleinen Satz zu sprechen und sang zuweilen im Chor mit . . . aber auf die Dauer war die Stimme zu schwach . . . und dann starb die Mutter, und bei der Schwester wollte ich nicht bleiben . . . sie hatte einen Schlosser geheiratet . . . die andere war damals schon mit ihrem Manne nach Amerika ausgewandert . . . es geht ihnen ganz gut drüben . . . und da kam ich nach Erfurt ans Stadt-Theater . . . zuerst in kleinen Rollen . . . dann stieg ich so allmählich in die Höhe . . . und dann von Erfurt nach Riga und von Riga nach Bergheim mit zwei Sommerengagements in Bad Holl . . . und endlich von Bergheim hierher . . . Sie sehen . . . das ist eine sehr einfache Geschichte . . . man denkt immer, uns vom Theater müßte Gott weiß wieviel Romantisches passieren . . . aber ich hab' noch nichts davon gemerkt . . .«

»Aber immerhin . . .«, sagte der Major, während sie sich im Café Bellevue niedersetzten und das langweilige Fräulein Hippel sich zur allgemeinen Freude empfahl, ». . . haben Sie doch die Hauptsache erreicht . . . Sie sind in Berlin . . .«

»Sie sehen ja, wie es mir hier geht . . .« Valeska schaute trostlos vor sich hin. »Ich bring' es zu nichts. Manchmal . . . da glaub' ich, es stecke etwas in mir . . . ein rechtes, echtes Talent . . . und es kommt eine Art Kraftgefühl über mich, das mir fast die Brust zersprengt und den Atem nimmt. Aber das dauert nicht lange. Und selbst wenn . . . so wäre mir noch immer nicht geholfen; denn wir Frauenzimmer können ja nichts selbst aus uns machen . . . wenigstens die meisten – das ist eine alte Erfahrung beim Theater –, es muß ein Anstoß von außen kommen . . . dann glaubt das Publikum, es hat uns ›entdeckt‹, und ruft uns zwanzigmal heraus . . . und in Wirklichkeit haben wir uns doch selbst erst in einer bestimmten Rolle gefunden . . .«

»Aber dann ist der Bann gebrochen?«

Valeska nickte.

»Ich muß da immer an das schlafende Dornröschen denken. Ist es einmal erweckt, dann bleibt es auch wach, und alles umher beginnt zu grünen und zu blühen . . .«

»Und Ihnen hat sich der Prinz noch nicht genaht?«

»Die Prinzen,« versetzte Valeska lachend, »die sich uns nahen . . . die lehren einen alles andere, nur nicht, wie man eine ernste Künstlerin wird. Das kann nur ein wahrer, echter Freund tun . . . und den gibt's nicht . . .«

Eine kurze Pause entstand. Herr von Rönne sah sie an.

»Wollen Sie mich als Freund betrachten?« fragte er.

Valeska sah beklommen lächelnd vor sich hin.

»Ich weiß gar nicht . . .«, sagte sie scheu, »wie kann so ein unvernünftiges Ding wie ich . . .«

Herr von Rönne lachte auf.

»Sie wissen doch schon, Fräulein Valeska . . .«, unterbrach er sie, »Komplimente bekommen Sie heute nicht zu hören . . .«

»Recht so!« sagte die kleine Elten und streckte ihm ihre schmale Hand hin, um seine Rechte kräftig zu schütteln. »Ich danke Ihnen! . . . Wir wollen gute Freunde sein!«

* * *

Thilda hatte inzwischen, mit dem Assessor an der Balustrade stehend, den Mond angehimmelt. Jetzt mahnte sie zum Aufbruch.

»Ich habe solches Herzklopfen . . .«, sagte Valeska, während sie zusammen die Potsdamer Straße hinunterschritten. »Wenn ich jetzt den Brief zu Hause finde . . .«

»Darüber müssen wir gleich Gewißheit haben«, versetzte der Major rasch. »Gehen Ihre Fenster auf die Straße?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie uns von oben Nachricht zurufen. Ich bestehe darauf!«

* * *

Die drei standen nicht lange vor Valeskas Haus in der Lützowstraße, als oben ein Fenster aufging und ein leises, silbernes Lachen erscholl.

»Es ist nichts da!« rief eine helle Stimme in das Dunkel hinaus. »Ich bleib' in Berlin! . . . Gute Nacht und nochmals schönen Dank . . .!«

Das Fenster schloß sich klirrend, und ein Vorhang sank herab.

»Das freut mich wirklich für sie . . .«, sagte die sanftmütige Thilda und ging mit ihrem Assessor voraus.

Ihr Begleiter blieb noch einen Augenblick stehen.

»Ich bleib' in Berlin! . . .«

Eine eigene frohe Beklemmung legte sich ihm auf die Brust. Er sah zu dem schweigenden Fenster hinauf.

»Und das nennst du Tor Freundschaft!« schoß es ihm blitzschnell durch den Kopf. »Es gibt keine Freundschaft zwischen Mann und Weib. Nur Haß und Liebe. Und wir hassen uns nicht . . . Dornröschen . . . schlafe wohl! . . .«

 


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